Little Brother

Unknown

Cory Doctorow

Little Brother

Deutsch von Christian Wöhrl

Das englische Original dieses Textes finden Sie unter http://craphound.com/littlebrother

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Titelfotos und -gestaltung: Christian Wöhrl

Dieses Dokument: lbdtv1.pdf Version 1.2 vom 21. November 2008

anmerkung von Jonas Wiegert ich habe eine php seite auf Grundlage des PDF-Dokuments entwickelt. Die Seiten

werden automatisch genriert und dienen nur mir damit ich das Buch auf meinem Handy lesen kann ;)

Kapitel 1

Dieses Kapitel ist BakkaPhoenix Books in Toronto, Kanada gewidmet. Bakka ist die älteste Science-Fiction-Buchhandlung

der Welt, und ihretwegen wurde ich der Mutant, der ich heute bin. Mit ungefähr 10 Jahren schaute ich dort erstmals rein

und fragte nach ein paar Empfehlungen. Tanya Huff (genau, die Tanya Huff, sie

war damals allerdings noch keine berühmte Autorin) führte mich in die Second-Hand-Abteilung, drückte mir H. Beam Pipers „Little Fuzzy“ in die Hand und veränderte so mein ganzes Leben. Mit 18 arbeitete ich bei Bakka -- als Nachfolger von Tanya, die dort aufgehört hatte, um ausschließlich

zu schreiben --, und habe da bleibende Erfahrungen gemacht, wie und warum Leute Bücher kaufen. Meines Erachtens

sollte jeder Autor mal in einer Buchhandlung arbeiten. Und bei Bakka haben im Lauf der Zeit eine Menge Schriftsteller

gearbeitet: Zum 30-jährigen Bestehen erschien eine Anthologie mit Geschichten von Bakka-Autoren, darunter Michelle

Sagara (bekannt als Michelle West), Tanya Huff, Nalo Hopkinson, Tara Tallan --

und ich!

BakkaPhoenix Books: http://www.bakkaphoenixbooks.com/ 697 Queen Street West, Toronto ON Canada M6J1E6, +1 416 963 9993

Ich bin ein Schüler an Cesar Chavez High in San Franciscos sonnigem Mission-Viertel, und damit

bin ich einer der meistüberwachten Menschen der Welt. Mein Name ist Marcus Yallow, aber als

diese Geschichte begann, kannte man mich als w1n5t0n. Gesprochen „Winston“.

I

Nicht gesprochen „Wee eins enn fünf tee null enn“ -- es sei denn, man ist son planloser Schulleiter,

der rückständig genug ist, das Internet immer noch „Datenautobahn“ zu nennen.

So einen kenn ich, und der heißt Fred Benson -- einer von drei Stellvertretenden Direktoren an Cesar

Chavez. Der Typ ist so sympathisch wie ein Loch in der Brust. Aber wenn schon im Knast, dann doch

lieber mit planlosen Wärtern als mit solchen, dies drauf haben, oder?

„Marcus Yallow,“ sagte er an diesem Freitagmorgen über Lautsprecher. Die Anlage taugt sowieso

nicht viel, und dazu noch Bensons übliches Murmeln, dabei kommt was raus, das nicht so sehr nach

Schuldurchsage klingt als vielmehr nach jemandem, der sich abmüht, einen schlechten Burrito zu

verdauen. Aber Menschen sind gut drin, aus Audiokuddelmuddel ihre eigenen Namen rauszuhören --

verschafft dir Überlebensvorteile.

Ich schnappte mir meine Tasche, klappte den Laptop drei Viertel zu -- wollte die Downloads nicht

abbrechen -- und bereitete mich auf das Unvermeidliche vor.

„Melden Sie sich unverzüglich im Büro der Schulleitung.“ Meine Gesellschaftskunde-Lehrerin Ms.

Galvez verdrehte die Augen, und ich gab den Blick zurück. Der Typ hatte es immer auf mich

abgesehen; nur weil ich durch die Schul-Firewall durchkomme wie durch nasse Tempos, die

Schritterkennungs-Software austrickse und die Schnüffelsensoren zerlege, mit denen sie uns tracken.

Egal, Galvez ist ne Gute, die dreht mir aus so was keinen Strick (zumal ich ihr mit ihrer Webmail

helfe, damit sie mit ihrem im Irak stationierten Bruder reden kann).

Mein Kumpel Darryl gab mir nen Klaps hintendrauf, als ich an ihm vorbeikam.

Den kenn ich schon,

seit wir Windelkinder waren und die Vorschule schwänzten, und ich bring ihn ständig in die

Bredouille, aber ich hau ihn auch immer wieder raus. Ich reckte die Arme hoch wie ein Preisboxer,

ließ Gesellschaftskunde Gesellschaftskunde sein und machte mich auf den Büßerweg ins Büro.

Auf halbem Weg meldete sich mein Handy. Auch son No-no -- die Dinger sind an Chavez High muy

prohibido --, aber was sollte mich das stören? Ich verschwand im Klo und schloss mich in der

mittleren Kabine ein (die ganz hinten ist immer am ekligsten, weil so viele dahin gehen und denken,

dass es da nicht so stinkig und siffig ist. Wer klug ist, geht in die Mitte, da ist es am saubersten). Ich

hatte eine E-Mail auf dem Handy -- weitergeleitet vom PC daheim. Es gab da wohl Neuigkeiten bei

„Harajuku Fun Madness“, dem besten Spiel aller Zeiten.

Ich grinste. Freitags in der Schule zu sein war sowieso ätzend, und ich war dankbar für die Ausrede,

hier wegzukommen.

Ich trottete weiter zu Bensons Büro und winkte ihm beim Eintreten zu.

„Na, wenn das mal nicht Wee eins enn fünf tee null enn ist“, sagte er. Frederick Benson

(Sozialversicherungsnummer 545-03-2343, geboren 15. August 1962,

Mädchenname der Mutter DiBona, Heimatort Petaluma) ist ne ganze Ecke größer als ich. Ich bin bloß mickrige 1,73, er dagegen gut zwei Meter; und seine Basketball-Zeit am College liegt so lang zurück, dass seine

Brustmuskulatur inzwischen zu Hängetitten degeneriert ist, die in seinen Billigheimer-Polo-Shirts

scheußlich gut sichtbar sind. Er sieht ständig so aus, als wolle er dich mit dem Arsch zuerst dunken,

und er steht total drauf, seine Stimme zu heben, um auf Dramatik zu machen.

Nutzt sich beides aber

ab, wenn mans ständig wiederholt.

„Nö, tschuldigung“, entgegnete ich. „Hab von Ihrer R2D2-Figur da noch nie was gehört.“ „W1n5t0n“

buchstabierte er noch mal. Dann musterte er mich scharf und erwartete, dass ich klein beigäbe. Klar

war das mein Nick, seit Jahren schon. Unter der Identität postete ich in Foren, in denen es um

angewandte Sicherheitsforschung ging. Na ja, halt so Zeug wie heimlich aus der Schule verschwinden

und die Signalverfolgung im Handy deaktivieren. Aber er wusste nicht, dass das mein Nick war. Das

wussten nur ne Handvoll Leute, und zu denen hatte ich vollstes Vertrauen.

„Ähm, da klingelt nix“, antwortete ich. Unter dem Pseudo hatte ich ne Menge cooles Zeug gemacht --

auf die Sache mit den Schnüffeletiketten-Killern war ich verdammt stolz --, und wenn er da eine

Verbindung herstellen konnte, wäre ich geliefert. Niemand an der Schule nannte mich w1n5t0n oder

auch bloß Winston, nicht mal meine Kumpels. Ich hieß hier Marcus, sonst nichts.

Benson ließ sich hinterm Schreibtisch nieder und pochte mit seinem Abschluss-Ring nervös auf dem

Löschpapier rum. Machte er immer, wenn die Dinge nicht so gut für ihn liefen.

Pokerspieler nennen

das einen „Tell“ -- einen Anhaltspunkt dafür, was im Kopf des Gegenübers vorgeht. Ich kannte

Bensons sämtliche Tells rauf und runter.

„Marcus, du begreifst hoffentlich, wie ernst die Sache ist.“

„Selbstverständlich, sobald Sie mir erklären, worum es geht, Sir.“ Ich sag zu Autoritäts-Typen immer

„Sir“, wenn ich sie verarschen will -- das ist mein Tell.

Er schüttelte den Kopf über mich und senkte den Blick -- noch ein Tell. Jeden Moment würde er

anfangen mich anzubrüllen. „Hör mal, Kleiner! Wird Zeit, dass du begreifst, dass wir wissen, was du

getan hast, und dass wir nicht gedenken, da ein Auge zuzudrücken. Du wirst von Glück reden können,

wenn ich dich nicht von der Schule werfe, bevor wir mit unserer Unterhaltung fertig sind. Du willst

doch noch einen Abschluss?“

„Mr. Benson, Sie haben immer noch nicht erklärt, was das Problem ist ...“

Er schlug mit der Hand auf den Tisch und zeigte dann mit dem Finger auf mich.

„Das Problem, Mr.

Yallow, besteht darin, dass Sie an einer kriminellen Verschwörung beteiligt sind mit dem Ziel, die

Sicherheitssysteme dieser Schule zu unterwandern, und dass Sie Ihre Mitschüler mit entsprechenden

Gegenmaßnahmen versorgt haben. Wie Sie wissen, haben wir Graciella Uriarte vergangene Woche

der Schule verwiesen, da sie eines Ihrer Geräte in Verwendung hatte.“

Uriarte hatte es vergeigt -- hatte in einem Headshop bei der BART1-Station 16.

Straße nen Störsender

gekauft, und das Ding hatte im Schulflur Alarm ausgelöst. Hatte ich nix mit zu tun, aber leid tat sie

mir schon.

„Und Sie denken, dass ich da mit drin stecke?“

„Wir haben zuverlässige Erkenntnisse, die darauf hindeuten, dass Sie w1n5t0n sind“ -- er

buchstabierte es wieder, und ich fragte mich allmählich, ob er wohl begriffen hatte, dass die 1 ein i

und die 5 ein s war. „Wir wissen, dass dieser Mensch namens w1n5t0n verantwortlich für den

Diebstahl der standardisierten Prüfungen im letzten Jahr war.“ Das allerdings war ich nicht gewesen;

war aber ein gelungener Hack damals, und irgendwie schmeichelhaft, dass ers mir zuschrieb. „Das

bringt gut und gern ein paar Jahre Gefängnis, sofern Sie sich nicht kooperativ zeigen.“

„Sie haben ‚zuverlässige Erkenntnisse‘? Ob ich die wohl mal sehen könnte?“

Er fixierte mich scharf. „Mit der Haltung kommen Sie hier nicht weit.“

1 Bay-Area-Schnellbahn, AdÜ

„Nun, Sir, wenn es Beweise gibt, dann sollten Sie wohl die Polizei einschalten und denen die Sache

übergeben. Klingt ganz so, als sei das was Ernstes, und ich wäre der Letzte, der einer intensiven

Untersuchung durch die zuständigen Stellen im Wege stehen wollte.“

„Sie möchten also, dass ich die Polizei rufe?“

„Und meine Eltern; das wäre wohl das Beste.“

Übern Schreibtisch hinweg blickten wir einander an. Er hatte offensichtlich erwartet, dass ich

einknicken würde, sobald er die Bombe platzen ließ. Ich knicke aber nie ein. Ich kenn einen Trick, mit

dem man Leute wie Benson in Grund und Boden starrt. Ich gucke einen Hauch links an ihnen vorbei

und denk an die Texte alter irischer Folksongs -- die Sorte mit 300 Zeilen und so.

Auf die Art seh ich

aus wie völlig entspannt und im Lot.

„Und der Flügel am Vogel und der Vogel auf dem Ei und das Ei im Nest und das Nest auf dem Blatt

und das Blatt am Zweig und der Zweig am Ast und der Ast am Stamm und der Stamm am Baum und

der Baum im Moor -- das Moor unten im Tal, oh! Heio, das rauschende Moor, der Baum drunten im

Moor, oh!“

„Sie können in Ihre Klasse zurückgehen“, sagte er. „Ich rufe Sie wieder, sobald die Polizei bereit ist,

mit Ihnen zu sprechen.“

„Rufen Sie sie jetzt sofort an?“

„Es ist ein aufwendiges Verfahren, die Polizei einzuschalten. Ich hatte gehofft, wir könnten das kurz

und schmerzlos unter uns klären, aber da Sie darauf bestehen …“

„Oh, es macht mir nichts aus, hier zu warten, während Sie die Polizei rufen“.

Er klopfte wieder mit seinem Ring, und ich machte mich auf den Ausbruch gefasst.

„Raus!“, brüllte er. „Verdammt noch mal raus aus meinem Büro, Sie kleiner Drecks--“ Ich empfahl

mich, ohne ne Miene zu verziehen. Er würde die Bullen nicht anrufen. Hätte er genug Beweise

gehabt, um damit zur Polizei zu gehen, dann hätte ers gleich gemacht. Er konnte mich ums Verrecken

nicht ausstehen. Vermutlich hatte er ein bisschen was an unbestätigten Gerüchten aufgeschnappt und

gehofft, er könne mir ein Geständnis abtricksen.

Ich schlenderte munter den Gang runter, wobei ich für die Schritterkennungs-Kameras auf

gleichmäßigen Gang achtete. Die waren im vorigen Jahr installiert worden, und ich liebte sie, weil sie

so offensichtlich bescheuert waren. Früher war fast jeder öffentliche Winkel der Schule von

Gesichtserkennungs-Kameras abgedeckt, aber die hatte ein Gericht als verfassungswidrig eingestuft.

Also hatten Benson und ein paar andere paranoide Schulobere unser Bücher-Budget für diese

schwachsinnigen Kameras verbraten, die angeblich den Gang zweier Leute voneinander

unterscheiden konnten. Na klar.

Ich ging zurück in die Klasse und setzte mich hin; Ms. Galvez begrüßte mich freundlich. Dann packte

ich das primäre Arbeitsgerät unserer Schule wieder aus und wählte den Klassenzimmer-Modus. Die

SchulBooks waren die verräterischsten Geräte von allen -- zeichneten jede Eingabe auf, kontrollierten

den Netzwerkverkehr auf verdächtige Eingaben, zählten alle Klicks, zeichneten jeden flüchtigen

Gedanken auf, den du übers Netz verbreitetest. Wir hatten sie in meinem ersten Jahr hier bekommen,

und es hatte bloß ein paar Monate gedauert, bis der Reiz dieser Dinger verflogen war. Sobald die

Leute merkten, dass diese „kostenlosen“ Laptops in Wirklichkeit für die da oben arbeiteten (und im

Übrigen mit massenhaft nerviger Werbung verseucht waren), fühlten die Kisten sich plötzlich sehr,

sehr schwer an.

Mein SchulBook zu cracken war simpel gewesen. Der Crack war binnen eines Monats nach

Einführung der Maschine online zu finden, und es war eine billige Nummer --

bloß ein DVD-Image

runterladen, brennen, ins SchulBook stecken und die Kiste hochfahren, während man ein paar Tasten

gleichzeitig gedrückt hielt. Die DVD erledigte den Rest und installierte etliche versteckte Programme

auf dem Laptop, die von den täglichen Fernprüfungs-Routinen der Schulleitung nicht gefunden

werden konnten. Man musste bloß hin und wieder ein Update aufspielen, um auch die neuesten

Testverfahren der Direktion zu umgehen; aber das war ein bescheidener Preis dafür, ein bisschen

Kontrolle über die Kiste zu bekommen.

Ich startete IMParanoid, den geheimen Instant Messenger, den ich immer benutzte, wenn ich mitten

im Unterricht eine Diskussion nebenher starten wollte. Darryl war schon eingeloggt.

Im Spiel gehts ab! Irgendein großes Ding läuft bei Harajuku Fun Madness, Alter. Biste dabei?

Ver! Giss! Es! Wenn die mich zum dritten Mal beim Schwänzen erwischen, flieg ich. Ey, weißt du

doch. Nach der Schule, OK?

Du hast noch Mittagessen und Studienzeit, oder? Macht zwo Stunden.

Genug Zeit, den Hinweis zu

knacken, und wir sind zurück, bevor uns jemand vermisst. Ich mach das ganze Team klar.

Harajuku Fun Madness ist das beste Spiel aller Zeiten. Ja, hatten wir schon, aber das kann man ruhig

zweimal sagen. Es ist ein ARG, ein „Alternate Reality Game“, und es dreht sich darum, dass ein paar

japanische Mode-Kids einen wundersam heilenden Edelstein im Tempel von Harajuku entdeckt haben

-- das ist da, wo coole japanische Teens quasi jede nennenswerte Subkultur der letzten zehn Jahre

erfunden haben. Die werden gejagt von bösen Mönchen, der Yakuza (der Japsen-Mafia), Aliens,

Steuerfahndern, Eltern und einer schurkischen künstlichen Intelligenz. Und sie geben den Mitspielern

codierte Hinweise, die wir entschlüsseln müssen, um neue Hinweise zu finden, die uns zu neuen

codierten Nachrichten führen und so weiter.

Stell dir den besten Nachmittag vor, den du in einer Stadt verbracht hast -- du strolchst durch die

Straßen und checkst all die merkwürdigen Leute, komischen Flugblätter, die Spinner auf der Straße

und die schicken Läden. Und dazu noch eine Schnitzeljagd, bei der du dich mit irren alten Filmen und

Songs und Jugendkulturen von früher und heute und überall auf der Welt beschäftigen musst.

Außerdem ist es ein Wettbewerb, bei dem das beste Viererteam satte zehn Tage nach Tokio reisen darf

-- auf der Harajuku-Brücke chillen, im Geek-Mekka Akihabara stöbern, Astro-Boy-Gimmicks

einsammeln, so viel du essen kannst (na ja, außer dass er in Japan „Atom Boy“

heißt) ...

Das ist Harajuku Fun Madness, und wenn du erst mal ein, zwei Rätsel gelöst hast, führt kein Weg

mehr zurück.

Nein, Mann, nein. NEIN. Frag erst gar nicht.

Ich brauch dich, D. Ich hab keinen Besseren als dich. Ich schwörs, ich bring uns unbemerkt raus

und wieder rein. Kann ich. Weißt du doch.

Ich weiß, dass dus kannst.

Also bist du dabei?

Scheiße, nein.

Komm schon, Darryl. Du wirst dir schon nicht auf dem Sterbebett wünschen, mehr Zeit in der

Schule verbracht zu haben.

Ich werd mir dann aber auch nicht wünschen, mehr Zeit mit ARGs verbracht zu haben.

Aber vielleicht wirst du dir wünschen, mehr Zeit mit Vanessa Pak verbracht zu haben?

Van war ein Mitglied meines Teams. Sie besuchte eine private Mädchenschule in der East Bay, aber

ich wusste, sie würde schwänzen, um die Mission mit mir zu erledigen. Und Darryl war nun schon

seit Jahren in sie verknallt, schon bevor die Pubertät begonnen hatte, sie mit verschwenderischen

Reizen zu bedenken. Darryl hatte sich in ihren Verstand verliebt. Echt traurig das.

Du Arsch.

Du bist dabei?

Er guckte zu mir rüber und schüttelte den Kopf. Dann nickte er. Ich blinzelte ihm zu und ging daran,

den Rest des Teams zusammenzutrommeln.

ARG war nicht immer mein Ding. Ich hab ein finsteres Geheimnis: Ich war mal ein LARPer. LARPs

sind Live-Action-Rollenspiele, und es ist genau so, wie es sich anhört: In Kostümen rumrennen, in

lustigen Dialekten reden und so tun, als sei man ein Topspion, ein Vampir oder ein mittelalterlicher

Ritter. Das ist so wie Fahnen erobern mit Monsterkutten, bisschen Drama Club dabei, und am besten

waren die Spiele, die wir in Pfadfinderlagern draußen in Sonoma oder auf der Peninsula spielten.

Diese Drei-Tage-Events wurden manchmal echt haarig, wenn man den ganzen Tag wandern musste,

ewig lang mit Schaumstoff- und Bambusschwertern kämpfte, Leute verhexte, indem man sie mit

Bohnensäcken bewarf und „Feuerball!“ brüllte, all son Zeug. Total lustig; okay, auch albern. Aber

nicht annähernd so ein Geek-Kram wie drüber zu reden, was dein Elb als nächstes tun wird, während

man mit Diet Coke und bemalten Miniaturen bewaffnet um einen Tisch rumsitzt; und viel mehr

physische Action als beim Mausschubsen bei einem Massive Multiplayer Game daheim.

Zum Verhängnis wurden mir die Minispiele in Hotels. Wann immer eine Science-Fiction-Convention

in der Stadt war, überredete jemand die Leute, uns bei dem Event eine Reihe von Sechs-Stunden-Minispielen zu erlauben, so dass wir uns in deren gemietete Räumlichkeiten einklinken konnten. Gab

der Convention ein bisschen Extra-Farbe, wenn da eine Horde enthusiastischer Kiddies in Kostümen

rumrannten, und wir hatten Spaß mit Leuten, die noch härtere Sozialabweichler waren als wir.

Das Problem mit Hotels ist, dass da auch ne Menge Leute wohnen, die keine Gamer sind. Nicht bloß

SciFi-Leute. Normale Leute. Aus Bundesstaaten, die vorne und hinten Vokale haben. Im Urlaub.

Und manchmal missverstehen solche Leute das Wesen solcher Spiele.

Belassen wirs dabei, ja?

Die Schulstunde würde in zehn Minuten vorbei sein, ich hatte also nicht viel Zeit für die

Vorbereitungen. Erster Tagesordnungspunkt waren die nervigen Schritterkennungs-Kameras. Wie

gesagt: Ursprünglich waren da mal Gesichtserkennungs-Kameras, aber die waren ja für

verfassungswidrig erklärt worden. Meines Wissens hat sich noch kein Gerichtshof mit der Frage

befasst, ob die Gang-Cams tatsächlich legaler sind, und bis dahin hatten wir sie am Hacken.

„Gang“ ist ein schickes Wort für die Art, wie man läuft. Menschen sind ziemlich gut drin, Gang zu

erkennen: Wenn du nächstes Mal Camping machst, achte mal auf die Bewegungen des

Taschenlampenlichts, wenn ein Freund von weit weg auf dich zukommt.

Wahrscheinlich kannst du

ihn bloß anhand der Lichtbewegung erkennen, anhand der typischen Art und Weise, wie das Licht

rauf- und runterwackelt, was unseren Affenhirnen verklickert „da ist ein Mensch, der auf dich

zukommt“.

Schritterkennungs-Software fotografiert deine Bewegungen, versucht dich auf den Bildern als

Silhouette zu isolieren und probiert dann, diese Silhouette mit einer Datenbank abzugleichen, um

herauszufinden, wer du bist. Ein biometrisches Identifikationssystem also, wie Fingerabdrücke oder

Iris-Scans, hat aber viel mehr „Kollisionen“ als die anderen beiden. Eine biometrische „Kollision“

bedeutet, dass eine Messung zu mehr als einer Person passt. Deinen Fingerabdruck hast du ganz

allein, aber dein Gang ist ziemlich gleich wie der von etlichen anderen Leuten.

Nur „ziemlich“, nicht exakt. Dein persönlicher Gang, auf den Zentimeter genau erfasst, ist deiner,

ganz allein deiner. Dumm ist nur, dass du nie auf den Zentimeter genau gleich gehst, weil das davon

abhängt, wie müde du bist, auf welcher Sorte Untergrund du gehst, ob du deinen Knöchel beim

Basketball geprellt hast und ob du kürzlich erst neue Schuhe gekauft hast. Also nähert sich das

System deinem Profil mit sowas wie Fuzzy Logic und guckt nach Leuten, die irgendwie so ähnlich

gehen wie du.

Aber es gibt ne Menge Leute, die irgendwie so ähnlich gehen wie du. Und außerdem ist es simpel,

eben nicht irgendwie so ähnlich zu gehen wie du selbst -- zieh bloß mal einen Schuh aus. Natürlich

wirst du dann so laufen wie „du mit nur einem Schuh an“ eben immer läufst, und die Kameras werden

früher oder später merken, dass dus trotzdem bist. Deshalb gehe ich meine Angriffe auf die

Schritterkennung mit einer Zufallskomponente an: Ich kippe ne Handvoll Kiesel in jeden Schuh.

Billig und wirksam, keine zwei Schritte sehen gleich aus. Und klasse Reflexzonenmassage gibts gratis

dazu (war nur Spaß. Reflexzonenmassage hat um und bei denselben wissenschaftlichen Wert wie

Schritterkennung).

Die Kameras waren anfangs so eingestellt, dass sie jedes Mal Alarm schlugen, wenn jemand den

Campus betrat, den sie nicht kannten.

Gaaanz schlechte Idee.

Wir hatten alle zehn Minuten Alarm. Der Briefträger. Irgendein Elternteil. Die Handwerker, die das

Basketballfeld reparierten. Sogar bei Schülern mit neuen Schuhen ging der Alarm los.

Deshalb versucht das System jetzt bloß noch aufzuzeichnen, wer wann wo ist.

Wenn also jemand

während der Unterrichtszeit das Schulgelände verlässt, wird der Gang daraufhin abgeglichen, ob es

einer der Schüler sein könnte. Und wenn ja, wup-wup-wup, geht die Sirene los.

Chavez High ist von Kieswegen umgeben. Ich hab für alle Fälle immer ein paar Hände voll Steinchen

in meiner Umhängetasche. Kommentarlos gab ich Darryl ein Dutzend von den kantigen Biestern

rüber, und wir füllten beide unsere Schuhe.

Der Unterricht war nahezu vorbei, als mir klar wurde, dass ich immer noch nicht auf der Website von

Harajuku Fun Madness nachgeschaut hatte, wo man den nächsten Hinweis finden würde! Ich war viel

zu sehr auf die Flucht konzentriert gewesen und hatte mich nicht drum gekümmert, wohin wir zu

fliehen hatten.

Also griff ich noch mal in die Tasten meines SchulBooks. Der Browser, den wir

benutzten, kam

vorinstalliert. Eine dichtgemachte Spyware-Version des Internet Explorers, Microsofts Crashware-Dreck, den kein Mensch unter 40 freiwillig benutzte.

Ich hatte einen Firefox auf dem USB-Laufwerk in meiner Uhr, aber das reichte nicht -- das SchulBook

lief mit Vista4Schools, einem antiken Betriebssystem, das Schuladministratoren die Illusion geben

sollte, sie könnten kontrollieren, welche Programme auf den Rechnern ihrer Schüler laufen.

Aber Vista4Schools steht sich selbst im Weg. Ne Menge Programme sollen so laufen, dass man sie in

Vista4Schools nicht ausschalten kann -- Keylogger, Zensurprogramme --, und die müssen in einer

speziellen Betriebsart laufen, damit sie vom System nicht gesehen werden. Du kannst sie nicht

ausschalten, weil du sie gar nicht im System sehen kannst.

Jedes Programm, dessen Name mit $SYS$ beginnt, ist fürs Betriebssystem unsichtbar. Es taucht

weder im Explorer noch im Taskmanager auf. Also hatte ich meine Firefox-Kopie $SYS$Firefox

genannt -- und wenn ich es startete, wurde es für Windows unsichtbar und somit für die

Schnüffelprogramme im Netzwerk.

Der Indie-Browser lief, jetzt brauchte ich nur noch eine Indie-

Netzwerkverbindung. Das Schulnetz zeichnete jeden Klick rein und raus auf, und das konnte man ja nicht brauchen, wenn man fürn

bisschen außerschulischen Spaß bei Harajuku Fun Madness vorbeisurfen wollte.

Die geniale Lösung heißt TOR -- The Onion Router. So ein „Zwiebel-Router“ ist eine Website, die

Verbindungsanfragen zu Internetseiten entgegennimmt und zu anderen TORs weiterreicht; das Ganze

ein paar Mal weiter, bis schließlich ein TOR die angeforderte Website aufruft und genauso durch die

verschiedenen Zwiebel-Häute zurückgibt, bis sie bei dir ankommt. Der Netzwerkverkehr zu den

Zwiebel-Routern ist verschlüsselt, so dass die Schule nicht sehen kann, wohin du eigentlich surfst,

und die einzelnen Zwiebel-Häute wissen nicht, für wen sie arbeiten. Bei TOR

gibts Millionen von

Netzwerkknoten: Das Programm wurde vom Forschungsamt der US-Marine entwickelt, um den

Navy-Leuten unzensierte Verbindungen in Ländern wie Syrien und China zu ermöglichen. Somit ist

es das perfekte System im Bereich einer durchschnittlichen US-Highschool.

TOR funktioniert deshalb, weil die Schule eine begrenzte Liste von Schmuddeladressen pflegt, die

wir nicht ansurfen dürfen, und weil die Adressen der Netzwerkknoten sich ständig ändern -- keine

Chance für die Schule, da ständig auf dem Laufenden zu bleiben. Firefox und

TOR zusammen

machten mich zum Unsichtbaren, unangreifbar für Schulbehördenschnüffelei, frei, zur Harajuku-FMSite

zu surfen und zu schauen, was abging.

Da war er, der neue Hinweis. Wie alle Hinweise bei Harajuku Fun Madness hatte auch dieser

physische, Online- und mentale Komponenten. Der Online-Teil war ein Rätsel, und dafür musste man

etliche knifflige Fragen beantworten. Diesmal waren dabei auch Fragen zur Handlung von Dojinshis --

das sind Comics, die von Fans der japanischen Mangas gezeichnet werden.

Dojinshis können genauso

umfangreich sein wie die offiziellen Comics, von denen sie inspiriert sind, aber sie sind viel bizarrer,

mit verschachtelten Handlungsfäden und manchmal völlig durchgeknallten Liedern und Action. Und

massig Liebesgeschichten sowieso. Jeder Fan findet es toll, wenn seine Helden sich verknallen.

Um die Rätsel würde ich mich später daheim kümmern müssen. Das ging am leichtesten mit dem

kompletten Team, weil man massenhaft Dojinshi-Files runterladen und nach Antworten auf die

Rätselfragen durchflöhen musste.

Grade war ich fertig damit, die Hinweise zu sortieren, als die Schulglocke klingelte; unsere Flucht

konnte beginnen. Unauffällig ließ ich die Kiesel in meine halbhohen Stiefel

rieseln -- knöchelhohe

australische Blundstones, klasse zum Laufen und Klettern, und durch das Design ohne Schnürsenkel

schnell aus- und angezogen, was bei den allgegenwärtigen Metalldetektoren natürlich praktisch ist.

Natürlich mussten wir auch die physische Überwachung austricksen, aber das wird im Grunde mit

jeder neuen Schnüffeltechnik leichter -- all der Alarmkrams vermittelt unserer geliebten Schulleitung

ein trügerisches Gefühl von Sicherheit. Wir ließen uns mit all den anderen die Flure hinuntertreiben

und steuerten meinen Lieblings-Hinterausgang an. Auf halber Strecke flüsterte Darryl: „Verdammt,

hab vergessen, dass ich noch ein Büchereibuch in meiner Tasche hab!“

„Mach kein Scheiß“, entgegnete ich und zerrte ihn ins nächste Klo.

Büchereibücher sind ne miese

Sache. Bei denen ist immer ein RFID-Chip (ein Sensor zur Identifikation per Funk) in den Einband

geklebt; damit können die Bibliothekare die Bücher ganz einfach auschecken, indem sie sie über ein

Lesegerät ziehen, und ein Bücherei-Regal kann Bescheid sagen, ob eins der Bücher darin am falschen

Platz steht.

Aber es erlaubt der Schule auch, jederzeit den Aufenthaltsort jedes Buchs zu ermitteln. Auch so ein

legales Hintertürchen: Die Gerichte hatten es verboten, uns per RFID zu tracken,

aber

Büchereibücher durfte man tracken, und ebenso war es erlaubt, mit den Schulaufzeichnungen

abzugleichen, wer wohl wahrscheinlich grade welches Buch dabeihatte.

Ich hatte zwar einen kleinen Faraday-Beutel in der Tasche -- das sind kleine Umschläge, die mit

Kupferdraht-Gewebe gefüttert sind, Radiowellen wirksam blocken und RFID-Chips zum Schweigen

bringen. Aber die Beutel waren dafür gedacht, Ausweise und Mautstellen-Transponder zu

neutralisieren, nicht für ...

„Eine Einleitung in die Physik?“, stöhnte ich. Das Buch war dick wie ein Lexikon.

Kapitel 2

Dieses Kapitel ist Amazon.com gewidmet, dem größten Internet-Buchhändler der Welt. Amazon ist umwerfend -- ein

„Laden“, in dem man praktisch jedes jemals publizierte Buch kaufen kann (nicht zu vergessen: praktisch alles andere auch,

vom Laptop bis zur Käsereibe); wo Empfehlungen zu einer eigenen Kunstform erhoben worden sind; wo es ausdrücklich

erlaubt ist, dass Kunden direkt miteinander sprechen; und wo permanent neue, verbesserte Techniken erfunden werden,

um Bücher mit Lesern in Kontakt zu bringen. Amazon hat mich stets wie pures Gold behandelt -- sein Gründer, Jeff Bezos,

veröffentlichte sogar eine Leserbesprechung meines ersten Romans --, und ich kaufe dort ein wie bescheuert (meinen

Listen nach zu urteilen, durchschnittlich einmal alle sechs Tage). Amazon ist mittendrin, die Buchhandlung des 21.

Jahrhunderts neu zu erfinden, und ich könnte mir kein Team vorstellen, das besser in der Lage wäre, die damit

verbundenen Probleme anzugehen.

Amazon:

http://www.amazon.com/exec/obidos/ASIN/0765319853/downandoutint-20

ielleicht studier ich Physik, wenn ich nach Berkeley gehe“, sagte Darryl. Sein Vater lehrte an der

University of California in Berkeley, so dass er dort keine Studiengebühren würde zahlen

müssen. Und ob er dort hin ginge, das stand in Darryls Haushalt nie zur Debatte.

V

„Okay, aber könntest du das nicht auch online lesen?“

„Mein Dad sagte, ich solle das Buch nehmen. Im Übrigen hatte ich nicht geplant, heute noch ein

Verbrechen zu begehen.“

„Schule schwänzen ist kein Verbrechen, sondern ein Vergehen. Das ist was ganz anderes.“

„Was machen wirn jetzt, Marcus?“

„Hm, verstecken geht nicht, also muss ichs grillen.“

RFIDs zu killen ist ne schwarze Kunst. Kein Händler kann bösartige Kunden brauchen, die in seinem

Shop rumrennen und hirntote Waren zurücklassen, denen der unsichtbare Strichcode fehlt. Deshalb

haben die Hersteller sich geweigert, ein „Kill-Signal“ vorzusehen, mit dem man

per Funk den RFID

ausschalten kann. Mit den geeigneten Boxen kann man RFIDs umprogrammieren, aber ich hasse es,

das mit Büchereibüchern zu tun. Es ist nicht dasselbe wie Seiten rauszureißen, aber es ist schon übel,

weil ein Buch mit umprogrammiertem RFID nicht mehr einsortiert und nicht mehr gefunden werden

kann. Es wird zu einer Stecknadel im Heuhaufen.

Also blieb mir nur eine Option: das Ding zu grillen. Im Wortsinn. 30 Sekunden in der Mikrowelle

kriegen so ziemlich jeden handelsüblichen RFID klein. Und weil der Chip dann überhaupt nichts

mehr sagen würde, wenn D es in die Bibliothek zurückbrächte, müssten sie bloß einen neuen

ausdrucken und mit den Katalogdaten des Buchs codieren; dann würde es ganz ordentlich wieder auf

seinem Regal landen.

Alles, was wir jetzt brauchten, war eine Mikrowelle.

„Lass uns noch zwei Minuten warten, dann ist das Lehrerzimmer leer“, sagte ich.

Darryl schnappte sich sein Buch und ging zur Tür. „Vergiss es einfach. Ich geh zurück in die Klasse.“

Ich griff ihn am Ellbogen und zog ihn zurück. „Hey, D, entspann dich. Alles wird gut.“

„Lehrerzimmer, ja? Hast du mir nicht zugehört? Wenn die mich noch einmal schnappen, bin ich weg

vom Fenster. Begriffen? Die werfen mich raus!“

„Sie schnappen dich aber nicht“, antwortete ich. Wenn es einen Ort gab, an dem um diese Zeit kein

einziger Lehrer war, dann das Lehrerzimmer. „Wir gehen hintenrum rein.“

Das Lehrerzimmer hatte an einer Seite eine Küchenzeile mit separatem Eingang für Lehrer, die nur

kurz auf einen Becher reinkamen. Die Mikrowelle, die immer nach Popcorn und verschütteter Suppe

stank, war auch da drin -- oben auf dem Minikühlschrank.

Darryl stöhnte, und meine Gedanken rasten.

„Hey, es hat schon wieder geklingelt. Wenn du jetzt ins Studierzimmer gehst, kriegst du ne

Ermahnung für Zuspätkommen. Dann doch lieber gar nicht erst auftauchen. Ich krieg uns unbemerkt

in jeden Raum auf dem Campus rein und wieder raus, D. Hast du doch schon gesehen. Mit mir bist du

sicher, Alter.“

Er stöhnte wieder. Das war einer von Darryls Tells: Wenn er erst mal anfängt zu stöhnen, dann ist er

bereit nachzugeben.

„Auf gehts“, sagte ich, und wir legten los.

Es ging reibungslos. Vorbei an den Klassenräumen, rückwärtige Treppe nach unten, vordere Treppe

direkt vorm Lehrerzimmer wieder hoch. Kein Piep war von drinnen zu hören; ich drehte den Türgriff

und zog Darryl nach innen, um die Tür leise wieder hinter uns zu schließen.

Das Buch passte grade so in die Mikrowelle, die sogar noch unappetitlicher aussah als beim letzten

Mal, als ich sie brauchte. Ich wickelte das Buch penibel in Papiertücher, bevor ich es reinsteckte.

„Mann, Lehrer sind Schweine“, zischelte ich. Darryl, bleich und angespannt, erwiderte nichts.

Der RFID-Chip starb in einem Funkenregen, was ganz entzückend aussah (wenn auch nicht

annähernd so hübsch wie der Effekt, wenn man eine tiefgefrorene Traube hochjagt -- das muss man

sehen, um es zu glauben).

Jetzt also bloß noch anonym weg vom Campus.

Darryl öffnete die Tür und schob sich nach draußen, ich direkt hinter ihm. Einen Moment später stand

er auf meinen Zehen, seine Ellbogen in meine Brust gerammt, und drängte in die wandschrankgroße

Küche zurück, die wir grade verlassen hatten.

„Zurück“, flüsterte er mit Nachdruck. „Mach schnell, Charles kommt!“

Charles Walker und ich können nicht miteinander. Wir sind im selben Jahrgang und kennen uns

genauso lange, wie ich Darryl kenne, aber das wars auch schon an Gemeinsamkeiten. Charles war

immer schon groß für sein Alter, und seit er Football spielt und Zeug schluckt, ist er noch größer. Er

hat sein Temperament nicht unter Kontrolle -- in der dritten Klasse ist ihm einer

meiner Milchzähne

zum Opfer gefallen --, und das bringt ihm nur deshalb keine Probleme, weil er einer der eifrigsten

Spitzel an der Schule ist.

Ist ne üble Kombi, ein Schläger, der auch schnüffelt -- es verschafft ihm enorme Befriedigung, mit

jeder Kleinigkeit, von der er Wind kriegt, sofort zu den Lehrern zu rennen.

Benson liebte Charles.

Und der ließ gern durchblicken, dass er irgendein Problem mit der Blase hatte --

perfekter Vorwand

für ihn, in Chavez durch die Flure zu strolchen und zu gucken, wem er als Nächstes ans Bein pinkeln

könnte.

Als Charles das letzte Mal was gegen mich in der Hand hatte, hatte das das Ende meiner LARPAktivitäten

bedeutet. Von dem würde ich mich nicht noch mal erwischen lassen.

„Was macht er?“

„Kommt genau in unsere Richtung“, sagte Darryl. Er zitterte.

„Okay“, entgegnete ich. „Zeit für Notfall-Gegenmaßnahmen.“ Ich holte mein Handy raus. Diese

Sache hatte ich lange im Voraus geplant -- Charles würde mich nie wieder drankriegen. Ich mailte

meinen Server zuhause an, und der legte los.

Sekunden später kackte Charles‘ Handy spektakulär ab. Zehntausende von zufälligen Anrufen und

SMS liefen parallel bei ihm auf, sämtliche Warn- und Klingeltöne meldeten sich gleichzeitig und dann

wieder und wieder. Den Angriff hatte ich mithilfe eines Botnetzes bewerkstelligt, was mir einerseits

ein schlechtes Gewissen bereitete; aber andererseits war es ja im Dienst einer guten Sache.

In Botnetzen fristen infizierte Rechner ihr untotes Dasein. Wenn du dir einen Wurm oder Virus fängst,

sendet dein Rechner eine Botschaft an einen Chat-Kanal im IRC, dem Internet Relay Chat. Diese

Botschaft zeigt dem Botmaster, also dem Typen, der den Wurm freigesetzt hat, dass da Computer

sind, die auf seinen Befehl warten. Botnetze sind enorm mächtig, da sie aus Tausenden, manchmal

Hunderttausenden von Rechnern bestehen, die über das ganze Internet verteilt sind, meist über

Breitbandleitungen verbunden sind und auf schnelle Heim-PCs zugreifen.

Normalerweise tun diese

Rechner das, was ihre Besitzer wollen, aber wenn der Botmaster sie ruft, kommen sie wie die

Zombies hervor, um ihm zu dienen.

Mittlerweile gibts im Internet so viele infizierte Rechner, dass die Mietpreise für ein, zwei Stunden

Botnetz-Nutzung total im Keller sind. Die Kisten arbeiten zumeist als billige Spambots und fluten

deine Mailbox mit Potenzpillen-Reklame oder wieder mit neuen Viren, um auch deine Kiste zu

infizieren und fürs Botnetz zu rekrutieren.

Ich hatte also grade 10 Sekunden auf dreitausend Rechnern gemietet und jeden einzelnen angewiesen,

eine SMS oder einen VoIP-Anruf an Charles‘ Handy abzusetzen; dessen Nummer hatte ich mal

während einer dieser verhängnisvollen Bürositzungen bei Benson von einem Post-it abgelesen.

Muss ich erwähnen, dass Charles‘ Telefon nicht in der Lage war, damit umzugehen? Zuerst ließen die

SMS den Gerätespeicher überlaufen, sodass das Handy nicht mal mehr seine Routinen ausführen

konnte, etwa das Klingeln zu koordinieren und die gefälschten Rufnummern der eingehenden Anrufe

aufzeichnen. (Wusstet ihr, dass es völlig simpel ist, die Rückrufnummer einer Anruferkennung zu

faken? Dafür gibts ungefähr 50 verschiedene Möglichkeiten -- einfach mal

„Anrufer-ID fälschen“

googeln ...)

Charles starrte sein Telefon fassungslos an und hackte auf ihm herum, die wulstigen Augenbrauen

regelrecht verknotet ob der Anstrengung, dieser Dämonen Herr zu werden, die das persönlichste

seiner Geräte in Besitz genommen hatten. Bis hierher war der Plan aufgegangen, aber nun tat er nicht,

was er sollte -- er sollte sich nämlich einen ruhigen Winkel suchen, wo er versuchen würde, sein

Handy wieder unter Kontrolle zu bringen.

Darryl schüttelte mich an der Schulter, und ich zog mein Auge vom Türspalt weg.

„Was macht er?“, flüsterte Darryl.

„Ich hab sein Handy geflutet, aber jetzt glotzt ers nur an, statt zu verschwinden.“

Er würde

Schwierigkeiten haben, das Ding zu rebooten. Wenn der Speicher erst mal komplett voll war, würde

es schon schwer sein, auch nur den Programmcode zu laden, der fürs Löschen der Nachrichten

gebraucht wurde; und bei seinem Handy konnte man auch nicht mehrere Nachrichten auf einmal

entfernen, also würde er Tausende von Nachrichten einzeln löschen müssen.

Darryl schubste mich weg und schaute selbst durch den Türspalt. Kurz darauf begannen seine

Schultern zu beben. Ich fürchtete schon, er hätte ne Panikattacke, aber als er sich umdrehte, sah ich,

dass er so sehr lachen musste, dass ihm Tränen über die Wangen liefen.

„Galvez hat ihn grade richtig rundgemacht, weil er während des Unterrichts im Flur war und sein

Handy draußen hatte -- hättst du sehen müssen, wie sie ihn zerfleischt hat. Hat ihr richtig Spaß

gemacht.“

Darauf gaben wir uns die Hand; dann verschwanden wir zurück durch den Gang, Treppe runter,

hinten rum, zur Tür raus, am Zaun vorbei und der strahlenden Nachmittagssonne

über Mission

entgegen. So schön war Valencia Street noch nie gewesen. Ich blickte auf die Uhr und erschrak.

„Tempo! Der Rest der Truppe erwartet uns in 20 Minuten bei den Cable-Cars!“

Van sah uns zuerst. Sie hatte sich zu einer Horde koreanischer Touristen gesellt; das ist eine ihrer

Lieblingstarnungen beim Schuleschwänzen. Seit dieses Schwänzer-Moblog online ist, wimmelt

unsere Welt von neugierigen Ladeninhabern und Hobbyschnüfflern, die es für ihre Pflicht halten,

Bildchen von uns zu machen und ins Netz zu stellen, wo sie von Schul-Offiziellen durchsucht werden

können.

Sie kam aus der Menge heraus und steuerte auf uns zu. Darryl ist seit ewig hinter Van her, und sie ist

so süß, so zu tun, als ob sies nicht merkt. Sie umarmte mich und ging dann zu Darryl weiter, um ihm

ein züchtiges Küsschen auf die Wange zu drücken, das ihn bis über die Ohren knallrot anlaufen ließ.

Die beiden gaben ein lustiges Paar ab: Darryl ist ein bisschen stämmig, was bei ihm aber gar nicht

schlecht aussieht, und hat einen rosigen Teint, der dazu neigt, an den Wangen rot zu werden, sobald er

rennt oder aufgeregt ist. Er hatte schon mit 14 einen Bartwuchs entwickelt, aber glücklicherweise

nach einer kurzen Zeit, die unter uns „Die Lincoln-Jahre“ hieß, mit Rasieren angefangen. Und er ist

groß. Sehr, sehr groß. Basketballspielergroß.

Van dagegen ist sogar noch einen halben Kopf kleiner als ich, sie ist mager, und sie trägt ihr glattes

schwarzes Haar in irrwitzig komplizierten Zöpfen, deren Machart sie im Internet raussucht. Sie hat

hübsche kupferfarbene Haut und dunkle Augen, und sie steht auf Glasringe groß wie Rettich, die beim

Tanzen gegeneinanderklirren.

„Wo ist Jolu?“, begrüßte sie uns.

„Wie gehts dir, Van?“, fragte Darryl mit belegter Stimme. In unseren Gesprächen mit Van war er

immer einen Satz hinterher.

„Super, D. Und wie gehts deinen Kleinigkeiten?“ Oh, sie war ein Miststück.

Darryl fiel fast in

Ohnmacht.

Jolu erlöste ihn von drohender sozialer Ächtung, indem er just in diesem Moment auftauchte: in

übergroßer Leder-Baseballjacke, rattenscharfen Turnschuhen und einem Netz-Cap mit Logo unseres

mexikanischen Lieblings-Wrestlers, dem maskierten El Santo Junior. Jolu ist Jose Luis Torrez, und er

macht unser Quartett komplett. Er ging auf eine superstrenge katholische Schule in Outer Richmond,

weshalb es für ihn nicht grade leicht war wegzukommen. Aber er schaffte es

immer: Niemand

verschwand so wie unser Jolu. Er liebte seine Jacke, weil sie ziemlich weit runterhing (was in

gewissen Ecken der Stadt ziemlich stylisch war) und sein Katholikenschul-Outfit komplett

überdeckte, denn das war ja wien Fadenkreuz für Schnüffelspinner, die das Schwänzer-Moblog in

ihren Handy-Favoriten hatten.

„Alles abmarschbereit?“, fragte ich, sobald wir mit sämtlichen Hallos fertig waren. Ich holte mein

Handy raus und zeigte den anderen die Karte, die ich in der BART runtergeladen hatte. „Soweit ich es

begriffen habe, müssen wir zum Nikko zurück, einen Block dahinter Richtung O‘Farrell, dann links

hoch Richtung Van Ness. Da irgendwo müssten wir das Funksignal kriegen.“

Van zog die Stirn kraus. „Das ist eine eklige Ecke vom Tenderloin.“ Da war nichts dran zu deuteln.

Dieser Teil von San Francisco ist eins der schrägeren Viertel: Geh durch den Vordereingang des

Hilton, und du hast den ganzen Touristenkram wie den Cable-Car-Wendepunkt und die Familien-Restaurants. Geh durch zur anderen Seite, und du kommst im Loin raus -- dem Sammelbecken

sämtlicher abgewrackter Transen-Huren, harter Zuhälter, Dealer und durchgeknallter Penner der

Stadt. Was dort gehandelt wurde, dafür war keiner von uns alt genug (obwohl

sich auch reichlich

Nutten unseres Alters im Loin anboten).

„Denk positiv“, entgegnete ich. „Da will sich nun wirklich niemand rumtreiben außer am hellichten

Tag. Also lassen sich die anderen Spieler frühestens morgen da blicken. Wir im ARG-Gewerbe

nennen so was einen Monster-Vorsprung.“

Jolu grinste mich an. „Wenn man dich hört, klingt das richtig gut.“ „Besser als Uni zu essen allemal“,

sagte ich.

„Quasseln wir oder gewinnen wir?“, mischte sich Van ein. Sie war nach mir definitiv der härteste

Spieler unserer Gruppe. Gewinnen war etwas, das sie sehr, sehr ernst nahm.

Wir machten uns auf den Weg, vier gute Freunde, einen Hinweis zu decodieren, das Spiel zu

gewinnen -- und für immer alles zu verlieren, was uns jemals wichtig war.

Die physische Komponente des heutigen Hinweises war ein Satz von GPS-Koordinaten -- je einer für

alle wichtigen Städte, in denen Harajuku Fun Madness gespielt wurde --, der anzeigte, wo wir das

Signal eines Funknetz-Knotenpunkts finden würden. Dieses wurde von dem Signal eines anderen, in

der Nähe versteckten WLAN-Zugangs gezielt überlagert, so dass man das eigentliche Signal nicht mit

konventionellen WLAN-Findern erkennen konnte (das sind kleine

Schlüsselanhänger, die dir

anzeigen, ob du in Reichweite eines Funknetzes bist, das du gratis mitbenutzen kannst).

Die Aufgabe war, den versteckten WLAN-Zugang zu lokalisieren; dazu würden wir die Stärke des

sichtbaren Signals analysieren und denjenigen Punkt finden müssen, an dem das Funknetz ohne

offensichtlichen Grund am schwächsten war. Dort würden wir einen weiteren Hinweis finden -- beim

letzten Mal war dieser im Tages-Special auf der Speisekarte des Anzu verborgen, dem todschicken

Sushi-Restaurant im Nikko-Hotel im Tenderloin. Das Nikko gehörte zu Japan Airlines, einem der

Sponsoren von Harajuku Fun Madness, und die Leute da hatten ein Mords-Tamtam veranstaltet, als

wir den Hinweis endlich gefunden hatten: Sie servierten uns Schüsseln mit Miso-Suppe und brachten

uns sogar dazu, Uni zu probieren -- das ist Seeigel-Sushi mit der Konsistenz von sehr weichem Käse

und dem Aroma von sehr weicher Hundekacke. Aber es war sehr lecker.

Behauptete zumindest

Darryl. Ich hatte den Kram nicht probiert.

Der WLAN-Finder meines Handys schnappte das Signal drei Blöcke O‘Farrell hoch auf, kurz vor

Hyde Street, vor einem dubiosen „Asiatischen Massagesalon“ mit blinkendem rotem „Geschlossen“-

Schild im Fenster. Die Netzwerkkennung war HarajukuFM, wir wussten also, wir waren richtig.

„Wenns da drin ist, geh ich nicht rein“, sagte Darryl.

„Alle WLAN-Finder bereit?“, fragte ich.

Darryl und Van hatten Handys mit eingebauten Findern, nur Jolu, der kein Telefon benutzen würde,

das größer war als sein kleiner Finger, hatte ein gesondertes kleines Ortungsgerät.

„OK, ausschwärmen und schauen, was wir finden. Ihr müsst auf einen plötzlichen Signalabfall

achten, der stärker wird, je mehr man sich in seine Richtung bewegt.“

Ich trat einen Schritt zurück und stand plötzlich jemandem auf den Zehen. Eine Frauenstimme sagte

„autsch“, und ich wirbelte herum aus Angst, gleich würde mich eine Nutte abstechen, weil ich ihr die

Absätze ruiniert hatte.

Stattdessen blickte ich einem Kind meines Alters ins Gesicht. Sie hatte strahlend pinkfarbenes Haar

und eine riesige Pilotenbrille im kantigen Nagetiergesicht. Unter einem schwarzen Omakleid,

geschmückt mit Bergen von japanischen Buttons mit Anime-Figuren, Führern der Alten Welt und

ausländischen Limo-Logos, trug sie gestreifte Strümpfe.

Sie zückte eine Kamera und machte ein Bild von mir und meinem Team.

„Cheese“, sagte sie. „Hier ist die versteckte Spitzel-Kamera!“

„Ne“, sagte ich. „Du wirst doch nicht ...“

„Und ob ich werde“, entgegnete sie. „Ich schick dieses Foto in dreißig Sekunden ans Schwänzerblog,

wenn ihr vier nicht von hier verschwindet und meinen Freundinnen und mir den Hinweis überlasst. In

einer Stunde könnt ihr wiederkommen und damit machen, was ihr wollt. Das wäre wohl mehr als

fair.“

Hinter ihr sah ich noch drei Mädchen in ähnlicher Aufmachung -- eins mit blauen Haaren, eins mit

grünen und eins mit violetten. „Wer seid ihr eigentlich, das Eis-am-Stiel-Quartett?“

„Wir sind das Team, das euer Team bei Harajuku Fun Madness am Arsch kriegt“, sagte sie. „Und ich

bin die, die genau jetzt euer Foto hochlädt und euch so richtig in die Scheiße ...“

Hinter mir spürte ich Van nach vorn drängen. Ihre Mädchenschule war für ihre Prügeleien berüchtigt,

und mir war klar, dass sie dieser Puppe ordentlich eine reinsemmeln würde.

Dann änderte sich die Welt für immer.

Zuerst spürten wirs bloß, dieses fiese Schwabbeln des Zements unter den Füßen, das jeder Kalifornier

instinktiv erkennt -- „Erdbeben“. Mein erster Impuls war wegzulaufen, wie üblich: „Bist du ängstlich

und allein, hilft nur rennen oder schrei‘n.“ Aber hier waren wir ja schon am denkbar sichersten Platz:

weder in einem Gebäude, das über uns zusammenstürzen könnte, noch in der

Mitte der Straße, wo uns

herabfallende Dach-Teile das Hirn zermatschen könnten.

Erdbeben sind beängstigend geräuschlos -- zumindest am Anfang --, aber das hier war nicht

geräuschlos. Das hier war laut -- ein unglaubliches Brüllen, lauter als alles, was ich jemals zuvor

gehört hatte. Der Lärm war so bestialisch, dass ich in die Knie ging, und ich war beileibe nicht der

Einzige. Darryl zerrte mich am Arm und wies über die Gebäude hinweg, und da sahen wir sie: eine

gewaltige schwarze Wolke, die sich aus Nordwesten über die Bay erhob.

Dann noch ein Grollen, und die Rauchwolke dehnte sich aus, diese expandierende schwarze Form, die

wir alle aus den Kinofilmen unserer Jugend kannten. Irgend jemand hatte etwas in die Luft gejagt,

und zwar ganz gewaltig.

Noch mehr Grollen, noch mehr Beben. Die Straße rauf und runter erschienen Köpfe an Fenstern. Wir

starrten schweigend die pilzförmige Wolke an.

Dann gingen die Sirenen los.

Sirenen wie diese hatte ich zwar schon mal gehört -- sie testen die Zivilschutz-Sirenen immer

dienstagmittags. Aber dass sie außerplanmäßig losgingen, das kannte ich nur aus alten Kriegsfilmen

und Videospielen, diese Sorte, wo irgendwer irgendwen aus der Luft bombardiert. Luftalarm-Sirenen.

Das wouuuuuuu-Jaulen machte das Ganze irgendwie unwirklich.

„Suchen Sie sofort die Notunterkünfte auf.“ Es war wie die Stimme Gottes, sie kam aus allen

Richtungen zugleich. Auf einigen der Strommasten waren Lautsprecher angebracht, was mir noch nie

aufgefallen war; und die waren alle auf einmal angegangen.

„Suchen Sie sofort die Notunterkünfte auf.“ Notunterkünfte? Wir starrten uns fragend an. Welche

Notunterkünfte? Die Wolke wuchs immer noch und dehnte sich aus. War es eine Atombombe? Waren

das jetzt unsere letzten Atemzüge?

Das Mädchen mit den rosa Haaren schnappte ihre Freundinnen, und sie rasten wie bekloppt den Hang

runter, zur BART-Station am Fuß der Hügel.

„SUCHEN SIE SOFORT DIE NOTUNTERKÜNFTE AUF.“ Inzwischen war das Geschrei

losgegangen, und alles rannte wild durcheinander. Touristen -- die erkennt man immer daran, dass sie

glauben, in Kalifornien sei es warm, und in San Francisco in Shorts und T-Shirts frieren -- stoben in

alle Himmelsrichtungen auseinander.

„Wir müssen weg!“, brüllte Darryl mir ins Ohr, kaum zu verstehen über dem Sirenengeheul, das

mittlerweile durch normale Polizeisirenen verstärkt wurde. Ein Dutzend SFPD-Streifenwagen raste an

uns vorbei.

„SUCHEN SIE SOFORT DIE NOTUNTERKÜNFTE AUF.“ „Runter zur BART-Station“, brüllte ich.

Meine Freunde nickten. Wir schlossen die Reihen und machten uns zügig auf den Weg bergab.

Kapitel 3

Dieses Kapitel ist Borderlands Books gewidmet, San Franciscos großartiger unabhängiger Science-Fiction-Buchhandlung.

Borderlands liegt ziemlich genau gegenüber der fiktiven Cesar Chavez Highschool, die in „Kleiner Bruder“ beschrieben ist, und ihren Ruf hat sie nicht nur wegen fantastischer Events, Signierstunden, Buchclubs und derlei, sondern auch wegen der

erstaunlichen haarlosen ägyptischen Katze namens Ripley, die sich wie ein schnurrender Drache auf dem Computer vorn

im Laden zu räkeln pflegt. Borderlands ist die wohl freundlichste Buchhandlung, die man sich nur wünschen kann, voll mit

lauter kuschligen Ecken zum Sitzen und Lesen und mit unglaublich kompetenten Angestellten, die alles wissen, was es

über Science Fiction zu wissen gibt. Besser noch: Sie nehmen gern telefonisch oder per Internet Bestellungen für mein

Buch entgegen, halten es vor, bis ich mal vorbeikomme, um es zu signieren, und versenden es dann innerhalb der USA

kostenfrei!

Borderlands Books: http://www.borderlands-books.com/ 866 Valencia Ave, San Francisco CA USA 94110 +1 888 893 4008

uf dem Weg zur Powell Street BART kamen wir auf der Straße an enorm vielen Leuten vorbei.

Sie rannten oder gingen, bleich und stumm oder panisch und schreiend.

Obdachlose kauerten

sich in Hauseingänge und beobachteten alles, während eine große farbige Transen-Hure zwei

schnurrbärtigen jungen Männern etwas zurief.

A

Je näher wir der BART kamen, desto heftiger wurde das Gedränge. Bis wir an der Treppe zur Station

runter angekommen waren, hatte es sich zum Mob entwickelt -- ein unabsehbares Gewimmel von

Menschen, die alle zur schmalen Treppe runterdrängten. Mein Gesicht wurde in den Rücken meines

Vordermanns gepresst, jemand anderes rammte in meinen Rücken.

Darryl war immer noch neben mir -- er war groß genug, um nicht so leicht umgeschubst zu werden --,

und Jolu folgte ihm oder hing vielmehr an seiner Hüfte. Vanessa sah ich ein paar Meter entfernt, von

anderen Leuten eingezwängt.

„Fick dich selbst!“, hörte ich sie schreien. „Perverser! Nimm die Pfoten weg!“

Gegen den Druck der

Massen drehte ich mich zu Van um und sah, wie sie einen älteren Kerl im feinen Anzug mit Abscheu

musterte, der sie anzugrinsen schien. Sie kramte in ihrer Tasche, und ich wusste, was sie suchte.

„Nicht das Tränengas!“, brüllte ich über den Lärm hinweg. „Du erwischst uns alle mit.“

Als er „Tränengas“ hörte, sah der Typ plötzlich ängstlich aus und versuchte nach hinten zu

entwischen, während ihn die Menge weiter nach vorn drängte.

Vor mir sah ich, wie eine Frau mittleren Alters im Hippie-Dress zusammensackte und stürzte. Sie

schrie auf, als sie fiel, und ich sah, wie sie sich bemühte, wieder auf die Beine zu kommen, aber

vergeblich: Das Drängen der Masse war zu heftig. Als ich mich ihr näherte, bückte ich mich, um ihr

aufzuhelfen, und wurde fast selbst umgeworfen. Am Ende trat ich ihr in den Unterleib, als die

Menschenmenge mich an ihr vorbeischob; aber ich glaube, da war sie schon nicht mehr in einem

Zustand, in dem sie noch irgendwas spürte.

Ich hatte Angst wie noch niemals zuvor. Überall war Gebrüll, mehr Körper lagen am Boden, und der

Druck von hinten war so unnachgiebig wie von einem Bulldozer. Nur auf meinen Füßen bleiben -- das

war alles, worum es jetzt noch ging.

Wir erreichten die offene Bahnhofshalle mit den Drehkreuzen. Dort war’s kaum besser -- in dem

umschlossenen Raum hallten die Stimmen um ums herum wie Echos und machten einen Lärm, dass

mein Schädel brummte; und der Geruch und das Gefühl all dieser Körper erzeugten in mir eine

Klaustrophobie, von der ich nie wusste, dass ich anfällig dafür war.

Immer noch drängten Leute die Treppen runter, immer mehr quetschten sich an den Drehkreuzen

vorbei und über die Rolltreppen runter zu den Gleisen, aber mir war klar, dass dort kein Happy-End

zu erwarten war.

„Riskieren wirs oben?“, fragte ich Darryl.

„Verdammt noch mal ja“, sagte er. „Das hier ist böse.“ Ich blickte in Richtung Vanessa -- keine

Chance, dass sie mich hören würde. Irgendwie kramte ich mein Handy raus und simste sie an.

Wir verschwinden hier raus

Ich sah, wie sie den Vibrationsalarm ihres Handys spürte, draufblickte, dann zu mir schaute und

nachdrücklich nickte. Darryl hatte inzwischen Jolu gebrieft.

„Wie wollen wirs machen?“, brüllte Darryl mir ins Ohr.

„Rückwärtsgang, irgendwie“, schrie ich zurück und zeigte auf die erbarmungslose Menschenflut.

„Unmöglich!“, sagte er.

„Je länger wir warten, desto unmöglicher wird’s!“

Er zuckte die Schultern. Van drängte sich zu mir durch und schnappte mein Handgelenk. Ich griff

Darryl, und der nahm Jolu bei der anderen Hand, und dann drängten wir nach draußen.

Leicht wars nicht. Am Anfang schafften wir vielleicht zehn Zentimeter pro Minute, dann auf der

Treppe wurden wir noch langsamer. Zudem waren die Leute, denen wir begegneten, nicht eben

glücklich darüber, dass wir sie aus dem Weg zu drängen versuchten. Einige fluchten, und ein Typ

hätte mich vermutlich verprügelt, wenn er bloß seine Arme hätte freimachen können. Wir mussten

über drei weitere niedergetrampelte Leute klettern, aber ich hatte keine Chance, ihnen zu helfen. Zu

dem Zeitpunkt dachte ich wohl schon gar nicht mehr dran, irgend jemandem zu helfen. Das Einzige,

woran ich dachte, war das nächste bisschen nutzbarer Freiraum vor mir, Darryls schmerzhafter Griff

um mein Handgelenk und mein verzweifeltes Klammern an Van hinter mir.

Nach einer halben Ewigkeit ploppten wir plötzlich ins Freie wie Champagnerkorken und blinzelten

ins rauchig-graue Licht. Die Luftalarm-Sirenen plärrten immer noch, und das Jaulen der

Krankenwagen-Sirenen, die Market Street hinunterrasten, war sogar noch lauter.

Fast niemand war

mehr auf der Straße, nur noch die Menschen, die vergeblich versuchten, nach unten zu gelangen.

Viele von ihnen weinten. Ich erblickte ein paar leere Parkbänke, auf denen sich sonst schmuddelige

Penner breit machten, und deutete darauf.

Wir liefen drauf zu, gebückt und mit eingezogenen Schultern durch Sirenenlärm und Qualm. Grade

als wir bei den Bänken ankamen, stürzte Darryl nach vorn.

Alle schrien wir auf, und Vanessa griff nach ihm und drehte ihn um. Sein Hemd war an der Seite rot

gefleckt, und der Fleck breitete sich aus. Sie zog das Hemd hoch, wodurch ein langer, tiefer Schnitt in

seinem stämmigen Leib sichtbar wurde.

„Scheiße, irgendjemand in der Menge hat ihn abgestochen“, sagte Jolu, die Hände zu Fäusten geballt.

„Himmel, ist das fies.“

Darryl stöhnte und blickte erst zu uns, dann an seinem Körper runter, dann stöhnte er noch mal, und

sein Kopf kippte wieder nach hinten.

Vanessa zog ihre Jeansjacke aus und dann auch noch den Kapuzensweater, den sie drunter trug. Sie

rollte ihn zusammen und presste ihn Darryl in die Seite.

„Nimm seinen Kopf“, sagte sie zu mir, „halt ihn hoch.“ Und zu Jolu: „Nimm seine Füße hoch; mach

ne Rolle aus deinem Mantel oder so.“

Jolu reagierte sofort. Vanessas Mutter ist Krankenschwester, und jeden Sommer im Camp hatte sie

nen Erste-Hilfe-Kurs gehabt. Sie machte sich einen Spaß draus, drauf zu achten, wie Leute in Filmen

die Erste Hilfe falsch machen. Mann, war ich froh, sie dabei zu haben.

Wir saßen eine ganze Weile so da und pressten die Kapuzenjacke gegen Darryls Seite. Er sagte

dauernd, es gehe ihm gut und wir sollten ihn aufstehen lassen, und Van sagte dauernd, er solle den

Mund halten und liegen bleiben, oder es setze was.

„Sollen wir nicht mal 911 anrufen?“, fragte Jolu.

Ich kam mir wie der letzte Depp vor. Schnell holte ich mein Handy raus und tippte 911. Was ich zu

hören bekam, war noch nicht mal ein Besetztzeichen -- es klang eher wie das schmerzvolle Wimmern

des Telefonnetzes. Solche Sachen hört man nur, wenn drei Millionen Leute alle auf einmal dieselbe

Nummer wählen. Wer braucht schon Botnetze, wenn es Terroristen gibt?

„Wikipedia vielleicht?“, schlug Jolu vor.

„Kein Netz, keine Daten“, entgegnete ich.

„Und die da?“, fragte Darryl und zeigte die Straße entlang. Ich folgte seiner Geste und erwartete einen

Polizisten oder Sanitäter zu sehen, aber da war niemand.

„Ist alles gut, Kumpel, bleib mal liegen“, sagte ich.

„Nein, du Idiot, die da, die Bullen in den Wagen. Da!“ Er hatte Recht. Alle paar Sekunden sauste ein

Streifenwagen, eine Ambulanz oder ein Feuerwehrwagen vorbei. Die würden uns helfen können. Ich

war echt ein Idiot.

„Also gut“, sagte ich, „wir bringen dich irgendwo hin, wo sie dich sehen, und halten einen an.“

Vanessa war skeptisch, aber ich nahm an, an einem Tag wie diesem würde kein

Bulle stehenbleiben,

bloß weil ein junger Kerl auf der Straße den Hut schwenkte. Aber vielleicht würden sie anhalten,

wenn sie sahen, wie Darryl blutete. Wir zankten uns kurz, was Darryl unterbrach, indem er mühsam

aufstand und sich Richtung Market Street schleppte.

Das erste Fahrzeug, das vorbeiraste, ein Notarztwagen, wurde nicht mal langsamer. Der

Streifenwagen danach auch nicht, auch nicht das Feuerwehrauto und auch nicht die nächsten drei

Polizeiwagen. Darryl gings nicht gut -- er war kreidebleich und keuchte. Vans Sweater war

blutüberströmt.

Ich hatte die Faxen dick von Autos, die an mir vorbeirasten. Als das nächste Mal ein Fahrzeug in

Market Street auftauchte, stellte ich mich mitten auf die Straße, schwenkte die Arme überm Kopf und

schrie „STOP!“ Der Wagen bremste ab, und da erst erkannte ich, dass es weder ein Polizeiwagen noch

eine Ambulanz oder die Feuerwehr war.

Es war ein militärisch aussehender Jeep, wie ein gepanzerter Hummer, bloß ohne jegliche

Militärabzeichen drauf. Die Kiste kam unmittelbar vor mir zum Stehen, ich machte einen Satz

rückwärts, verlor das Gleichgewicht und fand mich auf der Straße liegend wieder. Ich spürte, wie

neben mir Türen aufschwangen, dann sah ich ein Durcheinander von Stiefeln in nächster Nähe. Ich

blickte hoch und starrte auf eine Horde von Typen, die wie Soldaten aussahen, in Overalls steckten,

riesige, fette Gewehre trugen und deren Gesichter hinter Gasmasken mit getönten Gläsern

verschwanden.

Ich hatte kaum Zeit, sie überhaupt wahrzunehmen, als die Knarren schon auf mich gerichtet waren.

Nie zuvor hatte ich in die Mündung eines Gewehrs geblickt, aber alles, was man darüber hört, ist

wahr. Du gefrierst an Ort und Stelle, die Zeit bleibt stehen und dein Herz donnert in deinen Ohren. Ich

öffnete meinen Mund, schloss ihn wieder, und dann nahm ich, sehr langsam, meine Hände nach oben.

Der gesichts- und augenlose Mann über mir zielte mit seinem Gewehr genau auf mich. Ich wagte

nicht zu atmen. Van schrie etwas, und Jolu brüllte; ich schaute einen Augenblick lang zu ihnen rüber,

und im selben Moment stülpte jemand einen rauen Sack über meinen Kopf und zog ihn um die Kehle

herum dicht -- so schnell und rabiat, dass ich kaum eben Luft holen konnte, als er schon um mich rum

geschlossen war. Dann schubste man mich grob, aber teilnahmslos auf den Bauch, und irgendwas

wurde zweimal um meine Handgelenke gewickelt und festgezogen -- es fühlte sich an wie Draht und

schnitt höllisch ein. Ich schrie auf, aber meine Stimme wurde von der Kapuze gedämpft.

Nun war ich von absoluter Dunkelheit umgeben, und ich bemühte mich, zumindest zu hören, was mit

meinen Freunden geschah. Durch den geräuschdämpfenden Stoff des Sacks konnte ich sie rufen

hören, dann wurde ich ohne viele Umstände an den Handgelenken emporgerissen -- ein stechender

Schmerz durchzuckte meine Schultern, als die Arme hinterm Rücken hochgebogen wurden.

Ich stolperte, dann drückte eine Hand meinen Kopf nach unten, und ich war im Hummer drin. Andere

Körper wurden grob neben mich geschubst.

„Leute“, rief ich und kassierte dafür einen heftigen Hieb auf den Kopf. Ich hörte Jolu antworten, dann

spürte ich, wie er ebenfalls einen Schlag abbekam. In meinem Kopf pulsierte es wie ein Gong.

„He“, sagte ich zu den Soldaten, „hören Sie zu! Wir sind doch bloß Schüler. Ich hab Sie anhalten

wollen, weil mein Freund blutet. Jemand hat ihn mit nem Messer verletzt.“ Ich hatte keine Ahnung,

wie viel davon durch den dicken Sack durchdrang. Trotzdem redete ich weiter.

„Hören Sie doch -- das

muss ein Missverständnis sein. Wir müssen meinen Freund ins Krankenhaus bringen ...“

Wieder hieb mir jemand was auf den Schädel. Fühlte sich an wie ein Gummiknüppel -- so hart war ich

noch nie am Kopf getroffen worden. Mir schossen Tränen in die Augen, und vor Schmerz blieb mir

die Luft weg. Einen Moment später bekam ich wieder Luft, aber ich sagte nichts mehr. Ich hatte

meine Lektion gelernt.

Wer waren diese Clowns? Abzeichen hatten sie keine. Vielleicht waren es Terroristen! Bisher hatte ich

nicht so recht an Terroristen geglaubt -- okay, es gab sie wohl irgendwo auf der Welt, aber für mich

waren die keine echte Bedrohung gewesen. Die Welt kannte Abermillionen Möglichkeiten, mich

umzubringen -- angefangen bei einem besoffenen Raser, der mich auf der Valencia überfahren könnte

--, die alle sehr viel direkter und wahrscheinlicher waren als Terroristen.

Terroristen brachten weniger

Leute um als Ausrutscher im Badezimmer oder versehentliche Stromschläge.

Mir über Terroristen

Sorgen zu machen war mir immer ähnlich sinnvoll vorgekommen, wie Angst vor einem Blitzschlag

zu haben.

Doch auf der Rückbank des Hummer, Kapuze überm Kopf, Hände hinterm Rücken gefesselt, vor- und

zurücktaumelnd, während die Beulen am Kopf anschwollen, fühlte sich Terrorismus plötzlich sehr

viel gefährlicher an.

Der Wagen wippelte und neigte sich bergauf. Nach meiner Schätzung waren wir

in Richtung Nob Hill

unterwegs, und der Neigungswinkel ließ vermuten, dass wir eine der steileren Routen nahmen --

eventuell Powell Street.

Jetzt ging es ebenso steil bergab. Wenn meine innere Landkarte mich nicht trog, steuerten wir

Fisherman‘s Wharf an. Von dort könnte man auf einem Boot entkommen. Das passte zu der Terror-Hypothese. Aber warum zum Teufel sollten Terroristen ein paar Schüler kidnappen?

Mit einem Ruck kamen wir an einem Hang zum Halten. Der Motor erstarb, und die Türen öffneten

sich. Jemand zerrte mich an den Armen raus auf die Straße, dann wurde ich stolpernd eine gepflasterte

Straße entlanggeschubst. Nach wenigen Sekunden purzelte ich über eine eiserne Treppe und schlug

mir die Schienbeine auf. Die Hände hinter mir schubsten mich erneut. Vorsichtig stieg ich die Stufen

hoch, unfähig, meine Hände benutzen zu können. Auf der dritten Stufe angekommen, tastete ich nach

der vierten, fand aber keine und fiel fast wieder hin. Doch andere Hände griffen von vorn nach mir,

zogen mich auf einen stählernen Fußboden, zwangen mich in die Knie und schlossen meine Hände an

irgend etwas hinter meinem Rücken an.

Mehr Bewegung, dann das Gefühl, wie Körper einer nach dem anderen neben

mir angebunden

wurden. Stöhnen, unterdrückte Geräusche. Gelächter. Dann eine lange, zeitlose Ewigkeit in

gedämpftem, trübem Halbdunkel, meinen eigenen Atem atmen, die Geräusche meines eigenen Atems

im Ohr.

Irgendwie schaffte ichs sogar, hier zu schlafen, auf Knien, Beine nicht anständig durchblutet, den

Kopf im Zwielicht des Sackstoffs. Mein Körper hatte eine Jahresration Adrenalin binnen 30 Minuten

ausgeschüttet; und der Stoff gibt dir zwar kurzfristig die Kraft, Autos über geliebten Menschen

hochzustemmen oder über hohe Gebäude zu springen, aber die Nachwirkungen sind immer biestig.

Ich erwachte, als jemand die Kapuze von meinem Kopf wegzog. Sie machten es weder grob noch

vorsichtig, einfach nur ... unpersönlich. Wie jemand bei McDonald‘s, der einen Hamburger zubereitet.

Das Licht im Raum war so grell, dass ich die Augen zukneifen musste; aber nach und nach öffnete ich

sie zu Schlitzen, zu Spalten, dann komplett und schaute mich um.

Wir alle befanden uns im Auflieger eines LKWs, einem großen Achtachser. Ich konnte die Radkästen

in regelmäßigen Abständen über die gesamte Länge erkennen. Der Auflieger war zu einer Art mobiler

Kommandozentrale mit Gefängnis umfunktioniert. Entlang der Wände standen Stahltische, darüber

schicke Flachbildschirme an Schwenkarmen, mit denen die Benutzer die Schirme im Halbkreis um

sich herum anordnen konnten. Vor jedem Tisch stand ein Wahnsinns-Bürostuhl mit genug Reglern,

um jeden Millimeter der Sitzfläche einzeln zu verstellen, Höhe und Neigung in jeder Achse sowieso.

Dann war da noch der Gefängnisbereich -- vorn im Truck, möglichst weit weg von den Türen, waren

Stahlschienen an den Wänden befestigt, und an diese Schienen hatte man die Gefangenen angekettet.

Van und Jolu entdeckte ich sofort. Mag sein, dass Darryl sich unter dem übrigen Dutzend dort hinten

befand, aber das war nicht zu erkennen -- einige von ihnen lagen übereinander und versperrten mir die

Sicht. Es stank nach Schweiß und nach Angst hier hinten.

Vanessa blickte mich an und biss sich auf die Lippe. Sie hatte Angst. Ich auch.

Und Jolu auch, der

seine Augen wie wild verdrehte, dass man ständig das Weiße sah. Ich hatte Angst. Und außerdem

musste ich pissen wie ein Rennpferd.

Ich schaute mich nach unseren Kidnappern um. Bislang hatte ich es vermieden, sie anzuschauen, ganz

so, wie man es vermeidet, in einen dunklen Schrank zu schauen, wenn man sich grade ausgedacht hat,

dass da drin ein Monster lauert. Dann will man einfach nicht wissen, ob man Recht hat.

Aber ich musste mir diese Kerle, die uns gekidnappt hatten, jetzt mal genauer anschauen. Wenn es

Terroristen waren, wollte ich das wissen. Ich wusste allerdings nicht, wie Terroristen aussahen,

obwohl Fernseh-Shows sich alle Mühe gegeben hatten, mir beizupulen, dass es braune Araber mit

dichten Bärten, Strickmützen und schlabbrigen Baumwollkutten bis runter zu den Knöcheln waren.

Unsere Kidnapper sahen nicht so aus. Die hätten ebenso gut Cheerleader in der Halbzeitpausen-Show

beim Super Bowl sein können. Sie sahen auf eine Art amerikanisch aus, die ich nicht recht

beschreiben konnte. Ausgeprägte Kiefer, kurze, ordentliche Haarschnitte, aber nicht wirklich

militärisch. Es waren Weiße und Farbige dabei, Männer und Frauen, und sie lächelten sich

unbeschwert an, wie sie da am anderen Ende des Lasters zusammensaßen, witzelten und Kaffee aus

Pappbechern tranken. Ne, das waren keine Fundis aus Afghanistan: Sie sahen aus wie Touris aus

Nebraska.

Ich fixierte die eine, eine junge Brünette, kaum älter als ich und auf so eine abweisende Business-Art

irgendwie süß. Wenn du jemanden lange genug anstarrst, guckt er dich irgendwann auch an. Sie auch;

und sofort nahm ihr Gesicht einen völlig anderen Ausdruck an: leidenschaftslos, wie eine Maschine.

Das Lächeln war wie ausgeknipst.

„Hey“, sagte ich, „wissen sie, ich kapier nicht, was hier abgeht, aber ich muss mal pinkeln, ja?“

Sie guckte durch mich durch, als hätte sie kein Wort gehört.

„Echt jetzt, wenn ich nicht bald ein Klo finde, gibts hier einen bösen Unfall.

Dann wird’s hier hinten

ziemlich übel riechen, okay?“

Sie drehte sich zu ihren Kollegen um, sie steckten die Köpfe zusammen und tuschelten miteinander,

so leise, dass es über die Lüfter der Computer nicht zu verstehen war.

Dann wandte sie sich wieder zu mir um. „Halt mal noch zehn Minuten an, dann dürft ihr alle mal

austreten.“

„Ich glaub nicht, dass ichs noch zehn Minuten halten kann“, sagte ich und legte etwas mehr

Dringlichkeit in meine Stimme, als ich tatsächlich empfand. „Ehrlich, gute Frau, jetzt oder nie.“

Sie schüttelte den Kopf und guckte mich an, als wär ich der totale Versager. Sie und ihre Freunde

berieten sich noch mal, dann kam ein anderer auf mich zu. Er war älter, vielleicht Anfang Dreißig,

und mächtig breit in den Schultern wie ein Bodybuilder. Er sah wie ein Chinese oder Koreaner aus --

nicht mal Van kann das immer unterscheiden --, aber mit einer Haltung, die

„Amerikaner“ ausdrückte,

ohne dass ich das genauer hätte beschreiben können.

Er schob seine Sportjacke nach hinten und ließ mich nen Blick auf seine Hardware am Gürtel werfen.

Ich erkannte eine Pistole, einen Elektroschocker und eine Dose mit Tränengas oder Pfefferspray,

bevor er die Jacke wieder drüberfallen ließ.

„Keinen Ärger“, sagte er.

„Kein Stück“, stimmte ich ihm zu.

Er berührte irgendwas an seinem Gürtel, die Fesseln hinter mir gaben nach, und meine Arme fielen

plötzlich zur Seite. Mann, der Typ schien Batmans Gimmickgürtel zu tragen: Funkfernsteuerung für

Fesseln! War aber auch logisch irgendwie: Mit all dem tödlichen Geraffel am Gürtel würde man sich

ja nicht über seine Gefangenen beugen wollen -- die waren im Stande, sich die Wumme mit den

Zähnen zu schnappen und mit der Zunge den Abzug zu ziehen oder so.

Meine Hände waren immer noch mit so Plastikhandschellen hinter meinem Rücken

zusammengebunden, und als ich jetzt nicht mehr von den Fesseln gehalten wurde, stellte ich fest, dass

sich meine Beine durch das lange Kauern in einer Position in Korkklumpen verwandelt hatten. Kurzer

Sinn: Ich knallte nach vorn aufs Gesicht und zappelte mit den Beinen, die kribbelten wie bescheuert,

um sie unter meinen Körper zu bekommen und mich auf die Füße stemmen zu können.

Der Typ riss mich auf die Füße, und ich wackelte ganz ans Ende des Trucks zu einer kleinen

Klokabine. Auf dem Weg versuchte ich Darryl zu entdecken, aber es hätte jeder von den fünf, sechs

hingesackten Leuten sein können. Oder keiner.

„Rein da“, sagte der Typ.

Ich zog an meinen Handgelenken. „Könnten Sie die abnehmen, bitte?“ Meine Finger fühlten sich

nach Stunden der Fesselung an wie lila Würste.

Der Typ rührte sich nicht.

„Schaun sie mal“, sagte ich und bemühte mich, weder sarkastisch noch wütend zu klingen (was nicht

leicht war). „Schaun Sie, Sie müssen entweder meine Hände losschneiden, oder Sie zielen für mich.

Ein Toilettenbesuch ist nichts, was sich freihändig bewältigen ließe.“

Irgendjemand im Truck kicherte.

Der Typ mochte mich nicht, das konnte ich daran sehen, wie seine Kiefermuskeln arbeiteten. Mann,

diese Leute waren verdammt hart.

Er griff zum Gürtel und brachte ein sehr cooles Multiwerkzeug zum Vorschein.

Dann klappte er ein

fies aussehendes Messer aus, schnitt die Plastik-Handschellen durch, und meine Hände gehörten

wieder mir.

„Danke“, sagte ich.

Er schubste mich in die Kabine. Meine Hände konnte ich nicht gebrauchen, die fühlten sich an wie

Lehmklumpen an den Handgelenken. Als ich die schlaffen Finger ein bisschen bewegte, kribbelten

sie; dann wurde das Kribbeln zu einem Brennen, dass ich fast anfing zu weinen.

Ich klappte den Sitz

runter, zog die Hose runter und setzte mich hin. Ich hätte nicht drauf gewettet, stehen bleiben zu

können.

Als sich meine Blase erleichterte, tatens meine Augen ihr gleich. Ich weinte.

Still heulte ich vor mich

hin und kippelte auf dem Klositz, während mir Tränen und Rotz die Wangen runterliefen. Das einzige,

was mir blieb, war lautes Schluchzen zu unterdrücken -- ich hielt mir die Hand vor den Mund und ließ

keinen Ton raus. Diese Genugtuung wollte ich ihnen nicht gönnen.

Irgendwann war ich mit Pinkeln und Heulen fertig, und der Typ hämmerte gegen die Tür. Mit

Bündeln von Klopapier säuberte ich mein Gesicht, so gut es eben ging, stopfte alles ins Klo und

spülte; dann suchte ich ein Waschbecken, fand aber bloß eine Pumpflasche mit starker

Desinfektionslösung, auf der in kleiner Schrift eine Liste biologischer Wirkstoffe zu lesen war. Ich

rieb ein bisschen was in die Hände ein und verließ die Klokabine.

„Was hast du da drin gemacht?“, wollte der Typ wissen.

„Die sanitären Anlagen benutzt“, entgegnete ich. Er drehte mich um, griff meine Hände, und ich

fühlte, wie ein neues Paar Plastikschellen sich darum schlossen. Seit er die anderen abgeschnitten

hatte, waren meine Handgelenke angeschwollen, und die neuen schnitten brutal in die empfindliche

Haut, aber ich weigerte mich, ihnen die Befriedigung zu verschaffen, mich schreien zu hören.

Er fesselte mich wieder an meinen Platz und schnappte sich meinen Nebenmann

-- Jolu, wie ich jetzt

erst sah, das Gesicht verschwollen und eine hässliche Schramme auf der Wange.

„Bist du OK?“, fragte ich ihn, woraufhin mein Freund mit dem Gimmickgürtel mir die Hand auf die

Stirn legte und einmal kurz, aber heftig drückte. Mein Hinterkopf donnerte gegen die Metallwand des

Trucks, als ob die Uhr eins schlug. „Reden verboten“, sagte er, während ich mühsam meinen

verschwommenen Blick wieder fokussierte.

Ich mochte diese Leute nicht. Genau in diesem Moment wusste ich, dass sie all das würden bezahlen

müssen.

Einer nach dem anderen durften die Gefangenen aufs Klo, kamen zurück, und als alle fertig waren,

ging mein Bewacher zu seinen Freunden zurück, trank noch einen Kaffee -- ich konnte sehen, dass sie

aus einer großen Papp-Kanne von Starbucks tranken --, und sie unterhielten sich undeutlich, aber mit

viel Gelächter.

Dann öffnete sich die Tür hinten im Truck, und frische Luft strömte herein, nicht rauchverhangen wie

zuvor, sondern von Ozon durchzogen. Wie ich durch den Türspalt erkennen konnte, bevor die Tür

sich wieder schloss, war es dunkel und regnerisch draußen, die San-Francisco-Sorte Regen, die

zugleich Nebel ist.

Der Mann, der hereinkam, trug eine Militäruniform. Eine US-Militäruniform. Er grüßte die Leute im

Truck, und sie grüßten zurück; und da wusste ich: Ich war kein Gefangener irgendwelcher Terroristen

-- ich war ein Gefangener der Vereinigten Staaten von Amerika.

Sie stellten eine kleine Sichtblende hinten im Truck auf und machten uns dann einzeln los und führten

uns dorthin. Nach meinen Schätzungen -- im Kopf Sekunden zählen, einundzwanzig, zweiundzwanzig

-- dauerte jede Befragung rund sieben Minuten. Mein Schädel brummte vor Flüssigkeitsmangel und

Koffeinentzug.

Ich kam als Dritter dran, die Frau mit dem strengen Haarschnitt brachte mich hin. Aus der Nähe sah

sie müde aus, mit Ringen unter den Augen und tiefen Linien um die

Mundwinkel.

„Danke“, sagte ich automatisch, als sie mich mit einer Fernbedienung losmachte und auf die Füße

zog. Ich hasste mich selbst für die unwillkürliche Höflichkeit, aber so war ich nun mal gedrillt

worden.

Sie verzog keine Miene. Ich ging vor ihr her zum anderen Ende des Trucks und hinter die

Sichtblende. Ein einzelner Klappstuhl war für mich; zwei von ihnen, Frau Strenger Haarschnitt und

Herr Gimmickgürtel, blickten mich von ihren ergonomischen Superstühlen herab an.

Zwischen ihnen stand ein Tischchen, auf dem sie den Inhalt meiner Brieftasche und meines

Rucksacks ausgebreitet hatten.

„Hallo, Marcus“, sagte Frau Strenger Haarschnitt. „Wir müssen dir einige Fragen stellen.“

„Bin ich verhaftet?“, wollte ich wissen. Das war keine sinnlose Frage. Wenn du nicht verhaftet bist,

dann gibt es Beschränkungen, was die Bullen mit dir machen können und was nicht. Zunächst mal

können sie dich nicht unendlich lange festhalten, ohne dich festzunehmen, dir ein Telefonat zu

erlauben oder dich mit nem Anwalt sprechen zu lassen. Und ein Anwalt, Mann, mit dem würde ich als

allererstes sprechen.

„Was soll das hier?“, fragte sie und hielt mein Handy hoch. Auf dem Monitor war die Fehlermeldung

zu sehen, die erschien, wenn man versuchte, an die Daten zu kommen, ohne das richtige Passwort

einzugeben. Es war eine etwas derbe Botschaft -- eine animierte Hand, die eine allgemein bekannte

Geste formte --, denn ich liebte es, meine Geräte zu individualisieren.

„Bin ich verhaftet?“, wiederholte ich. Wenn du nicht verhaftet bist, können sie dich auch nicht dazu

zwingen, Fragen zu beantworten, und wenn du fragst, ob du verhaftet bist, müssen sie dir antworten.

So ist die Regel.

„Du bist im Gewahrsam des Ministeriums für Heimatschutz“, blaffte die Frau.

„Bin ich verhaftet?“

„Vor allem bist du kooperativer als bisher, Marcus, und zwar ab sofort.“ Sie sagte nicht „sonst“, aber

das klang mit.

„Ich möchte einen Anwalt sprechen“, sagte ich. „Ich möchte wissen, was man mir vorwirft. Und ich

möchte, dass Sie beide sich irgendwie ausweisen.“

Die beiden Agenten wechselten Blicke.

„Ich glaube, du solltest deine Haltung in dieser Lage noch mal überdenken“, sagte Frau Strenger

Haarschnitt. „Und ich glaube, das solltest du auf der Stelle tun. Wir haben eine Reihe verdächtiger

Gegenstände bei dir gefunden. Wir haben dich und deine Komplizen in der Nähe des Tatorts des

schwersten Terroranschlags vorgefunden, den dieses Land jemals erlebt hat.

Bring die beiden Fakten

in Verbindung, und für dich siehts nicht gut aus, Marcus. Du kannst kooperieren, oder es wird dir sehr,

sehr Leid tun. Und jetzt?“

„Sie denken, ich bin ein Terrorist? Ich bin Siebzehn!“

„Genau das richtige Alter -- Al Kaida rekrutiert am liebsten idealistische Kids, die sich noch

beeindrucken lassen. Wir haben dich mal gegoogelt, weißt du? Du hast eine Menge hässliches Zeug

im öffentlichen Internet gepostet.“

„Ich möchte einen Anwalt sprechen“, sagte ich.

Frau Strenger Haarschnitt sah mich an, als sei ich ein Käfer. „Du liegst völlig falsch mit der Annahme,

dass die Polizei dich wegen eines Verbrechens geschnappt hat. Schlag dir das aus dem Kopf. Du

befindest dich als möglicher feindlicher Kämpfer im Gewahrsam der Regierung der Vereinigten

Staaten. An deiner Stelle würde ich sehr genau drüber nachdenken, wie du uns davon überzeugen

kannst, kein feindlicher Kämpfer zu sein. Sehr genau. Denn weißt du, es gibt da dunkle Löcher, in

denen feindliche Kämpfer verschwinden können, sehr tiefe dunkle Löcher, in denen man einfach

verschwinden kann. Für immer. Hörst du mir gut zu, junger Mann? Ich möchte, dass du dein Telefon

entsperrst und die Daten im Speicher dechiffrierst. Ich möchte, dass du Rechenschaft darüber ablegst,

warum du auf der Straße warst. Was weißt du über den Anschlag auf diese Stadt?“

„Ich werde mein Telefon nicht für Sie entsperren“, sagte ich zornig. Im Speicher meines Handys hatte

ich alles Mögliche an privatem Krams: Fotos, Mails, kleine Hacks und Cracks, die ich installiert hatte.

„Das sind meine Privatsachen.“

„Was hast du zu verbergen?“

„Ich habe ein Recht auf Privatsphäre“, sagte ich. „Und ich möchte einen Anwalt sprechen.“

„Das ist deine letzte Chance, Kleiner. Ehrliche Leute haben nichts zu verbergen.“

„Ich möchte einen Anwalt sprechen.“ Meine Eltern würden dafür aufkommen.

Sämtliche FAQs übers

Verhaftetwerden waren in dem Punkt eindeutig: Einfach nur einen Anwalt fordern, egal was sie sagen.

Wenn du mit den Bullen sprichst, ohne dass dein Anwalt dabei ist, kommt nichts Gutes bei raus. Diese

beiden hier sagten, sie seien keine Bullen. Aber wenn dies keine Verhaftung war, was war es dann?

Im Nachhinein betrachtet wäre es vielleicht doch gut gewesen, mein Telefon für sie zu entsperren.

Kapitel 4

Dieses Kapitel ist Barnes and Noble gewidmet, einer US-Kette von Buchläden.

Während Amerikas Mami-und-Papi-

Buchhandlungen verschwanden, begann Barnes and Noble überall im Land diese gigantischen Lesetempel hochzuziehen.

Mit einem Lager von Zehntausenden Titeln (Buchgeschäfte in den Einkaufszentren und Bücherabteilungen in

Supermärkten hatten stets nur einen Bruchteil davon vorrätig) und ausgedehnten Öffnungszeiten, die gleichermaßen für

Familien, Angestellte und andere potenzielle Lesergruppen attraktiv waren, stützten die B&N-Läden die Karrieren

zahlreicher Schriftsteller, indem sie auch Titel vorrätig hatten, die kleinere Shops mit ihrer begrenzten Regalfläche nicht

parat haben konnten. B&N machte immer schon starke Promotion innerhalb der Szene, und einige meiner bestbesuchten,

bestorganisierten Signierstunden fanden in B&N-Filialen statt, darunter die großartigen Events im (leider nicht mehr

existenten) B&N in New Yorks Union Square, wo das Mega-Signieren nach den Nebula Awards stattfand, und im B&N in

Chicago, das Gastgeber des Events nach den Nebs einige Jahre später war. Aber am besten ist, dass B&Ns geekige

Einkäufer genau Bescheid wissen, wenn‘s um Science Fiction, Comics und Mangas, Spiele und derlei Dinge geht. Sie sind mit Leidenschaft und Sachkenntnis bei der Sache, wie die exzellente Auswahl in den einzelnen Laden-Regalen beweist.

Barnes and Noble, USA-weit: http://search.barnesandnoble.com/LittleBrother/Cory-Doctorow/e/9780765319852/?itm=6

ie fesselten mich erneut und stülpten mir wieder einen Sack über, dann ließen sie mich allein.

Eine ganze Weile später setzte der Truck sich in Bewegung, bergab, und dann wurde ich wieder

auf meine Füße gezerrt. Ich fiel sofort wieder um. Meine Beine waren so eingeschlafen, dass sie sich

wie Eisklötze anfühlten, ausgenommen meine Knie, die angeschwollen und wund waren nach all den

Stunden im Knien.

S

Hände griffen nach meinen Schultern und Füßen, und ich wurde hochgehoben wie ein Sack

Kartoffeln. Undeutliche Stimmen waren rings umher zu hören. Jemand weinte.

Jemand fluchte.

Ich wurde eine kurze Strecke weit getragen, dann wieder runtergelassen und an eine andere Strebe

gefesselt. Meine Knie trugen mich nun nicht mehr, und ich kippte nach vorn, um verknotet wie eine

Brezel liegenzubleiben, die Handgelenke schmerzend vom Ziehen an den Ketten.

Dann setzten wir uns wieder in Bewegung, und dieses Mal fühlte es sich nicht nach LKW-Fahren an.

Der Boden unter mir schwankte sanft und vibrierte vom Stampfen schwerer Diesel, und ich erkannte,

dass ich auf einem Schiff war. Mein Magen wurde zum Eisklumpen. Ich wurde von amerikanischem

Territorium irgendwo anders hin verschifft, und wer zum Teufel konnte wissen, wo das war? Angst

hatte ich vorher schon gehabt, aber dieser Gedanke war entsetzlich, er lähmte mich und machte mich

sprachlos vor Furcht. Ich begriff, dass ich möglicherweise meine Eltern nie wieder sehen würde, und

spürte Übelkeit in meiner Kehle emporsteigen. Die Tüte über meinem Kopf schien noch enger zu

werden, und ich konnte kaum mehr atmen, was durch die bizarre Haltung, in der ich lag, noch

verstärkt wurde.

Glücklicherweise waren wir nicht allzu lang auf dem Wasser. Gefühlsmäßig wars etwa eine Stunde,

doch heute weiß ich, dass es bloß 15 Minuten waren; dann spürte ich, wie wir andockten, spürte

Schritte auf dem Deck um mich her und spürte, wie andere Gefangene losgebunden und weggetragen

oder -geführt wurden. Als sie mich holen kamen, versuchte ich wieder aufzustehen, doch es gelang

nicht, und sie trugen mich wieder, unpersönlich und grob.

Als sie die Kappe wieder entfernten, war ich in einer Zelle.

Die Zelle war alt und verwittert, und sie roch nach Seeluft. Es gab ein Fenster hoch oben, mit

verrosteten Gitterstäben davor. Draußen wars immer noch dunkel. Auf dem Boden lag eine Decke,

und eine kleine Metalltoilette ohne Sitz war in die Wand eingelassen. Der

Wärter, der meine Kapuze

abgenommen hatte, grinste mich an und schloss die schwere Eisentür hinter sich.

Vorsichtig massierte ich meine Beine und zog die Luft ein, als wieder Blut durch Beine und Hände zu

strömen begann. Irgendwann konnte ich aufstehen, dann ein paar Schritte gehen.

Ich hörte andere

Leute reden, weinen, rufen. Ich rief ebenfalls: „Jolu! Darryl! Vanessa!“ Andere Stimmen im

Zellenblock griffen die Rufe auf, riefen ebenfalls Namen, brüllten Obszönitäten.

Die Stimmen in der

Nähe klangen wie Besoffene, die an der Straßenecke delirierten. Vielleicht klang ich ja auch so.

Wärter brüllten uns zu, wir sollten leise sein, und das machte jeden von uns bloß noch lauter. Bald

waren wir alle am Heulen, brüllten uns die Seele aus dem Leib, brüllten, bis die Kehle schmerzte.

Warum auch nicht? Was hatten wir noch zu verlieren?

Als sie mich das nächste Mal zum Verhör holten, war ich verdreckt und müde, durstig und hungrig.

Frau Strenger Haarschnitt gehörte auch zur neuen Fragerunde, dazu kamen drei große Typen, die

mich rumschubsten wie ein Stück Fleisch. Einer war schwarz, die anderen beiden weiß, einer von

ihnen könnte aber auch ein Hispanic gewesen sein. Alle trugen sie Waffen. Ich kam mir vor wie in

einer Mischung aus Benetton-Werbung und einer Runde Counter-Strike.

Sie hatten mich aus der Zelle geholt und meine Handgelenke und Knöchel zusammengekettet.

Während wir gingen, achtete ich auf meine Umgebung. Ich hörte Wasser draußen und dachte, dass wir

vielleicht auf Alcatraz waren -- immerhin war das ein Gefängnis, wenn es auch schon seit Jahrzehnten

als Touristenmagnet diente: hierher kam man, um zu sehen, wo Al Capone und seine Gangster-Zeitgenossen ihre Zeit abgesessen hatten. Aber nach Alcatraz war ich mal auf einem Schulausflug

gekommen. Das war alt und rostig, irgendwie mittelalterlich. Dies hier fühlte sich mehr nach Zweitem

Weltkrieg an, nicht nach der Kolonialzeit.

An den Zellentüren gabs Aufkleber mit aufgedruckten Barcodes, auch Nummern, aber sonst keinen

Hinweis darauf, wer oder was sich jeweils hinter der Tür befinden mochte.

Der Befragungsraum war modern, mit Neonröhren, ergonomischen Stühlen (aber nicht für mich, ich

kriegte einen Garten-Faltstuhl aus Plastik) und einen großen Konferenztisch aus Holz. Ein Spiegel

bedeckte eine Wand, wie in den Polizei-Sendungen, und ich schätzte, der eine oder andere würde

wohl von der anderen Seite zuschauen. Frau Strenger Haarschnitt und ihre Freunde versorgten sich

mit Kaffee aus einer Kanne auf nem Beistelltisch (in dem Moment hätte ich ihr die Kehle mit den

Zähnen aufschlitzen können, nur um an ihren Kaffee zu kommen), und dann stellte sie eine

Plastiktasse mit Wasser vor mich -- ohne meine Hände hinterm Rücken loszubinden, so dass ich nicht

drankam. Sehr komisch.

„Hallo, Marcus“, sagte Frau Strenger Haarschnitt. „Wie stehts heute um deine Einstellung?“ Ich sagte

kein Wort.

„Weißt du, das hier ist nicht das Schlimmste“, fuhr sie fort. „Besser wirds ab jetzt nie mehr für dich.

Selbst wenn du uns jetzt noch sagen solltest, was wir wissen wollen, und selbst wenn uns das davon

überzeugt, dass du bloß zur falschen Zeit am falschen Ort warst -- jetzt haben wir dich auf dem Radar.

Wohin du auch gehst, was immer du tust, wir werden dir dabei zuschauen. Du hast dich benommen,

als habest du was zu verbergen. Und so was mögen wir gar nicht.“

So kitschig es klingt: Alles, woran mein Gehirn denken konnte, war dieser Satz

„wenn uns das

überzeugt, dass du bloß zur falschen Zeit am falschen Ort warst“. Das war das Schlimmste, was mir

jemals passiert war. Niemals zuvor hatte ich mich so erbärmlich und ängstlich gefühlt. Diese Wörter,

„zur falschen Zeit am falschen Ort“, diese sechs Wörter, sie waren wie ein Rettungsring vor mir,

während ich strampelte, um den Kopf über Wasser zu halten.

„Hallo, Marcus?“ Sie schnipste mit den Fingern vor meiner Nase. „Hierher, Marcus.“ Ein kleines

Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht, und ich hasste mich dafür, ihr meine Angst gezeigt zu haben.

„Marcus, es kann noch viel schlimmer werden als jetzt. Dies ist längst nicht der übelste Ort, an den

wir dich bringen können, ganz gewiss nicht.“ Sie griff unter den Tisch und holte eine Aktentasche

hervor, die sie aufklappte. Heraus zog sie mein Handy, den RFID-Killer/Kloner, meinen WLANFinder

und meine Speichersticks. Eins nach dem anderen legte sie auf den Tisch.

„Hör zu, was wir von dir erwarten. Heute entsperrst du dein Telefon für uns.

Damit verdienst du dir

Frischluft- und Badeprivilegien. Du wirst duschen dürfen und im Innenhof ein paar Schritte gehen.

Morgen bringen wir dich wieder her, und dann werden wir dich bitten, die Daten auf diesen

Speicherstiften zu dechiffrieren. Wenn du das machst, verdienst du dir ein Essen in der Messe. Noch

einen Tag später werden wir dich nach deinen E-Mail-Passworten fragen, und das wird dir

Bibliotheksprivilegien einbringen.“

Mir lag das Wort Nein auf der Zunge wie ein Rülpser im Entstehen, aber es kam nicht. Statt dessen

kam ein „Warum?“

„Wir müssen sicherstellen, dass du der bist, der du zu sein scheinst. Hier geht es

um deine Sicherheit,

Marcus. Mag sein, du bist unschuldig. Vielleicht bist du wirklich unschuldig, obwohl mir nicht klar

ist, welcher unschuldige Mensch so tut, als ob er so viel zu verbergen hätte. Aber mal angenommen,

du bist unschuldig: Du hättest auf dieser Brücke sein können, als sie in die Luft flog. Deine Eltern

hätten dort sein können. Deine Freunde. Willst du nicht auch, dass wir die Leute fangen, die deine

Heimat angegriffen haben?“

Merkwürdig: Als sie über die „Privilegien“ sprach, die ich mir verdienen könnte, machte mich das so

ängstlich, dass ich hätte nachgeben mögen. Ich fühlte mich grade so, als ob ich irgendwas dazu

beigetragen hätte, hier zu landen, als ob ich teilweise selbst dran schuld wäre, als ob ich irgend etwas

daran ändern könnte.

Aber als sie mit diesem „Sicherheits“-Scheiß anfing, da kam mein Rückgrat zurück. „Hören Sie“,

sagte ich, „Sie sprechen darüber, wie meine Heimat angegriffen wird, aber wie ich es sehe, sind Sie

die einzigen, die mich in letzter Zeit angegriffen haben. Ich dachte, ich lebe in einem Land mit einer

Verfassung. Ich dachte, ich lebe in einem Land, in dem ich Rechte habe. Aber sie reden davon, meine

Freiheit zu verteidigen, indem Sie die Bill of Rights zerreißen.“

Ein Hauch von Verstimmung erschien auf ihrem Gesicht und verschwand wieder. „Wie

melodramatisch, Marcus. Niemand hat dich angegriffen. Die Regierung deines Landes hat dich in

Gewahrsam genommen, während wir den schlimmsten Terroranschlag aufzuklären versuchen, der je

auf unserem Staatsgebiet verübt wurde. Es liegt in deiner Macht, uns bei diesem Krieg gegen die

Feinde unserer Nation zu unterstützen. Du willst die Bill of Rights erhalten?

Dann hilf uns, böse

Menschen daran zu hindern, deine Stadt in die Luft zu sprengen. So, und jetzt hast du genau dreißig

Sekunden Zeit, dieses Telefon zu entsperren, bevor ich dich in deine Zelle zurückbringen lasse. Wir

haben heute schließlich noch eine Menge andere Leute zu befragen.“

Sie blickte auf ihre Uhr. Ich schüttelte meine Handgelenke, schüttelte die Ketten, die mich daran

hinderten, herumzugreifen und das Handy zu entsperren. Ja, ich würde es tun.

Sie hatte mir den Weg

zurück in die Freiheit gezeigt -- zurück zur Welt, zu meinen Eltern --, und ich hatte Hoffnung

geschöpft. Nun hatte sie gedroht, mich fortzuschicken, ab von diesem Weg, und meine Hoffnung war

verflogen und alles, woran ich denken konnte, war, wieder auf diesen Weg zurückzugelangen.

Also schüttelte ich meine Handgelenke, um an mein Handy zu gelangen und es für sie zu entsperren,

und sie saß bloß da, schaute mich kalt an und guckte auf die Uhr.

„Das Passwort“, sagte ich, als ich endlich begriff, was sie von mir wollte. Sie wollte, dass ich es laut

sage, hier, wo sie es aufzeichnen konnte, wo ihre Kumpels es hören konnten. Sie wollte nicht bloß,

dass ich das Handy entsperrte. Sie erwartete von mir, dass ich mich ihr unterwerfe. Dass ich mich

ihrer Verantwortung unterstellte. Dass ich alle Geheimnisse preisgab, meine gesamte Privatsphäre.

„Das Passwort“, sagte ich noch mal, und dann nannte ich ihr das Passwort. Gott steh mir bei, ich hatte

mich ihrem Willen unterworfen.

Sie lächelte ein sprödes Lächeln -- für diese Eiskönigin war das wohl schon wie ne Engtanzfete --, und

die Wachen führten mich weg. Als die Tür zuging, sah ich noch, wie sie sich über mein Handy beugte

und das Kennwort eingab.

Ich wünschte, ich könnte behaupten, auf diese Möglichkeit gefasst gewesen zu sein und ihr ein

Pseudo-Kennwort geliefert zu haben, mit dem sie eine völlig unverfängliche Partition meines Handys

freigeschaltet hätte; aber so paranoid oder clever war ich damals längst nicht.

An diesem Punkt könntet ihr euch fragen, was für finstere Geheimnisse ich wohl auf meinem Handy,

auf den Speichersticks und in meinen E-Mails zu verbergen hatte -- immerhin bin ich bloß ein

Jugendlicher.

Die Wahrheit lautet: Ich hatte alles zu verbergen und nichts zugleich. Handy und Speicherstifte

zusammen würden bloß einiges darüber verraten, mit wem ich befreundet war, was ich von diesen

Freunden dachte und welche albernen Dinge wir erlebt hatten. Man konnte die Mitschnitte unserer

elektronischen Diskussionen nachverfolgen und die elektronischen Ergebnisse, zu denen diese

Diskussionen uns geführt hatten.

Wisst ihr, ich lösch einfach nichts. Wozu auch? Speicherplatz ist billig, und man weiß nie, wann man

auf die Sachen noch mal zurückkommen mag. Vor allem auf die dummen Sachen. Kennt ihr das

Gefühl, wenn man in der U-Bahn sitzt und niemanden zum Quatschen hat, und plötzlich erinnert man

sich an irgendeinen heftigen Streit, an irgendwas Fieses, was man mal gesagt hat? Und normalerweise

ist das doch nie so übel, wie es einem in der Erinnerung vorkommt. Wenn man dann noch mal die

alten Sachen durchgucken kann, hilft das zu merken, dass man doch nicht so ein mieser Typ ist, wie

man dachte. Darryl und ich haben auf diese Weise so viele Streitereien hinter uns gebracht, dass ichs

gar nicht mehr zählen kann.

Und auch das triffts noch nicht. Ich weiß einfach: Mein Handy ist privat; meine

Speichersticks sind

privat. Und zwar dank Kryptografie -- Texte unleserlich zerhacken. Hinter Krypto steckt solide

Mathematik, und jeder hat Zugriff auf dieselbe Krypto, die auch Banken oder die Nationale

Sicherheitsbehörde nutzen. Jeder nutzt ein und dieselbe Sorte Krypto: öffentlich, frei und von

jedermann benutzbar. Deshalb kann man sicher sein, dass es funktioniert.

Es hat echt was Befreiendes zu wissen, dass es eine Ecke in deinem Leben gibt, die deine ist, die

sonst keiner sieht außer dir. Das ist so ähnlich wie nackt sein oder kacken. Jeder ist hin und wieder

nackt, und jeder muss mal aufs Klo. Nichts daran ist beschämend, abseitig oder bizarr. Aber was wäre,

wenn ich verfügen würde, dass ab sofort jeder, der mal eben ein paar Feststoffe entsorgen muss, dazu

in ein Glashäuschen mitten auf dem Times Square gehen muss, und zwar splitterfasernackt?

Selbst wenn an deinem Körper nichts verkehrt oder komisch ist -- und wer von uns kann das schon

behaupten? --, musst du schon ziemlich schräg drauf sein, um die Idee gut zu finden. Die meisten von

uns würden schreiend weglaufen; wir würden anhalten, bis wir platzen.

Es geht nicht darum, etwas Verwerfliches zu tun. Es geht darum, etwas Privates zu tun. Es geht um

dein Leben und dass es dir gehört.

Und das nahmen sie mir jetzt weg, Stück für Stück. Auf dem Weg zurück in die Zelle kam dieses

Gefühl wieder auf, es irgendwie verdient zu haben. Mein ganzes Leben lang hatte ich alle möglichen

Regeln übertreten und war damit meist durchgekommen. Vielleicht wars ja nur gerecht so? Vielleicht

kam jetzt meine Vergangenheit zu mir zurück. Immerhin war ich dort gewesen, wo ich war, weil ich

die Schule geschwänzt hatte.

Ich durfte mich duschen. Ich durfte auf den Hof gehen. Man sah ein Fleckchen Himmel oben, und es

roch nach Bay Area, aber darüber hinaus hatte ich keinen Schimmer, wo man mich festhielt. Keine

anderen Gefangenen waren zu sehen, solange ich mich bewegen durfte, und immer nur im Kreis

rumlaufen wurde mir schnell langweilig. Ich bemühte mich, irgendwelche Geräusche

aufzuschnappen, die mir Aufschlüsse über diesen Ort geben könnten, aber alles, was ich hörte, war

gelegentlicher Fahrzeuglärm, entfernte Unterhaltungen oder mal ein Flugzeug, das in der Nähe

landete.

Sie brachten mich in die Zelle zurück und gaben mir was zu essen: eine halbe Peperoni von Goat Hill

Pizza. Die kannte ich gut, sie saßen oben auf Potrero Hill. Der Karton mit der

vertrauten Gestaltung

und der 415er Telefonnummer erinnerte mich daran, dass ich gestern noch ein freier Mensch in einem

freien Land gewesen war und heute ein Gefangener. Ich machte mir ständig Sorgen um Darryl und

war unruhig wegen meiner anderen Freunde.Vielleicht waren die ja kooperativer gewesen und

freigelassen worden. Vielleicht hatten sies schon meinen Eltern erzählt, und die telefonierten jetzt in

der Weltgeschichte rum.

Vielleicht auch nicht.

Die Zelle war unglaublich leer, so leer wie meine Seele. Ich stellte mir vor, dass die Wand gegenüber

meiner Koje ein Monitor war, dass ich jetzt hacken konnte, dass ich die Zellentür öffnen konnte. Ich

träumte von meiner Werkbank und den Projekten, die da auf mich warteten -- die alten Dosen, die ich

in eine Ghetto-Surroundsound-Anlage verwandeln würde, die Lenkdrachen-Kamera zur

Luftbildfotografie, die ich grade baute, meinen Eigenbau-Laptop.

Ich wollte hier raus. Ich wollte heim zu meinen Freunden, in die Schule, zu meinen Eltern; ich wollte

mein Leben zurückhaben. Ich wollte gehen können, wohin ich wollte, nicht dazu verdonnert sein,

immer nur im Kreis zu laufen.

Als nächstes holten sie sich die Passworte für meine USB-Stifte. Da waren ein

paar interessante

Nachrichten drauf, die ich aus diversen Diskussionsforen runtergeladen hatte, einige Chat-Mitschriften, so Sachen, wo mir Leute mit ihrer Erfahrung ein bisschen bei den Sachen geholfen

hatten, die ich halt so tat. Nichts dabei, was man nicht auch mit Google finden könnte, aber ich nahm

nicht an, dass man mir das als mildernde Umstände anrechnen würde.

An diesem Nachmittag bekam ich wieder Bewegung, und dieses Mal waren auch andere im Hof, als

ich rauskam; vier Typen und zwei Frauen verschiedensten Alters und ethnischer Zugehörigkeit.

Schätze mal, eine Menge Leute taten Dinge, um sich „Privilegien“ zu verdienen.

Sie gaben mir ne halbe Stunde, und ich versuchte, mit dem am normalsten aussehenden Häftling ins

Gespräch zu kommen: einem Schwarzen etwa meines Alters mit kurzem Afroschnitt. Aber als ich

mich vorstellte und die Hand ausstreckte, drehte er bloß die Augen in Richtung der Kameras, die in

den Hofecken angebracht waren, und lief weiter, ohne auch nur eine Miene zu verziehen.

Aber dann, kurz bevor sie meinen Namen ausrufen würden, um mich ins Gebäude zurückzubringen,

öffnete sich die Tür, und heraus kam -- Vanessa! Nie zuvor war ich so froh gewesen, ein vertrautes

Gesicht zu sehen. Sie sah übermüdet, aber nicht verletzt aus, und als sie mich

sah, rief sie meinen

Namen und rannte auf mich zu. Wir fielen einander um den Hals, und ich merkte, wie ich zitterte.

Und sie zitterte ebenfalls.

„Bist du okay?“, fragte sie und betrachtete mich auf Armlänge Abstand.

„Ich bin okay“, entgegnete ich. „Sie sagten, sie würden mich rauslassen, wenn ich ihnen meine

Passwörter gebe.“

„Sie fragen mich dauernd über dich und Darryl aus.“ Über Lautsprecher plärrte uns eine Stimme an,

mit Reden aufzuhören und weiterzulaufen, aber wir ignorierten sie.

„Antworte ihnen“, sagte ich eilig. „Was auch immer sie fragen, gib ihnen Antwort. Vielleicht bringts

dich raus.“

„Wie gehts Darryl und Jolu?“

„Hab sie nicht mehr gesehen.“

Die Tür schwang auf, und vier riesige Wärter stürmten raus. Zwei schnappten mich und zwei Vanessa.

Sie zwangen mich zu Boden und drehten meinen Kopf von Vanessa weg, doch ich konnte hören, wie

man mit ihr das gleiche machte. Plastikhandschnellen schnappten um meine Handgelenke zu, dann

wurde ich auf die Füße gezerrt und in meine Zelle zurückgebracht.

An diesem Abend gab es kein Essen. Am nächsten Morgen gab es kein Frühstück. Niemand kam und

brachte mich zum Befragungsraum, um weitere Geheimnisse aus mir rauszupressen. Die

Plastikhandschellen bleiben dran, meine Schultern brannten, schmerzten, wurden taub, brannten

wieder. In den Händen hatte ich überhaupt kein Gefühl mehr.

Ich musste mal pinkeln. Aber ich konnte die Hose nicht aufmachen. Ich musste richtig, richtig

dringend pissen.

Ich machte mir in die Hose.

Danach kamen sie, um mich zu holen; als die warme Pisse kalt und klamm geworden war und meine

sowieso schon dreckige Jeans an meinen Beinen klebte. Sie holten mich und brachten mich den

langen Gang mit den vielen Türen runter, jede Tür ihr eigener Barcode, jeder Barcode ein Gefangener

wie ich. Sie brachten mich den Gang runter und ins Befragungszimmer, und es war, als käme ich auf

einen anderen Planeten, einen Ort, wo Dinge normal liefen, wo nicht alles nach Urin roch. Ich fühlte

mich so dreckig und beschämt, und all die Gefühle, dass ich vielleicht doch verdient hätte, was mit

mir geschah, kamen wieder hoch.

Frau Strenger Haarschnitt saß bereits. Sie sah perfekt aus: frisiert und nur ein Hauch Make-up. Ich

roch das Zeug, das sie in den Haaren hatte, und sie rümpfte die Nase über mich.

Ich fühlte Scham in

mir aufsteigen.

„Na, du warst ein sehr ungezogener Junge, nicht wahr? Uhh, was bist du nur für ein schmuddeliger

Kerl.“

Ich blickte beschämt zum Tisch. Hochzuschauen ertrug ich nicht. Ich wollte ihr mein E-Mail-Passwort verraten und dann nix wie raus hier.

„Worüber hast du dich mit deiner Freundin im Hof unterhalten?“

Ich lachte kurz in Richtung Tisch. „Ich hab ihr gesagt, sie soll die Fragen beantworten. Dass sie

kooperieren soll.“

„Ach, du gibst hier also die Befehle?“

Das Blut pulsierte in meinen Ohren. „Ach Quatsch“, sagte ich, „wir spielen da dieses Spiel, Harajuku

Fun Madness. Ich bin der Teamchef. Wir sind keine Terroristen, wir sind bloß Schüler. Ich geb ihr

keine Befehle, ich hab ihr bloß gesagt, dass wir ehrlich zu Ihnen sein müssen, damit wir jeden

Verdacht ausräumen können und wieder hier wegkommen.“

Für einen Moment sagte sie nichts.

„Wie gehts Darryl?“, fragte ich.

„Wem?“

„Darryl. Sie haben uns zusammen aufgelesen. Mein Freund. Irgendjemand hat ihm in der Station

Powell Street einen Messerstich verpasst. Deshalb waren wir ja bloß oben. Um Hilfe für ihn zu

holen.“

„Na, dann bin ich sicher, ihm gehts gut“, sagte sie.

Mein Magen verkrampfte sich, fast musste ich würgen. „Sie wissen es nicht? Sie haben ihn nicht

hier?“

„Wen wir hier haben und wen nicht, das besprechen wir ganz sicher nicht mit dir, niemals. Das geht

dich überhaupt nichts an. Marcus, du hast gesehen, was passiert, wenn du nicht mit uns kooperierst.

Und du hast gesehen, was passiert, wenn du unsere Anweisungen missachtest.

Du warst ein bisschen

kooperativ, und damit hast dus bis fast dahin gebracht, dass wir dich wieder freilassen. Wenn du

möchtest, dass diese Möglichkeit Realität wird, dann bleib einfach dabei, meine Fragen zu

beantworten.“

Ich sagte nichts.

„Du lernst. Das ist gut. Jetzt bitte deine E-Mail-Passwörter.“

Ich war drauf vorbereitet. Ich gab ihnen alles: Server-Adresse, Login, Passwort.

Das war eh egal. Auf

meinem Server speicherte ich keine E-Mails. Ich lud sie alle runter und speicherte sie auf dem Laptop

daheim, und der saugte und löschte die Mails auf meinem Server im 60-Sekunden-Takt. Aus meinen

Mails würden sie nichts erfahren --- auf dem Server war nichts mehr, alles nur auf dem Laptop

daheim.

Dann zurück in die Zelle; aber sie machten meine Hände frei, ließen mich duschen und gaben mir

eine orangefarbene Gefängnishose anzuziehen. Die war mir zu groß und hing mir über die Hüften wie

bei einem mexikanischen Gang-Kid in Mission. Hättet ihr gewusst, dass dieser Sackhosen-überm-Arsch-Look genau daher kommt -- aus dem Knast? Und wenn mans nicht als modisches Statement

meint, ist es definitiv weniger cool.

Meine Jeans nahmen sie mit, und ich verbrachte einen weiteren Tag in der Zelle.

Die Wände

bestanden aus Zement, der über ein Stahlgitter gespachtelt war. Das konnte man daran sehen, dass das

Gitter rot-orange durch die grüne Wandfarbe schimmerte, weil der Stahl in der Salzluft rostete.

Irgendwo hinter diesem Fenster waren meine Eltern.

Am nächsten Tag holten sie mich wieder.

„Wir haben deine Mails jetzt einen Tag lang gelesen. Und wir haben das Passwort geändert, damit

dein Computer daheim sie nicht mehr holen kann.“

Na klar hatten sie. Hätte ich auch so gemacht, wenn ichs mir recht überlegte.

„Wir haben jetzt genug gegen dich in der Hand, um dich für lange Zeit wegzusperren, Marcus. Dass

du diese Gegenstände besitzt“ -- sie wies auf all meine kleinen Spielzeuge --,

„die Daten, die wir auf

deinem Telefon und den Speicherstiften sichergestellt haben, und dann all das subversive Material,

das wir zweifellos finden würden, wenn wir deine Wohnung durchsuchen und den Computer

mitnehmen würden -- das alles reicht, um dich wegzusperren, bis du ein alter Mann bist. Hast du das

begriffen?“

Ich glaubte ihr kein Wort. Kein Richter dieser Welt würde in all dem Zeug irgendein Verbrechen

sehen. Freie Meinungsäußerung, technische Spielereien -- aber kein Verbrechen.

Aber wer sagte denn, dass diese Typen mich vor einen Richter bringen würden?

„Wir wissen, wo du

wohnst, und wir wissen, wer deine Freunde sind. Wir wissen, wie du handelst und wie du denkst.“

Langsam wurde mir was klar: Sie würden mich rauslassen. Der Raum schien heller zu werden. Ich

hörte mich atmen, kurze, flache Atemzüge.

„Da ist nur eine Sache, die wir noch wissen wollen: Wie sind die Bomben auf der Brücke dahin

gekommen, wo sie gezündet wurden?“

Ich hörte auf zu atmen. Der Raum wurde wieder dunkel.

„Was?“

„Es waren zehn Sprengsätze auf der Brücke, über die ganze Länge verteilt. In Kofferräumen waren sie

nicht. Sie waren dort platziert worden. Aber von wem, und wie sind sie dorthin gekommen?“

„Was?“, wiederholte ich.

„Marcus, dies ist deine letzte Chance“, sagte sie und sah traurig aus dabei. „Bis hierher hast du so gut

mitgemacht. Erzähl uns das noch, und du darfst nach Hause gehen. Du kannst dir einen Anwalt

besorgen und dich vor einem ordentlichen Gericht verteidigen. Ganz sicher wird es mildernde

Umstände geben, die deine Handlungen erklären können. Erzähl uns nur dies noch, und du kannst

gehen.“

„Ich weiß nicht, wovon Sie reden!“ Ich weinte und machte mir nichts draus. Ich flennte Rotz und

Wasser. „Ich habe nicht die leiseste Idee, wovon Sie reden!“

Sie schüttelte den Kopf. „Marcus, bitte, lass dir doch helfen. Inzwischen solltest du wissen, dass wir

immer bekommen, was wir wollen.“

Irgendwo hinten in meinem Kopf hörte ich merkwürdige Geräusche. Die waren wahnsinnig. Ich nahm

mich zusammen und versuchte die Tränen zu unterdrücken. „Hören Sie, das ist doch Irrsinn. Sie

waren an meinen Sachen, Sie haben alles gesehen. Ich bin ein siebzehnjähriger Schüler und kein

Terrorist. Sie können doch nicht ernsthaft annehmen --“

„Marcus, hast du immer noch nicht begriffen, dass wir ernsthaft sind?“ Sie

schüttelte wieder den

Kopf. „Du hast ziemlich gute Noten. Ich glaubte, du würdest klüger sein.“ Sie machte eine

schnippende Geste, und die Wachen packten mich unter den Armen.

Zurück in der Zelle fielen mir hundert kleine Reden ein. Die Franzosen nennen das „esprit d‘escalier“

-- den Geist der Treppe, die schlagfertigen Erwiderungen, die dir einfallen, sobald du den Raum

verlässt und die Treppe runterschleichst. In Gedanken stand ich da vor ihr und deklamierte meine

Texte, sagte ihr, ich sei ein Bürger, der seine Freiheit liebt, weshalb wohl eher ich der Patriot und sie

der Verräter sei. In Gedanken beschämte ich sie dafür, mein Land in ein bewaffnetes Lager verwandelt

zu haben. In Gedanken war ich beredt und brillant und ließ sie in Tränen aufgelöst zurück.

Aber wisst ihr was? Kein einziges dieser edlen Worte kam mir wieder in den Sinn, als sie mich am

nächsten Tag wieder holten. Alles, woran ich denken konnte, war Freiheit.

Meine Eltern.

„Hallo, Marcus“, sagte sie. „Wie fühlst du dich?“

Ich schaute zum Tisch. Sie hatte einen ordentlichen Dokumentenstapel vor sich aufgehäuft, und neben

ihr stand der unvermeidliche Starbucks-Pappbecher. Irgendwie fand ich das beruhigend, eine

Erinnerung daran, dass es irgendwo hinter diesen Mauern noch eine echte Welt

gab.

„Für den Moment haben wir die Ermittlungen über dich abgeschlossen.“ Sie ließ den Satz so im

Raum stehen. Vielleicht bedeutete es, sie würde mich jetzt rauslassen. Vielleicht bedeutete es, sie

würde mich irgendwo in ein Loch werfen und meine Existenz vergessen.

„Und?“, fragte ich schließlich.

„Und ich möchte dir nochmals ins Gedächtnis rufen, dass wir diese Angelegenheit sehr ernst nehmen.

Unser Land hat den schlimmsten Terroranschlag aller Zeiten auf seinem Territorium erlebt. Wie viele

1. September willst du uns noch erleiden lassen, bevor du kooperierst? Die Einzelheiten unserer

Untersuchungen sind geheim. Wir lassen uns von nichts und niemanden in unserem Bemühen

aufhalten, die Urheber dieser abscheulichen Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Verstehst du

das?“

„Ja“, murmelte ich.

„Wir schicken dich heute nach Hause, aber du bist jetzt ein Gezeichneter. Du bist keineswegs frei von

jedem Verdacht -- wir lassen dich lediglich frei, weil wir für den Moment keine weiteren Fragen an

dich haben. Aber von nun an gehörst du uns. Wir werden dich beobachten. Wir werden nur darauf

warten, dass du einen falschen Schritt machst. Begreifst du, dass wir dich rund

um die Uhr

genauestens überwachen können?“

„Ja“, murmelte ich.

„Gut. Du wirst niemals und mit niemandem darüber reden, was hier passiert ist.

Dies ist eine

Angelegenheit nationaler Sicherheit. Weißt du, dass auf Verrat in Kriegszeiten immer noch die

Todesstrafe steht?“

„Ja“, murmelte ich.

„Guter Junge“, säuselte sie. „Wir haben hier einige Dokumente für dich zur Unterschrift.“ Sie schob

den Papierstapel über den Tisch zu mir hin. Kleine Post-its, bedruckt mit „hier unterschreiben“, waren

drauf verteilt. Ein Wärter löste meine Handschellen.

Ich blätterte durch die Papiere; meine Augen tränten und mein Kopf brummte.

Ich verstand das nicht.

Ich versuchte die Paragraphen zu entziffern. Wies aussah, unterschrieb ich eine Erklärung, derzufolge

ich mich freiwillig hier hatte festhalten und befragen lassen, ganz aus eigenem freiem Willen.

„Was passiert denn, wenn ich das nicht unterschreibe?“, fragte ich.

Sie zog den Stapel an sich und machte wieder diese schnippende Geste. Die Wachen rissen mich auf

meine Füße.

„Warten Sie!“, schrie ich. „Bitte! Ich unterschreibe!“ Sie zerrten mich zur Tür.

Alles, was ich sehen

konnte, war diese Tür; alles, woran ich denken konnte, wie sie hinter mir zuging.

Ich hatte verloren. Ich weinte. Ich bettelte, die Papiere unterschreiben zu dürfen.

Der Freiheit so nah

zu sein und sie dann wieder entzogen zu bekommen, das machte mich willens, wirklich alles zu tun.

Ich weiß nicht, wie oft ich jemanden hab sagen hören, „eher sterb ich, als dies-und-jenes zu machen“

-- ich habs ja selbst oft genug gesagt. Aber in diesem Moment begriff ich erstmals, was das wirklich

bedeutete. Ich wäre eher gestorben, als in meine Zelle zurückzugehen.

Ich bettelte, als sie mich auf den Flur rauszogen. Ich sagte ihnen, ich würde alles unterschreiben.

Sie rief den Wachen etwas zu, und sie blieben stehen. Sie brachten mich zurück.

Sie setzten mich an

den Tisch. Einer von ihnen gab mir den Stift in die Hand.

Und natürlich unterschrieb ich, und ich unterschrieb, und ich unterschrieb.

Meine Jeans und mein T-Shirt waren in meiner Zelle, gereinigt und zusammengelegt. Sie rochen nach

Waschmittel. Ich zog sie an, wusch mir das Gesicht, setzte mich dann auf meine Pritsche und starrte

die Wand an. Sie hatten mir alles genommen. Erst meine Privatsphäre, dann meine Würde. Ich war

bereit gewesen, wirklich alles zu unterschreiben. Ich hätte sogar unterschrieben, dass ich Abraham

Lincoln ermordet hatte.

Ich versuchte zu weinen, aber meine Augen fühlten sich trocken an, keine Tränen mehr da.

Sie holten mich wieder. Ein Wärter kam mit einer Kapuze zu mir, so einer wie der, die ich

aufbekommen hatte, als sie uns aufgriffen; wann auch immer das war -- vor Tagen, vor Wochen.

Man stülpte die Kapuze über meinen Kopf und zog sie im Nacken eng an.

Völlige Dunkelheit umgab

mich, und die Luft war stickig und schal. Ich wurde auf meine Füße gestellt und Korridore entlang

geführt, Treppen hoch, auf Schotter. Eine Gangway hoch. Aufs Stahldeck eines Schiffs. Meine Hände

wurden hinter meinem Rücken an ein Geländer gekettet. Ich kniete mich aufs Deck und horchte auf

das Dröhnen der Diesel-Maschinen.

Das Schiff setzte sich in Fahrt. Ein Hauch von Salzluft fand seinen Weg unter der Kapuze hindurch.

Es regnete, und meine Klamotten wurden schwer vom Wasser. Ich war draußen, auch wenn mein

Kopf noch unter einer Kappe steckte. Ich war draußen, in der Welt, Momente entfernt von meiner

Freiheit.

Sie kamen, mich zu holen, führten mich vom Boot runter und über unebenen Grund. Drei

Metallstufen hoch. Meine Handfesseln wurden gelöst und die Kapuze entfernt.

Ich war wieder im Truck. Frau Strenger Haarschnitt war auch wieder hier, am selben kleinen

Schreibtisch wie zuvor. Sie hatte einen Reißverschlussbeutel bei sich, und darin waren mein Handy

und die anderen kleinen Werkzeuge, meine Brieftasche und das Kleingeld aus meinen Taschen.

Wortlos reichte sie mir alles.

Ich füllte meine Taschen. Es fühlte sich komisch an, alles wieder am vertrauten Ort zu haben, wieder

in meinen vertrauten Klamotten zu stecken. Hinter der Hecktür des Trucks konnte ich die vertrauten

Geräusche meiner vertrauten Stadt vernehmen.

Eine Wache reichte mir meinen Rucksack. Die Frau streckte mir ihre Hand entgegen. Ich schaute sie

nur an. Sie nahm die Hand wieder runter und lächelte ein schiefes Lächeln. Dann machte sie eine

Geste wie das Verschließen ihrer Lippen, zeigte auf mich -- und öffnete die Tür.

Draußen wars heller Tag, aber grau und regnerisch. Ich blickte eine Gasse runter auf Autos, LKWs

und Räder, die die Straße entlangsausten. Wie angenagelt stand ich auf der obersten Stufe des Trucks

und starrte der Freiheit entgegen.

Meine Knie zitterten. Ich wusste jetzt, dass sie wieder mit mir spielten. Im nächsten Moment würden

die Wachen mich wieder schnappen und nach drinnen zerren, die Kapuze würde wieder über meinen

Kopf gestülpt, und dann würde ich wieder auf dem Boot sein und ins Gefängnis zurückgeschickt

werden, zu den endlosen, nicht zu beantwortenden Fragen. Kaum konnte ich mich beherrschen, meine

Faust in den Mund zu stecken.

Dann zwang ich mich, eine Stufe runterzusteigen. Noch eine. Die letzte. Meine Turnschuhe

knirschten auf dem Zeug auf dem Fußboden, Glasscherben, einer Nadel, Kies.

Ich ging einen Schritt.

Noch einen. Ich erreichte den Anfang der Gasse und trat auf den Bürgersteig.

Niemand schnappte mich.

Ich war frei.

Dann pressten sich kräftige Arme um mich. Fast begann ich zu weinen.

Kapitel 5

Dieses Kapitel ist Secret Headquarters in Los Angeles gewidmet, meinem endgültigen Lieblingscomicladen der ganzen

Welt. Er ist klein und wählerisch bei seinem Angebot, und jedes Mal, wenn ich dort reingehe, komme ich mit drei, vier

Sammlungen unterm Arm wieder raus, von denen ich vorher noch nie gehört hatte. Man könnte meinen, die Eigentümer,

Dave und David, haben ein untrügliches Gespür dafür, was ich grade brauche, und drapieren immer genau das extra für

mich, bevor ich in den Laden komme. Ungefähr drei Viertel all meiner Lieblingscomics habe ich kennen gelernt, indem ich bei SHQ reinging, irgendwas Interessantes schnappte, mich in einen der bequemen Stühle fallen ließ und merkte, wie ich in

eine fremde Welt davongetragen wurde. Als meine zweite Kurzgeschichtensammlung, OVERCLOCKED, erschien, gaben sie in Zusammenarbeit mit einem ortsansässigen Illustrator, Martin Cenreda, einen Gratis-Mini-Comic heraus, der auf

„Printcrime“, der ersten Geschichte des Buchs, basierte. Ich habe L.A. vor rund einem Jahr verlassen, und auf der Liste der

Dinge, die ich vermisse, steht Secret Headquarters ganz oben.

Secret Headquarters: http://www.thesecretheadquarters.com/ 3817 W. Sunset Boulevard, Los Angeles, CA 90026 +1 323

666 2228

ber es war Van, und sie weinte wirklich, als sie mich so kräftig umarmte, dass ich keine Luft

bekam. Egal. Ich drückte sie wieder, mein Gesicht in ihrem Haar. A

„Du bist OK!“, sagte sie.

„Ich bin OK“, brachte ich hervor.

Schließlich ließ sie von mir ab, und ein zweites Paar Arme schlang sich um mich. Jolu! Sie waren

beide hier. Er flüsterte mir „du bist in Sicherheit, Kumpel“ ins Ohr und umarmte mich noch heftiger

als zuvor Van.

Als er mich losließ, schaute ich mich um. „Wo ist Darryl?“, fragte ich.

Sie sahen einander an. „Vielleicht noch im Truck“, sagte Jolu.

Wir drehten uns um und betrachteten den Laster am Ende der Gasse. Es war ein unscheinbarer weißer

Neunachser. Die kleine Falt-Treppe hatte schon jemand eingezogen. Die

Rücklichter leuchteten rot,

und der Truck rollte unter ständigem „piep, piep, piep“ im Rückwärtsgang auf uns zu.

„Warten Sie!“, schrie ich, als er in unsere Richtung beschleunigte. „Warten Sie!

Was ist mit Darryl?“

Der Truck kam näher. Ich schrie weiter, „was ist mit Darryl?“

Jolu und Vanessa nahmen mich bei den Armen und zerrten mich weg. Ich wehrte mich dagegen und

schrie. Der Laster erreichte den Anfang der Gasse, schwenkte auf die Straße und fuhr bergab davon.

Ich wollte hinterherrennen, aber Van und Jolu ließen mich nicht los.

Ich setzte mich auf den Bürgersteig, zog die Knie an und weinte. Ich weinte, weinte, weinte, lautes

Schluchzen, wie ich es zuletzt als kleines Kind getan hatte. Es hörte nicht auf, und ich hörte nicht auf

zu zittern.

Vanessa und Jolu halfen mir hoch und zogen mich ein Stückchen die Straße hoch. Da gabs ne

Stadtbushaltestelle mit einer Bank, auf die setzten sie mich drauf. Sie weinten beide auch; so hielten

wir uns ne Weile gegenseitig fest, und ich wusste, wir weinten um Darryl, den wir alle wohl nie

wiedersehen würden.

Wir waren nördlich von Chinatown, in der Ecke, wo es in North Beach übergeht; ein Viertel mit

einigen Neon-Stripclubs und dem legendären Subkultur-Buchladen City Lights, wo damals in den

1950ern die Beat-Dichterbewegung begründet worden war.

Diesen Teil der Stadt kannte ich gut. Hier gab es den Lieblings-Italiener meiner Eltern, und sie

nahmen mich gern dorthin mit auf Monsterportionen Linguine, üppige Berge italienischer Eiscreme

mit kandierten Feigen und hinterher tödliche kleine Espressos.

Jetzt war es ein anderer Ort. Ein Ort, an dem ich zum ersten Mal nach einer gefühlten Ewigkeit die

Freiheit schmeckte.

Wir kramten unsere Taschen durch und fanden genug Geld, um uns einen Tisch bei einem der

italienischen Restaurants erlauben zu können, auf dem Bürgersteig, unter einer Markise. Die hübsche

Bedienung entzündete einen Gas-Heizpilz mit einem Grillfeuerzeug, nahm unsere Bestellungen auf

und ging nach drinnen. Das Gefühl, Aufträge erteilen zu können, mein Schicksal unter meiner

Kontrolle zu wissen, war das faszinierendste Gefühl, das ich kannte.

„Wie lang waren wir da drin?“, fragte ich.

„Sechs Tage“, entgegnete Vanessa.

„Ich komm auf fünf“, sagte Jolu.

„Ich hab nicht gezählt.“

„Was haben sie mit dir gemacht?“, wollte Vanessa wissen.

Ich mochte eigentlich nicht drüber sprechen, aber sie schauten mich beide erwartungsvoll an. Und als

ich dann erst mal angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören. Ich erzählte ihnen alles, auch den

Part, als ich gezwungen war, in die Hose zu pinkeln, und sie schwiegen die ganze Zeit. Als die

Bedienung unsere Limos brachte, machte ich einen Moment Pause, bis sie wieder außer Hörweite

war, dann erzählte ich zu Ende. Beim Erzählen verschwand alles irgendwie in der Ferne. Am Ende

hätte ich nicht mehr sagen können, ob ich die Fakten noch überhöhte oder ob ich alles weniger

schlimm darstellte, als es tatsächlich war. Meine Erinnerungen schwammen herum wie kleine Fische,

die ich zu fangen versuchte, und manchmal entwischten sie meinem Griff.

Jolu schüttelte den Kopf. „Mann, die waren hart zu dir“, sagte er. Dann erzählte er uns von seiner Zeit

dort. Sie hatten ihn befragt, meist über mich, und er hatte ihnen immer nur die Wahrheit erzählt, die

reinen Tatsachen über diesen Tag und über unsere Freundschaft. Sie hatten es ihn wieder und wieder

von vorn erzählen lassen, aber immerhin hatten sie mit ihm keine Psychospielchen gespielt wie mit

mir. Er hatte in einem Kasino zu essen bekommen und sogar in einem Fernsehraum die Blockbuster

des letzten Jahres auf Video sehen dürfen.

Vanessas Story war nur ein wenig anders: Nachdem sie in Ungnade gefallen war, als sie mit mir

gesprochen hatte, hatten sie ihr die Klamotten weggenommen und ihr einen orangefarbenen

Gefängnis-Overall gegeben. Dann ließ man sie zwei Tage ohne Kontakt in der Zelle allein, allerdings

bekam sie regelmäßig Essen. Aber hauptsächlich wars so wie bei Jolu: dieselben Fragen, noch und

noch wiederholt.

„Die haben dich echt gehasst“, sagte Jolu. „Die hatten dich auf dem Kieker. Aber warum?“

Ich konnte es mir nicht sofort erklären. Aber dann erinnerte ich mich.

„Du kannst kooperieren, oder es wird dir sehr, sehr Leid tun.“

„Weil ich ihnen mein Telefon nicht entsperren wollte in der ersten Nacht.

Deshalb haben sie mich

rausgepickt.“ Wirklich glauben konnte ichs nicht, aber es war die einzige Erklärung. Reiner

Rachedurst. Meine Gedanken verhaspelten sich geradezu in dieser Idee. Die hatten das alles bloß

gemacht, um mir ne Lehre zu erteilen, weil ich ihre Autorität nicht anerkannte.

Bisher hatte ich Angst gehabt. Jetzt war ich sauer. „Diese Arschgeigen“, sagte ich ruhig. „Die wollten

mir bloß einen reinwürgen, weil ich meinen Mund gehalten habe.“

Jolu fluchte, und Vanessa brauste auf Koreanisch auf, was sie nur tat, wenn sie sehr, sehr wütend war.

„Ich krieg die“, flüsterte ich in meine Brause, „ich krieg die.“

Jolu schüttelte den Kopf. „Vergiss es. Gegen so was kommst du nicht an.“

Aber in dem Moment wollte keiner von uns groß über Rache reden. Stattdessen sprachen wir drüber,

was wir als nächstes tun wollten. Wir mussten heim. Unsere Handy-Akkus waren leer, und in dieser

Gegend gabs schon seit Jahren keine Münztelefone mehr. Wir mussten einfach nach Hause kommen.

Ich dachte sogar an ein Taxi, aber wir hatten nicht mehr genug Geld, um uns das zu erlauben.

Also gingen wir zu Fuß. An der Ecke warfen wir ein paar Münzen in den Automaten des San

Francisco Chronicle und hielten an, um die ersten paar Seiten zu lesen. Die Bombenexplosionen

waren zwar fünf Tage her, aber die Titelseite war immer noch voll davon.

Frau Strenger Haarschnitt hatte davon gesprochen, dass sie „die Brücke“

hochgejagt hatten, und ich

war davon ausgegangen, dass sie die Golden Gate Bridge meinte; aber damit lag ich daneben. Die

Terroristen hatten die Bay Bridge gesprengt.

„Warum zum Teufel würde jemand die Bay Bridge hochjagen?“, fragte ich.

„Golden Gate ist doch die

auf allen Postkarten.“ Selbst wenn du noch nie in San Francisco warst, weißt du

höchstwahrscheinlich, wie Golden Gate aussieht: Das ist diese große orangefarbene Hängebrücke, die

in einem dramatischen Schwung von der alten Militärbasis „The Presidio“

hinüber nach Sausalito

führt, wo sich all die niedlichen Weinland-Städtchen finden mit ihren Räucherkerzen-Läden und

Kunstgalerien. Sie ist einfach höllisch malerisch und das Symbol schlechthin für den Bundesstaat

Kalifornien. Im Disneyland-Abenteuerpark Kalifornien gibts gleich am Eingang einen Nachbau von

Golden Gate, über den eine Einschienenbahn führt.

Deshalb war ich ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass man sich, wenn man eine Brücke in

San Francisco sprengen würde, die Golden Gate aussuchen würde.

„Wahrscheinlich sind sie von all den Kameras und dem Überwachungszeug abgeschreckt worden“,

sagte Jolu. „Die Nationalgarde checkt Autos auf beiden Seiten, und dann noch die Selbstmörderzäune

und dieser Kram.“ Seit Golden Gate 1937 freigegeben worden war, sprangen die Leute da runter --

nach dem tausendsten Selbstmord anno 1995 haben sie aufgehört mitzuzählen.

„Ja“, sagte Vanessa. „Und außerdem führt die Bay Bridge wirklich irgendwo hin.“ Die Bay Bridge

verbindet Downtown San Francisco mit Oakland und Berkeley, Wohnsiedlungen an der East Bay für

viele der Menschen, die in der Stadt arbeiten. Die Gegend ist eine der wenigen in

der Bay Area, in der

ein Normalsterblicher sich ein Haus leisten kann, in dem er die Beine ausstrecken kann, außerdem

gibts dort eine Universität und ein bisschen Industrie. Die BART führt zwar auch unter der Bay durch

und verbindet die beiden Städte, aber der meiste Verkehr findet auf der Bay Bridge statt. Golden Gate

war ne hübsche Brücke für Touristen und reiche Pensionäre drüben im Weinland, aber hauptsächlich

war sie zu Dekozwecken da. Die Bay Bridge ist -- war -- das Arbeitstier der Stadt.

Ich dachte einen Moment drüber nach. „Ihr habt Recht“, sagte ich. „Aber ich glaube, das ist noch

nicht alles. Wir gehen immer davon aus, dass Terroristen Sehenswürdigkeiten angreifen, weil sie sie

hassen. Aber Terroristen hassen keine Sehenswürdigkeiten oder Brücken oder Flugzeuge. Die wollen

bloß Chaos verbreiten und Leuten Angst machen. Terror erzeugen eben. Also haben sie sich natürlich

die Bay Bridge ausgesucht, weil auf der Golden Gate die ganzen Kameras installiert sind und weil sie

beim Fliegen die ganzen Metalldetektoren und Röntgengeräte eingeführt haben und so.“

Ich dachte noch eine Weile drüber nach und schaute dabei den Autos auf der Straße zu, den Leuten

auf den Bürgersteigen, der ganzen Stadt um mich rum. „Terroristen hassen weder Flugzeuge noch

Brücken. Sie lieben Terror.“ Das war jetzt so offensichtlich, dass ich nicht verstand, wieso ich da nicht

schon früher drauf gekommen war. Schätze mal, ein paar Tage lang wie ein Terrorist behandelt zu

werden hatte mein Denken entrümpelt.

Die anderen beiden starrten mich an. „Hab ich Recht oder nicht? Der ganze Dreck, dieses Röntgen

und die Identitätsprüfungen, das ist alles komplett sinnlos, oder?“

Sie nickten zaghaft.

„Schlimmer als sinnlos“, fuhr ich mit überschlagender Stimme fort. „Weil es uns in den Knast

gebracht hat und Darryl …“ Ich hatte nicht mehr an Darryl gedacht, seit wir hier saßen, und jetzt

kams alles zu mir zurück: Mein Freund war fort, verschwunden. Ich brach ab und presste die Kiefer

aufeinander.

„Wir müssen es unseren Eltern erzählen“, sagte Jolu.

„Wir brauchen einen Anwalt“, sagte Vanessa.

Ich dachte daran, wie ich meine Geschichte erzählen würde. Daran, der Welt zu erzählen, was aus mir

geworden war. An die Videos, die zweifellos auftauchen würden, auf denen ich weinte, nicht mehr

war als ein kriechendes Tier.

„Wir können ihnen gar nichts erzählen“, sagte ich ohne nachzudenken.

„Wie bitte?“, entgegnete Van.

„Wir können ihnen gar nichts erzählen“, wiederholte ich. „Ihr habt sie gehört.

Wenn wir reden,

kommen sie und holen uns wieder. Dann machen sie mit uns, was sie mit Darryl gemacht haben.“

„Mach keine Witze“, sagte Jolu. „Du erwartest ernsthaft, dass wir …“

„Dass wir zurückschlagen“, ergänzte ich. „Ich will frei bleiben, damit ich genau das tun kann. Wenn

wir jetzt losgehen und alles erzählen, dann sagen sie, das sind bloß Kinder, die haben sich das

ausgedacht. Mann, wir wissen ja noch nicht mal, wo sie uns hingebracht haben.

Kein Mensch wird

uns glauben. Und irgendwann kommen sie dann und holen uns.

Ich werde meinen Eltern erzählen, dass ich in einem dieser Notlager auf der anderen Seite der Bay

war. Dass ich da drüben war, um euch zu treffen, und dass wir dann festsaßen. In der Zeitung steht, es

gibt immer noch Leute, die jetzt erst von da zurückkommen.“

„Das kann ich nicht machen“, sagte Vanessa. „Und wie kannst du nur daran denken nach all dem, was

sie mit dir gemacht haben?“

„Weil es mir passiert ist, eben drum. Das ist jetzt ne Sache zwischen denen und mir. Ich erwisch die,

und ich hol Darryl raus. Ich denk nicht dran, das einfach so hinzunehmen. Aber sobald unsere Eltern

was wissen, wars das für uns. Niemand wird uns glauben, und niemanden interessierts. Wenn wirs so

machen, wie ich es mir denke, wird es die Leute interessieren.“

„Wie denkst dus dir denn?“, fragte Jolu. „Was ist dein Plan?“

„Weiß ich noch nicht“, musste ich zugeben. „Lasst mir Zeit bis morgen früh, wenigstens bis dann.“

Ich wusste: Wenn sie einen Tag lang dicht halten würden, dann würden sie für immer dicht halten.

Unsere Eltern wären ja nur noch skeptischer, wenn wir uns plötzlich dran

„erinnerten“, in einem

Geheimgefängnis festgehalten worden zu sein statt in einem Flüchtlingslager.

Van und Jolu schauten einander an.

„Ich will doch nur eine Chance“, sagte ich. „Wir machen die Geschichte unterwegs noch rund. Gebt

mir bloß diesen einen Tag bitte.“

Die anderen beiden nickten düster, und wir machten uns auf den Weg bergab, auf den Weg nach

Hause. Ich lebte auf Potrero Hill, Vanessa in der nördlichen Mission, und Jolu lebte in Noe Valley --

drei total unterschiedliche Viertel, nur ein paar Gehminuten voneinander entfernt.

Wir bogen in die Market Street ein und blieben stehen wie angewurzelt. Die Straße war an allen

Ecken verbarrikadiert, die Querstraßen auf eine Spur verengt, und über die gesamte Länge von

Market Street parkten große, unscheinbare Neunachser wie der, mit dem sie uns, mit Kapuzen über

den Augen, von den Schiffsdocks nach Chinatown transportiert hatten.

Alle hatten sie hinten dreistufige Metallleitern befestigt, und es wimmelte nur so von Soldaten,

Anzugträgern und Polizisten, die in die Trucks rein- und wieder rausgingen. Die Anzüge hatten kleine

Etiketten an den Revers, die die Soldaten beim Rein- und Rauskommen scannten

-- drahtlose

Zugangsberechtigungs-Buttons. Als wir an einem vorbeikamen, erhaschte ich einen näheren Blick

und sah das vertraute Logo: Ministerium für Heimatschutz. Der Soldat sah, wie ich hinstarrte, und

starrte mit wütendem Blick zurück.

Ich verstand den Wink und ging weiter. Höhe Van Ness trennte ich mich von der Gang. Wir umarmten

einander, weinten und versprachen, uns anzurufen.

Für den Weg zurück nach Potrero Hill gibt es eine leichte und eine schwere Route; die zweite führt

über einige der steilsten Hügel der Stadt, die Sorte, die man bei Autoverfolgungsjagden in

Actionfilmen sieht, wo die Autos abheben, wenn sie über den höchsten Punkt rasen. Ich nehm immer

die schwere Route nach Hause. Die führt durch herrschaftliche Straßen mit alten viktorianischen

Häusern, die wegen ihrer fröhlichen, sorgfältigen Bemalung „lackierte Ladies“

genannt werden, und

Vorgärten mit duftenden Blumen und hohen Gräsern. Von Hecken runter glotzen dich Hauskatzen an,

und es gibt kaum Obdachlose dort.

Es war so still auf diesen Straßen, dass ich bald wünschte, ich hätte diesmal die andere Route

genommen, durch die Mission; die ist ..., hm, lärmend ist wahrscheinlich das beste Wort dafür. Laut

und pulsierend. Jede Menge krawallige Betrunkene, zornige Kokser und bewusstlose Junkies, dazu

jede Menge Familien mit Kinderwagen, alte Damen, die auf Verandas schnatterten, tiefergelegte

Kreuzer mit fettem Soundsystem, die mit wumm-wumm-wumm die Straßen entlangfuhren. Es gab

hippes Jungvolk, zottelige Emo-Kunststudenten und sogar einige Old-School-Punkrocker, alte Säcke

mit Bierbäuchen unter ihren Dead-Kennedys-T-Shirts. Dazu Drag Queens, auf Krawall gebürstete

Gang-Kids, Graffitikünstler und verwirrte Neureiche, die versuchten, hier nicht ermordet zu werden,

während ihre Grundstücksinvestitionen reiften.

Ich ging Goat Hill rauf und kam an Goat Hill Pizza vorbei; das erinnerte mich an den Knast, aus dem

ich kam, und ich musste mich auf die Bank vor dem Restaurant setzen, bis mein Zittern sich gelegt

hatte. Dann bemerkte ich den Truck oben auf dem Hügel, einen unauffälligen Neunachser mit drei

Metallstufen am hinteren Ende. Ich stand auf und setzte mich in Bewegung. Ich fühlte, wie die Augen

mich aus allen Richtungen beobachteten Den Rest des Weges hatte ichs eilig. Ich hatte keine Augen mehr für die lackierten Ladies, die Gärten

oder die Hauskatzen. Ich blickte nur zu Boden.

Beide Autos meiner Eltern standen in der Auffahrt, obwohl es noch mitten am Tag war. Ja logisch.

Dad arbeitet in der East Bay, deshalb saß er daheim fest, solange sie an der Brücke arbeiteten. Mom --

keine Ahnung, warum Mom daheim war.

Sie waren wegen mir daheim.

Noch bevor ich den Schlüssel fertig umgedreht hatte, wurde mir die Tür aus der Hand gerissen und

weit aufgeschwungen. Da standen meine Eltern, grau und übernächtigt, und starrten mich aus großen

Augen an. So standen wir für einen Moment, wie in einem Stillleben eingefroren, dann stürzten sie

auf mich zu, zogen mich ins Haus und warfen mich beinahe dabei um. Sie redeten beide so laut und

schnell durcheinander, dass ich bloß ein wortlos rauschendes Brabbeln hörte, und sie umarmten mich

beide, und sie weinten, und ich weinte auch, und so standen wir da in dem schmalen Flur und weinten

und brabbelten Zeug, bis uns die Luft ausging und wir in die Küche gingen.

Dort tat ich, was ich immer tat, wenn ich heimkam: Ich füllte ein Glas mit Wasser aus dem Filter im

Kühlschrank und holte ein paar Kekse aus der „Biskuitbüchse“, die Moms

Schwester uns aus England

geschickt hatte. Die Normalität von all dem bremste das Hämmern meines Herzens, es

synchronisierte mein Herz mit meinem Gehirn; und kurz darauf saßen wir alle am Küchentisch.

„Wo warst du?“, fragten sie beinahe gleichzeitig.

Darüber hatte ich auf dem Weg nach Hause nachgedacht. „Hab festgesessen“, erwiderte ich. „In

Oakland. Ich war da mit ein paar Freunden für ein Projekt, und wir wurden alle in Quarantäne

gesteckt.“

„Fünf Tage lang?“

„Ja“, sagte ich. „Ja. Das war richtig ätzend.“ Ich hatte über die Quarantäne im Chronicle gelesen und

bediente mich jetzt hemmungslos aus den Zitaten, die sie da abgedruckt hatten.

„Ja. Alle, die von der

Wolke erwischt wurden. Die dachten wohl, wir hätten uns da irgendwas Übles aufgesammelt und

haben uns dann in den Docklands in Schiffscontainer gesteckt wie Ölsardinen.

Mann, war das heiß

und stickig. Und viel was zu essen gabs auch nicht.“

„O Gott“, sagte Dad und ballte die Fäuste auf dem Tisch. Dad unterrichtet drei Tage die Woche in

einem Graduiertenprogramm in der Bibliothek in Berkeley. Die übrige Zeit arbeitet er als Berater für

Kunden in der Stadt und auf der Peninsula, für Dot-Coms der dritten Welle, die

irgendwelche Sachen

mit Archiven machen. Beruflich ist er ein liebenswürdiger Bibliothekar, aber in den Sechzigern war er

ein echter Radikaler gewesen, und er hatte an der High School ein bisschen Wrestling betrieben. Ich

hatte ihn schon ein paar Mal fuchsteufelswild gesehen -- manchmal hatte ich ihm Anlass dazu gegeben

--, und wenn er zum Hulk wurde, dann konnte er echt explodieren. Einmal warf er eine Ikea-Schaukel

quer über den ganzen Rasen meines Großvaters, als das Ding auch beim fünfzigsten Zusammenbauen

wieder einstürzte.

„Barbaren“, sagte Mom. Seit sie ein Teenager war, lebte sie schon in Amerika, aber wenn sie es mit

amerikanischen Bullen, dem Gesundheitssystem, Flughafensicherheit oder Obdachlosigkeit zu tun

hat, dann kommt sie immer noch total britisch rüber. Dann heißt es „Barbaren“, und ihr Akzent wird

wieder stärker. Wir waren zwei Mal in London gewesen, um ihre Familie zu besuchen, und ich fand

nicht, dass es sich nennenswert zivilisierter anfühlte als San Francisco, bloß viel verstopfter.

„Aber heute haben sie uns rausgelassen und mit der Fähre rübergebracht“, improvisierte ich jetzt.

„Bist du verletzt?“, fragte Mom? „Hungrig?“

„Schläfrig?“

„Ja, bisschen von allem. Und Dopey, Doc, Sneezy und Bashful.“ Wir hatten diese Familientradition,

Sieben-Zwerge-Witze zu machen. Beide lächelten ein wenig, aber ihre Augen waren immer noch

feucht. Sie mussten außer sich vor Sorge gewesen sein. Ich war dankbar dafür, das Thema wechseln

zu können. „Ich brauch dringend was zu essen.“

„Ich bestelle eine Pizza bei Goat Hill“, sagte Dad.

„Ach ne, bitte nicht“, sagte ich. Beide schauten sie mich an, als ob mir Antennen gewachsen wären.

Normalerweise steh ich auf Goat Hill Pizza -- also so, wie ein Goldfisch auf sein Futter steht: ich

spachtel das Zeug, bis nichts mehr da ist oder bis ich platze. Ich versuchte zu lächeln. „Hab grade

keine Lust auf Pizza“, sagte ich bloß. „Wollen wir nicht lieber Curry bestellen?“

Dem Himmel sei

Dank, dass San Francisco die Hauptstadt der Lieferdienste ist.

Mom ging zur Schublade mit den Liefer-Speisekarten (noch mehr Normalität, ein Gefühl wie ein

Schluck Wasser in der trockenen, wunden Kehle) und blätterte sie durch. Ein paar Minuten lenkten

wir uns damit ab, die Karte des Pakistani auf der Valencia zu studieren. Ich entschied mich für

gemischten Tandoori-Grillteller mit sahnigem Spinat und Frischkäse, gesalzener Mango-Lassi (viel

besser, als es klingt) und kleines Gepäck in Zuckersirup.

Als das Essen bestellt war, ging die Fragerei weiter. Sie hatten von Vans, Jolus und Darryls Familien

gehört, klar, und hatten versucht, uns als vermisst zu melden. Die Polizei schrieb zwar Namen auf,

aber es gab so viele „verschollene Personen“, dass sie erst nach sieben Tagen eine offizielle

Vermisstenmeldung akzeptierten.

Derweil waren Millionen von „Wer-hat-wen-gesehen“-Seiten im Internet entstanden. Einige davon

waren alte MySpace-Klone, denen das Geld ausgegangen war und die sich von all der

Aufmerksamkeit Wiederbelebung erhofften. Immerhin vermissten auch einige Risikokapitalgeber

Familienangehörige in der Bay Area. Und wenn die aufgefunden werden würden, vielleicht brächte

das der Site dann neue Finanzspritzen? Ich schnappte mir Dads Laptop und schaute die Seiten durch.

Vollgekleistert mit Anzeigen, logisch, und Bilder von Vermissten, meist Schulabschluss-Fotos,

Hochzeitsfots und derlei Sachen. Insgesamt ziemlich gruselig.

Ich fand mein Bild und sah, dass es mit Vans, Jolus und Darryls verknüpft war.

Es gab ein kleines

Formular, mit dem man Leute als gefunden kennzeichnen konnte, und ein anderes, das für Notizen

über andere Vermisste gedacht war. Ich füllte die Felder für mich, Jolu und Van aus und ließ Darryls

leer.

„Du hast Darryl vergessen“, sagte Dad. Er mochte Darryl nicht besonders, seit er mal bemerkt hatte,

dass in einer der Flaschen in seinem Spirituosenschrank ein paar Zoll fehlten und ich es -- das ist mir

heute noch peinlich -- auf Darryl geschoben hatte. In Wirklichkeit waren wirs beide gewesen, nur so

zum Spaß, ein paar Wodka-Cola beim nächtelangen Computerspielen.

„Er war nicht bei uns“, sagte ich. Die Lüge ging mir schwer über die Lippen.

„O mein Gott“, sagte Mom. Sie krallte ihre Hände ineinander. „Als du kamst, hatten wir

angenommen, dass ihr alle zusammen wart.“

„Nein“, log ich weiter. „Nein, er wollte uns treffen, aber er kam nicht.

Wahrscheinlich sitzt er noch in

Berkeley fest. Er wollte die BART rüber nehmen.“

Mom gab ein leises Wimmern von sich, und Dad schüttelte den Kopf und schloss die Augen. „Hast du

noch nicht von der BART gehört?“, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. Ich ahnte, was nun kommen würde, und es fühlte sich an, als ob mir jemand

den Boden unter den Füßen wegzog.

„Sie haben sie gesprengt“, sagte Dad. „Die Bastarde haben sie hochgejagt, zur selben Zeit wie die

Brücke.“

Das hatte nun nicht auf der ersten Seite des Chronicle gestanden, aber

schließlich war auch eine

BART-Explosion im Unterwasser-Tunnel vermutlich nicht halb so bildgewaltig wie die Brücke, wie

sie da in Fetzen über der Bay hing. Der BART-Tunnel vom Embarcadero in San Francisco bis rüber

zur Station West Oakland war überflutet.

Ich ging wieder an Dads Computer und surfte auf den Nachrichtenseiten.

Niemand wusste Genaues,

aber die Opferzahl ging in die Tausende. Von den Autos, die 60 Meter tief ins Meer gestürzt waren, zu

den Menschen, die in Zügen ertranken: die Opferzahlen stiegen noch. Ein Reporter behauptete, er

habe einen „Identitätsfälscher“ interviewt, der „Dutzenden“ von Menschen dabei geholfen habe, nach

den Anschlägen einfach aus ihrem alten Leben zu verschwinden -- die ließen sich neue IDs machen

und ließen unglückliche Ehen, drückende Schulden und missratene Lebensläufe einfach hinter sich.

Dad hatte tatsächlich Tränen in den Augen, und Mom weinte hemmungslos.

Beide umarmten sie mich

noch mal und betätschelten mich, als wollten sie sich vergewissern, dass ichs tatsächlich war. Sie

hörten nicht auf, mir zu sagen, dass sie mich liebten. Ich sagte ihnen, ich liebte sie auch.

Es war ein tränenreiches Abendessen, und Mom und Dad tranken beide ein paar Gläser Wein, was für

ihre Verhältnisse viel war. Dann sagte ich ihnen, ich sei todmüde, was nicht gelogen war, und stratzte

in mein Zimmer rauf. Aber ins Bett ging ich nicht. Ich musste noch mal online gehen und rausfinden,

was eigentlich los war. Ich musste mit Jolu und Vanessa reden. Und ich musste mit der Suche nach

Darryl beginnen.

Ich schlich also zu meinem Zimmer hoch und öffnete die Tür. Mein altes Bett hatte ich jetzt gefühlte

tausend Jahre nicht gesehen. Ich legte mich drauf und langte zum Nachttisch, um meinen Laptop zu

holen.Vermutlich hatte ich ihn nicht richtig angestöpselt -- das Netzteil anzuschließen war ein bisschen

frickelig --, deshalb hatte er sich während meiner Abwesenheit langsam entladen. Ich stöpselte ihn

wieder ein und wartete ein, zwei Minuten, bevor ich ihn wieder einzuschalten versuchte. In der

Zwischenzeit zog ich mich aus, warf meine Klamotten in den Müll -- die wollte ich nämlich nie

wieder sehen -- und zog saubere Boxershorts und ein frisches T-Shirt an. Die frisch gewaschene

Wäsche, direkt aus der Schublade, fühlte sich genauso vertraut und gemütlich an wie eine Umarmung

von meinen Eltern.

Ich schaltete den Laptop ein und stopfte ein paar Kissen hinter mir ans Kopfende des Betts. Dann

lehnte ich mich zurück und legte mir den aufgeklappten Computer auf den Schoß. Er war immer noch

am Hochfahren, und die Icons, die da so über das Display krochen, Mann, sah das gut aus. Er fuhr

vollständig hoch und zeigte dann gleich neue Warnungen über niedrigen Akkustand. Ich prüfte das

Stromkabel noch mal, rüttelte dran, und die Warnungen verschwanden. Die Netzbuchse gab echt bald

den Geist auf.

Genaugenommen wars so übel, dass ich überhaupt nichts tun konnte. Jedes Mal, wenn ich die Hand

vom Stromkabel nahm, verlor es den Kontakt, und der Computer fing wieder an, über den Akku zu

meckern. Das musste ich mir mal genauer ansehen.

Das gesamte Computergehäuse war ganz leicht in sich verschoben, die Nahtstelle war vorn dicht und

ging in einem gleichmäßigen Winkel nach hinten auseinander.

Manchmal schaust du dir ja irgendein Gerät an und entdeckst irgendwas, und dann fragst du dich, ob

das immer schon so war. Vielleicht ist es dir ja bloß nie aufgefallen.

Aber bei meinem Laptop konnte das nicht sein. Den hatte ich immerhin selbst gebaut. Nachdem die

Schulbehörde uns alle mit SchulBooks ausstaffiert hatte, hätten meine Eltern mir nie und nimmer

noch einen eigenen Computer gekauft, obwohl das SchulBook ja streng genommen nicht mir gehörte,

und auf dem sollte ich ja keine Software installieren oder es sonstwie tunen.

Aber ich hatte was gespart -- hier und da mal ein Job, Weihnachten, Geburtstage, ein bisschen cleveres

Ebaying. Wenn man das alles zusammenlegte, war es genug Geld, eine total schrottige, fünf Jahre alte

Mühle zu kaufen.

Also bauten Darryl und ich uns selbst einen. Laptopgehäuse kann man genauso kaufen wie Desktop-Gehäuse, allerdings sind sie schon etwas spezieller als 08/15-PCs. Ein paar Rechner hatte ich mit

Darryl über die Jahre schon zusammengeschraubt, indem wir Teile von Craigslist und

Garagenverkäufen und superbilligen taiwanesischen Online-Händlern zusammentrugen. Also dachte

ich, einen Laptop zu bauen wäre der beste Weg, zu einem Preis, den ich mir leisten konnte, die

Leistung zu bekommen, die ich haben wollte.

Wenn du einen Laptop bauen willst, fängt es damit an, dass du ein „Barebook“

bestellst -- ein Gehäuse

mit einem Minimum an Hardware drin und mit allen wichtigen Einschüben. Und das Gute war, dass

ich letztlich einen Rechner hatte, der ein ganzes Pfund leichter war als der Dell, den ich im Auge

gehabt hatte, schneller war und nur ein Drittel dessen kostete, was ich für den Dell gelöhnt hätte. Das

Schlechte war, dass Laptopbauen was von Flaschenschiffbauen hat. Es ist total

frickelig, man braucht

ne Pinzette und eine Lupenbrille, wenn man versucht, all das Zeug in dem kleinen Gehäuse

unterzubringen. Im Gegensatz zu einem normal großen Rechner, der ja hauptsächlich aus Luft

besteht, wird jeder Kubikmillimeter Raum in einem Laptop tatsächlich gebraucht. Jedes Mal, wenn

ich dachte, jetzt hätte ichs, versuchte ich die Kiste zuzuschrauben und merkte dann, dass da immer

noch irgendwas war, das das Gehäuse daran hinderte, sich komplett schließen zu lassen, und dann

gings wieder zurück ans Zeichenbrett.

Von daher wusste ich ganz genau, wie die Nahtstelle meines Laptops aussehen musste, wenn das Ding

zu war; und so durfte sie ganz sicher nicht aussehen.

Ich wackelte also weiter am Netzadapter, aber es hatte keinen Zweck. Ich würde die Kiste nicht

sauber zum Booten bringen, ohne sie einmal auseinanderzuschrauben. Ich stöhnte und stellte den

Laptop neben das Bett. Darum würde ich mich morgen früh kümmern.

So weit zur Theorie, haha … Zwei Stunden später starrte ich immer noch an die Decke und ließ die

Filme in meinem Kopf ablaufen, was sie mit mir gemacht hatten, was ich hätte tun sollen, jede Menge

Bedauern und „esprit d‘escalier“.

Ich wälzte mich aus dem Bett. Inzwischen wars Mitternacht, und ich hatte um elf gehört, wie meine

Eltern in die Falle krochen. Ich schnappte mir den Laptop, schaufelte etwas Platz auf dem

Schreibtisch frei, klippte kleine LED-Lampen an den Seiten meiner Vergrößerungsbrille an und holte

einen Satz kleiner Präzisionsschraubendreher. Eine Minute später hatte ich das Gehäuse geöffnet und

blickte auf die Eingeweide meines Laptops. Ich holte eine Dose Druckluft, pustete den Staub weg,

den der Lüfter reingesogen hatte, und schaute alles durch.

Irgendwas stimmte nicht. Ich konnte nicht genau sagen, was, aber schließlich wars ja auch schon

Monate her, dass ich den Deckel von diesem Ding runterhatte. Zum Glück war ich beim dritten Mal

Auf- und mühsamem Wiederzumachen schlauer geworden. Ich hatte ein Foto des Innenlebens

gemacht mit allem an seinem richtigen Platz. So richtig schlau war ich aber noch nicht: Zuerst hatte

ich das Foto bloß auf der Festplatte gelassen, und da kam ich natürlich nicht ran, wenn ich den Laptop

zerlegt hatte. Aber dann hatte ichs ausgedruckt und irgendwo in meinem Wust von Papieren versenkt,

diesen Friedhof toter Bäume, wo ich alle Garantieunterlagen und Schaltdiagramme deponierte. Ich

blätterte den Stapel durch -- irgendwie sah er unordentlicher aus, als ich ihn in Erinnerung hatte -- und

holte mein Foto raus. Das legte ich neben den Computer, dann versuchte ich meine Augen auf nichts

Bestimmtes zu fokussieren und Dinge zu finden, die deplatziert schienen.

Dann hatte ichs. Das Verbindungskabel zwischen Tastatur und Mainboard saß nicht richtig drin. Das

war merkwürdig. Auf diesem Teil lastete kein Zug, da war nichts, das es im normalen Betrieb hätte

verschieben können. Ich versuchte es wieder richtig reinzudrücken und entdeckte, dass der Stecker

nicht bloß schief drinsaß -- da war irgendwas zwischen ihm und dem Mainboard.

Ich holte es mit der

Pinzette raus und leuchtete es an.

Das war was Neues in meiner Tastatur. Ein kleines Bröckchen Hardware, nur gut einen Millimeter

dick, ohne Kennzeichnung. Das Keyboard war daran angeschlossen, und es selbst war ans Mainboard

angestöpselt. Mit anderen Worten: Es war am genau richtigen Platz, um alle Tastatureingaben

aufzuzeichnen, während ich an der Maschine tippte.

Es war eine Wanze.

Mein Herz pochte bis zu den Ohren. Es war dunkel und ruhig im Haus, aber es war keine beruhigende

Dunkelheit. Da draußen waren Augen, Augen und Ohren, und die beobachteten mich. Überwachten

mich. Die Überwachungsmaßnahmen aus der Schule waren mir bis nach Hause gefolgt, aber dieses

Mal schaute mir nicht nur die Schulbehörde über die Schulter: Die Heimatschutzbehörde war jetzt

auch dabei.

Fast hätte ich die Wanze rausgenommen. Dann fiel mir ein, dass derjenige, der das Ding eingebaut

hatte, merken würde, wenn es nicht mehr drin war. Mir wurde übel dabei, aber ich ließ es drin.

Ich schaute rum, ob mir noch mehr Eingriffe auffielen. Ich fand sonst nichts, aber bedeutete das auch,

dass wirklich nichts da war? Jemand war in mein Zimmer eingedrungen und hatte dieses Gerät

installiert -- er hatte meinen Laptop zerlegt und wieder zusammengebaut. Es gab noch etliche andere

Möglichkeiten, einen Computer anzuzapfen. Die würde ich niemals alle finden.

Mit tauben Fingern baute ich die Maschine wieder zusammen. Dieses Mal ließ sich nicht nur das

Gehäuse sauber schließen, sondern das Stromkabel blieb auch drin. Ich fuhr den Rechner hoch und

war schon mit den Fingern auf der Tastatur, um ein paar Prüfungen laufen zu lassen und die Dinge zu

sortieren.

Aber ich konnte es nicht.

Verdammt, vielleicht war mein ganzes Zimmer verwanzt. Vielleicht spähte mich grade eine Kamera

aus.

Als ich heimkam, hatte ich mich schon paranoid gefühlt. Aber jetzt war ich

völlig neben der Spur. Ich

fühlte mich so, als ob ich wieder im Knast wäre, wieder im Befragungszimmer, verfolgt von Mächten,

die mich vollständig unter Kontrolle hatten. Fast fing ich wieder an zu weinen.

Nur noch dieses eine.

Ich ging ins Badezimmer, nahm die Klopapierrolle raus und setzte eine neue ein.

Zum Glück war die

alte sowieso fast leer. Ich rollte den Rest Papier ab und kramte in meiner Teilekiste, bis ich den

kleinen Plastikumschlag mit den ultrahellen weißen LEDs gefunden hatte, die ich aus einer kaputten

Fahrradleuchte ausgebaut hatte. Vorsichtig drückte ich ihre Anschlüsse durch die Plastikröhre,

nachdem ich mit einer Nadel passende Löcher gemacht hatte; dann holte ich Draht und schaltete sie

alle mit kleinen Metallklammern in Reihe. Die Kabelenden bog ich passend zurecht und schloss sie an

eine 9-Volt-Batterie an. Jetzt hatte ich eine Röhre mit einem Ringlicht aus ultrahellen, gerichteten

LEDs, die ich vors Auge halten und durchschauen konnte.

So eine hatte ich letztes Jahr als Projektbeitrag zur Wissenschafts-Messe gebaut, und man hatte mich

aus der Ausstellung geworfen, nachdem ich gezeigt hatte, dass in der Hälfte aller Klassenzimmer in

Chavez High versteckte Kameras installiert waren. Stecknadelkopfgroße Videokameras kosten

heutzutage weniger als ein gutes Abendessen im Restaurant, deshalb tauchen sie an allen Ecken und

Enden auf. Tückische Ladenangestellte installieren das Zeug in Umkleidekabinen oder Sonnenstudios

und werden spitz von dem Zeug, das ihnen da von den Kunden präsentiert wird; manchmal laden sies

auch bloß ins Internet hoch. Zu wissen, wie man aus einer Klopapierrolle und Kleinteilen für drei

Dollar einen Kameradetektor baut, ist einfach nur vernünftig.

Das ist die einfachste Methode, eine Schnüffelkamera zu erwischen. Die haben zwar winzige

Objektive, reflektieren aber trotzdem wie Sau. Am besten funktioniert das in einem abgedunkelten

Zimmer: Guck durch die Röhre und such langsam die Wände ab und all die anderen Orte, wo jemand

eine Kamera versteckt haben könnte, bis du den Hauch einer Reflexion siehst.

Wenn die Reflexion da

bleibt, wenn du dich bewegst, ist es ein Objektiv.

In meinem Zimmer war keine Kamera -- zumindest keine, die ich erkennen konnte. Audio-Wanzen

hätten natürlich trotzdem da sein können. Oder bessere Kameras. Oder gar nichts. Kann ich was dafür,

dass ich Paranoia entwickelte?

Ich mochte diesen Laptop gern. Ich nannte ihn „Salmagundi“, was soviel heißt wie „etwas aus

Ersatzteilen Zusammengebautes“.

Wenn man erst mal damit anfängt, seinem Laptop einen Namen zu geben, ist klar, dass man eine enge

Beziehung zu dem Teil hat. Aber jetzt hatte ich das Gefühl, ich würde ihn nie wieder berühren mögen.

Ich wollte ihn aus dem Fenster werfen. Wer weiß, was die damit gemacht hatten?

Wer weiß, wie der

angezapft war?

Ich klappte ihn zu, steckte ihn in eine Schublade und starrte an die Decke. Es war spät, und ich sollte

schlafen. Aber jetzt konnte ich schon mal gar nicht schlafen. Ich war verwanzt.

Jeder konnte verwanzt

sein. Die Welt war für immer eine andere geworden.

„Irgendwie krieg ich die“, sagte ich. Das war ein Schwur, ich wusste es, als ich es hörte, obwohl ich

nie zuvor einen Schwur geleistet hatte.

Jetzt konnte ich nicht mehr schlafen. Und außerdem hatte ich eine Idee.

Irgendwo im Schrank hatte ich noch einen eingeschweißten Karton mit einer unberührten,

originalverpackten Xbox Universal. Jede Xbox war deutlich unter Herstellungspreis verkauft worden

-- Microsoft macht das meiste Geld damit, Lizenzgebühren von Spielefirmen zu nehmen, die Xbox-Spiele vertreiben wollen --, aber die Universal war die erste Xbox, die Microsoft völlig gratis unters

Volk brachte.

Letzten Advent standen an jeder Ecke arme Loser, verkleidet als Krieger aus der

Halo-Serie, und

hauten Taschen mit diesen Spielkonsolen raus, so schnell sie konnten. Scheint funktioniert zu haben --

jeder sagt, sie hätten einen Riesenberg Spiele verkauft. Natürlich gabs Sicherheitsvorkehrungen,

damit du damit wirklich nur Spiele von Firmen spielen konntest, die dafür Lizenzen von Microsoft

erworben hatten.

Hacker gehen durch solche Sperren glatt durch. Die Ur-Xbox wurde von nem Jungen am MIT

gecrackt, der dann einen Bestseller drüber schrieb; dann war die 360 an der Reihe, und danach ging

die kurzlebige Xbox portable in die Knie (wir nannten sie „die Schleppbox“, weil sie drei Pfund wog).

Die Universal sollte komplett kugelsicher sein. Die Highschool-Kids, die sie knackten, waren

brasilianische Linux-Hacker, die in einer Favela lebten, einer illegalen Armen-Siedlung.

Unterschätze nie die Entschlossenheit eines Jungen mit viel Zeit und wenig Geld.

Als die Brasilianer ihren Hack veröffentlichten, fuhren wir alle drauf ab. Bald gabs Dutzende

alternativer Betriebssysteme für die Xbox Universal. Meine erste Wahl war ParanoidXbox, eine

Variante von ParanoidLinux. Dieses Betriebssystem geht davon aus, dass der Benutzer von seiner

Regierung unter Druck gesetzt wird (ursprünglich war es für chinesische und syrische Dissidenten

gedacht), und ist darauf ausgelegt, deine Kommunikation und deine Dokumente möglichst geheim zu

halten. Es setzt sogar Pseudokommunikation in Gang, um den Umstand zu verschleiern, dass du grade

was Geheimes machst. Während du zum Beispiel Buchstabe für Buchstabe eine politische Nachricht

erhältst, tut ParanoidLinux so, als surfst du im Web und flirtest in Chats. Dabei ist jeder

fünfhundertste Buchstabe, der bei dir ankommt, Teil der eigentlichen Nachricht, eine Nadel in einem

gigantischen Heuhaufen.

Ich hatte mir ne ParanoidXbox-DVD gebrannt, als es frisch draußen war, aber irgendwie war ich nie

dazu gekommen, die Xbox in meinem Schrank auszupacken, einen Fernseher zum Anschließen zu

finden und so weiter. Mein Zimmer ist auch so schon verstopft genug, ohne dass Microsoft-Crashware

wertvollen Raum beansprucht.

Heute Nacht würde ich den Raum opfern. Es dauerte etwa zwanzig Minuten, bis alles lief. Keine

Glotze zu haben war das kniffligste Problem, aber dann fiel mir ein, dass ich noch einen kleinen LCDProjektor

mit Standard-TV-Eingängen hatte. Ich schloss die Xbox an, warf das Bild an meine

Zimmertür und installierte ParanoidLinux.

Jetzt war ich soweit, und ParanoidLinux suchte nach anderen Xbox Universals, mit denen es sprechen

konnte. Jede Xbox Universal hat WLAN für Mehrspieler-Modi eingebaut. Du kannst dich mit deinen

Nachbarn direkt drahtlos verbinden oder übers Internet, wenn du einen drahtlosen Zugang hast. Ich

fand drei Nachbarn in Funkreichweite. Zwei davon hatten ihre Xbox Universal auch mit dem Internet

verbunden. Das war für ParanoidXbox ideal: Es konnte einen Teil der InternetVerbindungen der

Nachbarn für sich abzweigen und so über das Spielenetzwerk selbst online gehen. Den Nachbarn

würde das bisschen Datentransfer nicht auffallen: Sie hatten Flatrate-Internetverbindungen, und

nachts um zwei surften sie selbst nicht viel.

Das Beste an all dem war, dass ich wieder das Gefühl hatte, alles unter Kontrolle zu haben. Meine

Technik arbeitete für mich, diente mir, beschützte mich. Sie schnüffelte mir nicht hinterher. Dafür

liebte ich Technik: Wenn du sie richtig benutzt, gibt sie dir Macht und Privatsphäre.

Mein Gehirn lief jetzt auf vollen Touren. Es gab ne Menge Gründe, mit ParanoidXbox zu arbeiten --

vor allem, dass jeder dafür Spiele schreiben konnte. MAME, der „Multiple Arcade-Maschinen-

Emulator“, war schon portiert, so dass man praktisch jedes je geschriebene Spiel laufen lassen konnte,

ganz bis zurück zu Pong -- Spiele für den Apple ][+, für die Colecovision, für die NES, die Dreamcast

und so weiter.

Und noch besser waren all die coolen Multiplayer-Spiele, die speziell für ParanoidXbox geschrieben

waren -- kostenlose Spiele von Hobbyprogrammierern, die jeder benutzen konnte. Alles in allem

hattest du also ne Gratiskonsole mit lauter Gratisspielen, die dir Gratis-Internetzugang verschaffte.

Und am besten war, soweit es mich betraf, dass ParanoidXbox wirklich paranoid war. Dein gesamter

Datenverkehr wurde bis zur Unkenntlichkeit verquirlt. Man könnte es abhören, so viel man wollte,

aber man würde nicht rauskriegen, wer da sprach, worüber sie sprachen oder mit wem. Anonymes

Web, Mail und Messaging. Genau das, was ich brauchte.

Jetzt musste ich nur noch jeden, den ich kannte, dazu bringen, es auch zu benutzen.

Kapitel 6

Dieses Kapitel ist Powell‘s Books gewidmet, der legendären „Stadt der Bücher“

in Portland, Oregon. Powell‘s ist die größte

Buchhandlung der Welt, ein endloses Universum von Papiergerüchen und turmhohen Regalen über mehrere Etagen. Dort

stellen sie neue und gebrauchte Bücher in dieselben Regale -- das ist etwas, das

ich schon immer mochte --, und jedes Mal, wenn ich dort bin, hatten sie einen ordentlichen Berg meiner Bücher vorrätig und waren unglaublich liebenswürdig, wenn es

darum ging, meine vorrätigen Bücher zu signieren. Die Angestellten sind freundlich, die Auswahl überwältigend, und es gibt sogar einen Powell‘s am Flughafen in Portland, für meinen Geschmack der beste Flughafen-Buchladen der Welt!

Powell‘s Books: http://www.powells.com/cgi-bin/biblio?isbn=9780765319852

1005 W Burnside, Portland, OR 97209 USA +1

800 878 7323

b ihrs glaubt oder nicht, meine Eltern bestanden drauf, dass ich am nächsten Tag zur Schule

ging. Erst um drei war ich in fiebrigen Schlaf gefallen, aber um sieben stand mein Dad am

Fußende des Bettes und drohte mich an den Knöcheln rauszuziehen. Irgendwie schaffte ichs,

aufzustehen -- etwas musste in meinem Mund gestorben sein, nachdem es mir die Augenlider

zugekleistert hatte -- und die Dusche zu finden.

O

Ich erlaubte meiner Mom, eine Scheibe Toast und eine Banane in mich reinzuzwingen, und wünschte

mir nichts mehr, als dass meine Eltern mich daheim mal Kaffee trinken ließen.

Ich konnte mir zwar

einen auf dem Weg zur Schule besorgen, aber ihnen dabei zuzusehen, wie sie ihr schwarzes Gold

schlürften, während ich meinen Hintern durchs Haus schleppte, mich anzog und meine Bücher in die

Tasche packte, das war mies.

Ich bin den Weg zur Schule schon tausend Mal gegangen, aber dieses Mal wars anders. Ich ging über

die Hügel runter ins Mission-Viertel, und überall waren Trucks. Ich sah, dass an vielen Stoppschildern

neue Sensoren und Verkehrsüberwachungskameras installiert waren.

Irgendjemand hatte eine Menge

Schnüffelzeug rumliegen gehabt und nur auf die erste Gelegenheit gewartet, es installieren zu können.

Der Anschlag auf die Bay Bridge war genau das gewesen, was diese Leute brauchten.

Das alles machte die Stadt irgendwie gedämpfter, wie in einem Fahrstuhl, die erhöhte

Aufmerksamkeit deiner Nachbarn und die allgegenwärtigen Kameras waren bedrückend.

Der türkische Coffeeshop auf der 24. Straße peppte mich mit einem Türkischen Kaffee zum

Mitnehmen auf. Im Grunde ist Türkischer Kaffee Schlamm, der behauptet, Kaffee zu sein. Er ist

dickflüssig genug, dass ein Löffel drin stehenbleibt, und hat viel mehr Koffein als Red Bull und diese

ganze Kinderbrause. Glaubt es jemandem, der den Wikipedia-Eintrag gelesen hat: Das Ottomanische

Reich wurde erobert von wildgewordenen Reitern, die von tödlich-tiefschwarzem Kaffeeschlamm

angetrieben waren.

Ich zog meine Kreditkarte zum Zahlen raus und er zog ein Gesicht. „Kein Kredit mehr“, sagte er.

„Was? Warum nicht?“ Meine Kaffeesucht hatte ich beim Türken schon seit Jahren mit der Kreditkarte

gezahlt. Er zog mich ständig auf, behauptete, ich sei noch zu jung, das Zeug zu trinken, und weigerte

sich komplett, mir während der Unterrichtszeit was zu verkaufen, weil er sicher war, ich würde die

Schule schwänzen. Aber im Lauf der Jahre hatten der Türke und ich so eine Art stillschweigendes

Einvernehmen entwickelt.

Er schüttelte traurig den Kopf. „Das würdest du nicht verstehen. Geh zur Schule, Junge.“ Der

sicherste Weg, mich dazu zu bringen, etwas verstehen zu wollen, ist zu behaupten, das würde ich

nicht verstehen. Ich beschwätzte ihn und bestand drauf, dass ers mir erzählte.

Erst guckte er, als sei er

drauf und dran, mich rauszuwerfen, aber als ich ihn fragte, ob ich ihm als Kunde nicht mehr gut

genug sei, taute er auf.

„Sicherheit“, sagte er und schaute über seinen kleinen Laden mit den Packungen voll getrockneter

Bohnen und Samen, den Regalen mit türkischem Obst und Gemüse. „Die Regierung. Überwachen

jetzt alles; stand in der Zeitung. PATRIOT Act II hat Kongress gestern

beschlossen. Jetzt können sie immer sehen, wenn du deine Karte benutzt. Ich sage nein. Ich sage, mein Laden hilft ihnen nicht

dabei, meine Kunden auszuschnüffeln.“

Meine Kinnlade klappte runter.

„Denkst du vielleicht, was macht das schon? Wo ist das Problem, wenn Regierung weiß, wann du

Kaffee kaufst? Weil sie wissen, wo du bist und wo du warst. Warum denkst du, ich bin aus Türkei

fort? Wo Regierung immer das Volk ausspioniert, ist nicht gut. Ich komme vor zwanzig Jahren wegen

Freiheit hierher -- ich helfe ihnen nicht, Freiheit wegzunehmen.“

„Aber Sie verlieren so viele Kunden“, stammelte ich. Ich wollte ihm sagen, dass er ein Held sei, und

seine Hand schütteln, aber nur das kam raus. „Jeder benutzt Kreditkarten.“

„Vielleicht nicht mehr so viel. Vielleicht kommen meine Kunden hierher, weil sie wissen, ich liebe

auch Freiheit. Ich mache Schild für Fenster. Vielleicht machen andere Läden auch. Ich höre, ACLU

will sie deshalb verklagen.“

„Ich komm ab jetzt jedenfalls nur noch zu ihnen“, sagte ich und meinte es so.

Dann kramte ich in der

Hosentasche. „Oh, ich habe gar kein Geld dabei.“

Er deutete ein Lächeln an und nickte. „Viel Leute sagen dasselbe. Alles gut.

Geld von heute kannst du

der ACLU geben.“

Binnen zwei Minuten hatten der Türke und ich mehr Worte gewechselt als in all der Zeit, seit ich in

seinen Laden kam. Ich hatte nie geahnt, dass er all diese Leidenschaft hatte. Ich hatte ihn immer nur

als den freundlichen Koffein-Dealer von nebenan betrachtet. Jetzt schüttelte ich ihm die Hand und

verließ den Laden. Ich hatte das Gefühl, er und ich seien nun ein Team. Ein geheimes Team.

Ich hatte zwei Tage Schule verpasst, aber anscheinend hatte ich nicht viel Unterricht verpasst. An

einem der Tage, als die Stadt mühsam wieder zur Besinnung kam, hatten sie die Schule geschlossen.

Am nächsten Tag hatten sie sich, wies schien, ausschließlich damit beschäftigt, um diejenigen von uns

zu trauern, die vermisst wurden und wahrscheinlich tot waren. Die Zeitungen veröffentlichten

Biografien der Vermissten und persönliche Erinnerungen. Das Web war voll mit Tausenden solcher

Nachrufhülsen.

Blöderweise war ich einer von diesen Leuten. Kaum kam ich ahnungslos auf den Schulhof, war ein

Schrei zu hören und sofort standen hundert Leute um mich rum, klopften mir auf die Schultern,

schüttelten meine Hand. Ein paar Mädchen, die ich nicht mal kannte, küssten mich, und das waren

nicht bloß freundschaftliche Küsse. Ich fühlte mich wie ein Rockstar.

Meine Lehrer waren kaum zurückhaltender. Ms. Galvez weinte fast so sehr wie meine Mutter und

umarmte mich drei Mal, bevor sie mich an meinen Platz gehen ließ. Da war was Neues vorn im

Klassenzimmer. Eine Kamera. Ms. Galvez sah, wie ich dorthin starrte, und gab mir eine

Einverständniserklärung auf kopiertem, verschmiertem Schulbriefpapier.

Die übergeordnete Schulbehörde des Bezirks San Francisco hatte übers Wochenende eine

Dringlichkeitssitzung einberufen und einstimmig beschlossen, von den Eltern jedes Schülers in der

Stadt das Einverständnis einzuholen, in jeder Klasse und jedem Flur Überwachungskameras zu

installieren. Das Gesetz besagte zwar, dass man uns nicht zwingen konnte, eine komplett überwachte

Schule zu besuchen, aber davon, dass wir unsere verfassungsmäßigen Rechte auch freiwillig

aufgeben könnten, stand nichts drin. In dem Brief hieß es, dass die Behörde sicher sei, das

Einverständnis aller Eltern der Stadt zu erhalten, dass man es aber auch einrichten wolle, Kinder nicht

damit einverstandener Eltern in „ungeschützten“ Klassenzimmern zu unterrichten.

Warum hatten wir jetzt Kameras in den Klassenzimmern? Terroristen, na klar.

Weil sie damit, dass sie

eine Brücke sprengten, angedeutet hatten, dass als Nächstes Schulen an der Reihe waren. Jedenfalls

war das die Erkenntnis, zu der die Behörde gelangt war.

Ich las die Mitteilung drei Mal durch und hob dann die Hand.

„Ja, Marcus?“

„Ms. Galvez, eine Frage zu dieser Mitteilung.“

„Was denn, Marcus?“

„Geht es denn bei Terrorismus nicht darum, uns Angst zu machen? Das ist doch, warum es

Terrorismus heißt, oder?“

„Ich glaube schon.“ Die Klasse starrte mich an. Ich war nicht der beste Schüler dieser Schule, aber ich

liebte anständige Diskussionen in der Klasse. Die anderen warteten gespannt drauf, was ich als

Nächstes sagen würde.

„Tun wir dann also nicht genau das, was die Terroristen von uns erwarten? Die haben doch gewonnen,

wenn wir völlig panisch sind und Kameras in Klassenräumen installieren und all so was, oder?“

Nervöses Tuscheln. Einer der anderen hob die Hand. Es war Charles. Ms. Galvez rief ihn auf.

„Kameras zu installieren macht uns sicherer, und das macht uns weniger ängstlich.“

„Sicher wovor?“, fragte ich, drauf zu warten, aufgerufen zu werden.

„Terrorismus“, sagte Charles. Die anderen nickten mit den Köpfen.

„Aber wie denn? Wenn hier ein Selbstmordattentäter reinrauschen und uns alle hochjagen würde …“

„Ms. Galvez, Marcus verletzt die Schulregeln. Wir sollen doch keine Witze über Terroranschläge

machen.“

„Wer macht hier Witze?“

„Vielen Dank, ihr beiden“, sagte Ms. Galvez. Sie sah ziemlich unglücklich aus, und es tat mir ein

bisschen Leid, ihren Unterricht dafür beansprucht zu haben. „Ich denke, das ist eine wirklich

interessante Diskussion, aber ich möchte sie auf später vertagen. Ich glaube, diese Dinge sind noch zu

gefühlsbeladen, als dass wir sie heute schon diskutieren sollten. Jetzt also bitte zurück zu den

Suffragisten, ja?“

Also verwendeten wir den Rest der Stunde darauf, über die Suffragisten zu sprechen und über die

neuen Lobbyismus-Strategien, die sie entwickelt hatten: Wie sie vier Frauen ins Büro jedes einzelnen

Kongressabgeordneten geschickt hatten, um ihm klarzumachen, was es für seine politische Zukunft

bedeuten würde, wenn er Frauen auch weiterhin das Wahlrecht verweigern sollte. Normalerweise

mochte ich solche Sachen -- kleine Leute, die die Großen, Mächtigen dazu brachten, ehrlich zu sein.

Aber heute konnte ich mich nicht konzentrieren. Das musste an Darryls Fehlen

liegen. Wir mochten

Gesellschaftskunde beide gern, und wir hatten immer binnen Sekunden unsere SchulBooks draußen

und eine Messaging-Session laufen, unseren Rückkanal, um über den Unterricht zu reden.

Ich hatte in der Nacht zuvor zwanzig ParanoidXbox-Scheiben gebrannt und hatte sie alle in meiner

Tasche. Die gabe ich Leuten, von denen ich wusste, dass sie harte Spieler waren.

Sie hatten alle

letztes Jahr eine Xbox Universal oder zwei bekommen, aber die meisten hatten irgendwann aufgehört,

sie zu benutzen. Die Spiele waren ziemlich teuer und nicht sonderlich gut. Ich nahm sie zwischen

zwei Unterrichtsblöcken, beim Mittagessen oder im Studienraum beiseite und schwärmte ihnen in

höchsten Tönen von ParanoidXbox-Spielen vor. Gratis und gut --

Gemeinschaftsspiele mit

Suchtpotenzial, bei denen man mit lauter coolen Leuten rund um die Welt spielte.

Etwas zu verschenken, um was anderes zu verkaufen, ist ein Rasierklingen-Geschäftsmodell -- Firmen

wie Gillette geben dir Rasierer gratis, um dir dann mit den teuren Klingen das Geld aus der Tasche zu

ziehen. Druckertinte ist da am schlimmsten -- der teuerste Champagner der Welt ist billig im Vergleich

zu Druckertinte, die zudem in der Herstellung lachhaft billig ist.

„Rasierklingen“-Firmen leben davon, dass du die „Klingen“ nirgendwo anders bekommst. Denn wenn

Gillette neun Dollar an einer Zehn-Dollar-Ersatzklinge verdient, was liegt dann näher, als einen

Wettbewerber zu gründen, der an einer identischen Klinge nur vier Dollar verdient? So eine 80-Prozent-Verdienstspanne ist etwas, das einen typischen Businesstypen ganz schon nervös macht.

Deshalb geben sich Rasierklingen-Firmen wie Microsoft so viel Mühe, es schwierig und/oder illegal

zu machen, ihnen mit ihren Klingen Konkurrenz zu machen. In Microsofts Fall hatte jede Xbox einige

Abwehrmechanismen eingebaut, die dich davon abhalten sollten, Software von Leuten drauf laufen zu

lassen, die noch kein Blutgeld an Microsoft gezahlt hatten für das Recht, Xbox-Programme zu

verkaufen.

Die Leute, die ich traf, dachten über so was nicht groß nach. Aber sie wurden hellhörig, als ich ihnen

erzählte, dass die Spiele nicht kontrolliert wurden. Heutzutage ist jedes Online-Spiel voll mit allen

möglichen unappetitlichen Typen. Zum einen gibt’s die Perversen, die dich in irgendwelche

abgelegenen Ecken zu locken versuchen, um dann bizarre Schweigen-derLämmer-Spielchen mit dir

zu spielen. Dann sind da Bullen, die sich als naive Kiddies ausgeben, um die Perversen hochnehmen

zu können. Aber am schlimmsten sind diese Kontrolleur-Typen, die nichts anderes zu tun haben,

unsere Diskussionen auszuhorchen und uns zu verpetzen, weil wir ihre Geschäftsbedingungen verletzt

haben, in denen Flirten, Fluchen und „Sprache, die offen oder verdeckt dazu geeignet ist, jedweden

Aspekt von sexueller Orientierung oder Sexualität herabzuwürdigen“ streng verboten sind.

Ich bin nicht rund um die Uhr auf Sex fixiert, aber ich bin ein siebzehnjähriger Junge. Natürlich redet

man dann und wann über Sex. Aber wehe, man redet im Chat während des Spielens drüber -- dann ist

sofort die Luft raus. Die ParanoidXbox-Spiele kontrollierte niemand, denn die wurden nicht von einer

Firma betrieben; das waren bloß Spiele, die Hacker so zum Spaß geschrieben hatten.

Deshalb fanden diese Hardcore-Spieler die Nummer klasse. Sie nahmen die Scheiben liebend gern

und versprachen, Kopien für all ihre Freunde zu brennen -- Spiele machen nun mal den meisten Spaß,

wenn du sie mit deinen Kumpels spielst.

Als ich heim kam, las ich, dass eine Gruppe von Eltern wegen der Überwachungskameras in den

Klassenzimmern gegen die Schulbehörde klagte, aber dass sie mit ihrem Versuch, eine einstweilige

Verfügung dagegen zu erwirken, bereits gescheitert waren.

Ich weiß nicht mehr, wer sich den Namen Xnet ausdachte, aber er blieb hängen.

Man konnte die

Leute im Nahverkehr drüber reden hören. Van rief mich an, um zu fragen, ob ich schon davon gehört

hatte, und ich verschluckte mich fast, als ich begriff, worüber sie redete: Die Scheiben, die ich letzte

Woche zu verteilen begonnen hatte, waren so oft kopiert und weitergereicht worden, dass sies in der

Zeit ganz bis Oakland geschafft hatten. Machte mich etwas nervös -- als ob ich eine Regel gebrochen

hatte, und jetzt würde das DHS kommen und mich für immer wegsperrren.

Es waren harte Wochen gewesen. In der BART konnte man jetzt überhaupt nicht mehr bar bezahlen,

sie hatten dafür „kontaktlose“ RFID-Karten eingeführt, die man an den Drehkreuzen rumwedelte, um

durchzukommen. Die waren zwar cool und bequem, aber jedes Mal, wenn ich sie benutzte, dachte ich

daran, wie man mich damit tracken konnte. Jemand postete im Xnet einen Link zu einem Infopapier

der Electronic Frontier Foundation über die Möglichkeiten, mit diesen Dingern Bewegungsprofile von

Menschen zu erstellen, und das Dokument enthielt einige winzige Meldungen über kleine Gruppen

von Leuten, die an BART-Stationen demonstriert hatten.

Das Xnet nutzte ich jetzt für so ziemlich alles. Ich hatte mir eine Tarn-E-Mail-Adresse über die

Piratenpartei eingerichtet, eine politische Partei in Schweden, die Internetüberwachung hasste und

versprach, Mailaccounts bei ihr vor jedermann geheim zu halten, auch vor den Bullen. Ich griff darauf

ausschließlich via Xnet zu, zappte von der Internetverbindung des einen Nachbarn zu der des

nächsten und blieb dabei -- hoffentlich -- auf der ganzen Strecke bis Schweden anonym. Ich war nicht

mehr w1n5ton; wenn Benson dahinter kommen konnte, dann konnte das jeder.

Mein neues, spontan

ausgedachtes Alias war M1k3y, und ich bekam eine Menge E-Mails von Leuten, die in Chats und

Foren gehört hatten, dass ich ihnen dabei helfen konnte, Probleme beim Einrichten und Verbinden mit

dem Xnet zu lösen.

Harajuku Fun Madness fehlte mir. Die Firma hatte das Spiel für unbestimmte Zeit auf Eis gelegt. Sie

sagten, es sei „aus Sicherheitsgründen“ keine gute Idee, Dinge zu verstecken und Leute

loszuschicken, um sie zu finden. Wenn nun jemand dachte, das sei eine Bombe?

Oder wenn jemand

wirklich eine Bombe an derselben Stelle versteckte?

Wenn ich nun vom Blitz getroffen wurde, während ich mit einem Regenschirm unterwegs war?

Verbietet Regenschirme! Kampf der Bedrohung durch Blitze!

Meinen Laptop benutzte ich weiter, aber ich hatte ein ungutes Gefühl dabei. Wer

auch immer ihn

angezapft hatte, würde sich wundern, warum ich ihn nicht mehr benutzte. Also surfte ich planlos

damit herum, jeden Tag ein bisschen weniger, damit jeder Beobachter sehen würde, dass sich meine

Gewohnheiten allmählich änderten und nicht von jetzt auf gleich. Hauptsächlich las ich diese

grausamen Nachrufe -- all die Tausende Freunde und Nachbarn, die nun tot am Grunde der Bay lagen.

Um ehrlich zu sein: Hausaufgaben machte ich jeden Tag wirklich weniger. Ich hatte andere Dinge zu

tun. Jeden Tag brannte ich einen neuen Stapel ParanoidXbox, fünfzig oder sechzig, und verteilte sie in

der Stadt an Leute, von denen ich gehört hatte, dass sie bereit waren, auch wieder sechzig zu brennen

und an ihre Freunde weiterzugeben.

Allzu viel Angst, deshalb geschnappt zu werden, hatte ich nicht, weil ich gute Krypto auf meiner Seite

hatte. „Krypto“ bedeutet Kryptografie oder „geheimes Schreiben“, und es gab sie schon seit den alten

Römern (wortwörtlich: Caesar Augustus war ein großer Fan und erfand gern seine eigenen Codes,

von denen wir heute noch welche verwenden, um lustige Betreffzeilen in EMails

zusammenzuwürfeln).

Krypto ist Mathematik. Höhere Mathematik. Ich werde erst gar nicht versuchen,

sie im Detail zu

erklären, denn in Mathe bin ich dafür nicht gut genug -- wenn ihrs wirklich wissen wollt, schlagt in

der Wikipedia nach.

Aber hier ist die Kurzfassung: Es gibt mathematische Berechnungen, die in die eine Richtung sehr

leicht sind, aber in die entgegengesetzte Richtung unheimlich schwierig. Es ist zum Beispiel leicht,

zwei große Primzahlen zu multiplizieren und als Ergebnis eine gigantisch große Zahl zu bekommen.

Aber es ist unglaublich schwierig, für eine gegebene gigantisch große Zahl die Primzahlen zu

ermitteln, deren Produkt sie ist.

Das bedeutet: wenn du einen Weg findest, einen Text unleserlich zu machen, der darauf beruht, große

Primzahlen zu multiplizieren, dann wird es knifflig sein, das Ergebnis wieder leserlich zu machen,

ohne diese Primzahlen zu kennen. Verdammt knifflig. So knifflig, dass alle jemals gebauten Computer

rund um die Uhr daran arbeiten könnten und doch in einer Bilion Jahren noch nicht damit fertig

wären.

Jede Krypto-Botschaft besteht aus vier Teilen: der ursprünglichen Botschaft, dem sogenannten

Klartext. Dem unleserlichen oder „chiffrierten“ Text. Dem Buchstaben-Vermengungssystem, genannt

„Chiffre“. Und schließlich dem Schlüssel: geheimem Zeug, das man mit dem Klartext in die Chiffre

einspeist, um chiffrierten Text zu erhalten.

Früher mal versuchten Krypto-Leute, alle diese Bestandteile geheim zu halten.

Jede Behörde und

Regierung hatte ihre eigenen Chiffren und ihre eigenen Schlüssel. Die Nazis und die Alliierten

wollten nicht, dass die jeweils Anderen wussten, wie sie ihre Nachrichten vermengten, und schon gar

nicht, dass sie die Schlüssel kannten, mit denen man die Nachrichten wieder leserlich machen konnte.

Klingt ja auch logisch, oder?

Falsch.

Als mir das erste Mal jemand von diesem Primfaktorierungs-Zeug erzählte, sagte ich sofort: „Was soll

der Scheiß? Okay, klar ist es schwierig, diese Primfaktorierungs-Berechnungen anzustellen, oder was

auch immer es genau ist. Aber es war auch mal unmöglich, auf den Mond zu fliegen oder eine

Festplatte mit mehr als ein paar Kilobyte Speicherplatz zu kaufen. Irgendjemand muss einen Weg

gefunden haben, die Nachrichten wieder zu entschlüsseln.“ Ich stellte mir vor, wie in einem

ausgehöhlten Berg lauter Mathematiker der Nationalen Sicherheitsbehörde jede E-Mail der Welt lasen

und sich eins kicherten.

Und tatsächlich ist ziemlich genau das während des Zweiten Weltkriegs passiert.

Deshalb ist das

Leben ja auch nicht so wie in Schloss Wolfenstein, wo ich viele Tage damit verbracht hatte, Nazis zu

jagen.

Das Ding ist: Chiffren lassen sich ganz schwer geheim halten. Eine Menge Mathe wird auf jede

einzelne verwendet, und wenn sie weit verbreitet sind, dann muss jeder, der sie benutzt, sie ebenfalls

geheim halten, und wenn jemand die Seiten wechselt, muss man eine neue Chiffrierung austüfteln.

Die Nazi-Chiffre hieß Enigma, und sie verwendeten einen kleinen mechanischen Rechner, die

Enigma-Maschine, um ihre Botschaften zu ver- und entschlüsseln. Jedes U-Boot, jedes Schiff und

jede Funkstation brauchte so eine Maschine, deshalb war es unvermeidlich, dass den Alliierten

irgendwann eine in die Hände fiel.

Und als sie sie hatten, knackten sie sie. Diese Aufgabe lösten sie unter Führung meines größten

Helden, eines Typen namens Alan Turing -- praktisch der Erfinder des Computers, wie wir ihn heute

kennen. Sein Pech war, dass er schwul war; deshalb zwang die dämliche britische Regierung ihn nach

Kriegsende zu einer Hormontherapie, die seine Homosexualität „heilen“ sollte, und daraufhin brachte

er sich um. Darryl hatte mir eine Biografie von Turing zu meinem 14.

Geburtstag geschenkt -- in

zwanzig Schichten Papier eingewickelt und in einem recycelten Spielzeug-Batmobil versteckt, das

war Darryls Art, was zu verpacken --, und seither war ich ein Turing-Junkie.

Jedenfalls hatten die Alliierten jetzt also die Enigma-Maschine, und sie konnten eine Menge Nazi-Funksprüche abfangen; aber das hätte noch kein Problem sein dürfen, denn jeder Kapitän hatte ja

seinen eigenen geheimen Schlüssel. Und weil die Alliierten die Schlüssel nicht hatten, hätte die

Maschine ihnen noch nichts nützen dürfen.

Aber jetzt kommt der Punkt, an dem Geheimniskrämerei der Krypto schadet: Die Enigma-Chiffre war

fehlerhaft. Als Turing sie sich näher anschaute, entdeckte er, dass die Nazi-Kryptografen einen

mathematischen Fehler gemacht hatten. So konnte Turing nur dadurch, eine Enigma-Maschine in die

Hände zu bekommen, austüfteln, wie man jede Nazi-Botschaft knacken konnte, egal welchen

Schlüssel sie verwendeten.

Deshalb verloren die Nazis den Krieg. Nicht dass ihr das falsch versteht: Das ist eine gute Nachricht.

Glaubt es einem Schloss-Wolfenstein-Veteranen: Ihr würdet es nicht mögen, wenn Nazis das Land

regierten.

Nach dem Krieg dachten Kryptografen lange über diese Sache nach. Das Problem war gewesen, dass

Turing klüger war als der Typ, der sich Enigma ausgedacht hatte. Jedes Mal, wenn du eine Chiffre

hattest, warst du anfällig dafür, dass jemand, der klüger war als du, einen Weg fand, sie zu knacken.

Und je länger sie drüber nachdachten, desto mehr wurde ihnen klar, dass sich zwar jeder ein

Sicherheitssystem ausdenken kann, das er selbst nicht knacken könnte. Aber niemand kann vorher

wissen, was ein klügerer Mensch damit machen könnte.

Also musst du eine Chiffre veröffentlichen, um zu wissen, ob sie funktioniert.

Du musst so vielen

Leuten wie möglich sagen, wie sie funktioniert, damit sie mit all ihren Mitteln darauf los gehen und

ihre Sicherheit auf die Probe stellen können. Je länger sie hält, ohne dass jemand einen Schwachpunkt

findet, desto sicherer bist du.

Und so siehts heute aus. Wenn du auf Nummer Sicher gehen willst, dann verwendest du keine Krypto,

die sich irgendein Genie letzte Woche ausgedacht hat. Du verwendest lieber das Zeug, das schon so

lange wie möglich im Umlauf ist, ohne dass schon jemand einen Weg gefunden hätte, es zu knacken.

Ob du ne Bank bist, ein Terrorist, eine Regierung oder ein Teenager, ihr benutzt alle dieselben

Chiffren.

Wenn du also versuchen würdest, deine eigene Chiffre zu verwenden, dann wäre es ziemlich

wahrscheinlich, dass irgendwer da draußen schon den Schwachpunkt gefunden hat, den du übersehen

hast, und dass er dich drankriegt wie damals Turing; der könnte dann all deine

„geheimen“

Botschaften lesen und sich über dein dummes Geschwätz, deine Geldgeschäfte und deine

militärischen Geheimnisse amüsieren.

Deshalb wusste ich, dass Krypto mich vor Mithörern schützte; aber auf Histogramme war ich nicht

vorbereitet.

Ich stieg aus der BART und schwenkte meine Karte über dem Drehkreuz, rauf zur Station 24. Straße.

Wie üblich hingen etliche Bekloppte in der Haltestelle ab, Betrunkene, Jesus-Freaks, finstere

Mexikaner, die auf den Boden starrten, und ein paar Gang-Kids. Ich guckte stur an ihnen vorbei, als

ich zur Treppe ging und dann nach oben joggte. Meine Tasche war jetzt leer, nicht mehr übervoll mit

den ParanoidXbox-Scheiben, die ich verteilt hatte, und das nahm den Druck von den Schultern und

beflügelte meinen Gang, als ich raus auf die Straße kam. Die Prediger waren immer noch bei ihrer

Arbeit, uns auf Spanisch und Englisch über Jesus etcetera zu belehren.

Die Verkäufer mit ihren gefälschten Sonnenbrillen waren weg, aber ihren Platz hatten Typen mit

Roboterhunden im Angebot eingenommen, die die Nationalhymne bellten und ihr Beinchen hoben,

wenn man ihnen ein Foto von Osama bin Laden zeigte. Wahrscheinlich ging in deren kleinen

Gehirnen ein bisschen was Interessantes vor, und ich nahm mir vor, später ein paar davon zu kaufen

und sie zu zerlegen. Gesichtserkennung war in Spielzeugen noch ziemlich neu; sie war erst kürzlich

vom Militärsektor zuerst zu Casinos auf der Suche nach Betrügern und zur Strafverfolgung gelangt.

Ich machte mich auf den Weg die 24. Straße runter Richtung Potrero Hill und heim, rollte meine

Schultern, sog die Burrito-Gerüche ein, die aus den Restaurants drangen, und dachte ans Abendessen.

Keine Ahnung, warum ich zufällig mal über die Schulter schaute, jedenfalls tat ichs. Vielleicht wars

ein bisschen unterbewusstes Sechster-Sinn-Zeug. Ich wusste einfach, dass mir jemand folgte.

Es waren zwei stämmige weiße Typen mit kleinen Schnurrbärten, die mich an Bullen und an die

schwulen Biker erinnerten, die durch Castro rauf- und runterrollten, aber Schwule hatten

normalerweise stylischere Frisuren. Sie trugen Blousons in der Farbe von kaltem Zement und Jeans,

und man konnte ihre Hüften nicht sehen. Ich dachte an all die Dinge, die ein Bulle an seiner Hüfte

tragen könnte, an den Werkzeuggürtel, den der DHS-Typ im Truck umhatte.

Beide Kerle trugen

Bluetooth-Sprechgarnituren.

Ich ging weiter, aber mein Herz klopfte wie wild. Ich hatte damit gerechnet, seit ich angefangen hatte.

Ich hatte damit gerechnet, dass das DHS rauskriegen würde, was ich tat. Ich war so vorsichtig wie nur

möglich, aber hatte Frau Strenger Haarschnitt nicht gesagt, sie würde mich unter Beobachtung halten?

Sie hatte mir gesagt, ich sei nun ein gezeichneter Mann. Mir wurde klar, dass ich tatsächlich drauf

gewartet hatte, hopsgenommen und ins Gefängnis gesteckt zu werden. Warum auch nicht? Warum

sollte Darryl im Knast sein und ich nicht? Was sprach schon für mich? Ich hatte noch nicht mal den

Mumm gehabt, meinen Eltern -- oder seinen -- zu erzählen, was mit uns tatsächlich passiert war.

Ich legte einen Zahn zu und machte in Gedanken Inventar. Nein, ich hatte nichts Verdächtiges in

meiner Tasche. Na ja, nichts allzu Verdächtiges. Auf meinem SchulBook lief der Crack, der mir

Messaging und das Zeug ermöglichte, aber die Hälfte der Leute in der Schule hatte das. Und ich hatte

die Verschlüsselung auf meinem Telefon geändert -- jetzt hatte ich wirklich eine Pseudo-Partition, die

ich mit einem einzelnen Passwort in Klartext umwandeln konnte, aber das gute Zeug war nicht da

drauf, sondern erforderte ein weiteres Passwort, um es zugänglich zu machen.

Dieser versteckte Teil

sah wie Datenmüll aus -- wenn du Daten verschlüsselst, kann man sie nicht mehr von zufälligem

Rauschen unterscheiden --, und sie wüssten noch nicht mal, dass es ihn gab.

Es waren keine Scheiben mehr in meiner Tasche. Mein Laptop war frei von jeglichem belastenden

Material. Wenn sie sich natürlich meine Xbox genauer ansahen, dann war das Spiel aus, sozusagen.

Ich blieb stehen, wo ich war. Ich hatte mich bedeckt gehalten, so gut ich eben konnte. Jetzt wars Zeit,

dem Schicksal ins Auge zu blicken. Ich ging in den nächsten Burrito-Laden und bestellte einen mit

Carnitas -- gehacktem Schweinefleisch -- und extra Salsa. Wenn schon untergehen, dann zumindest

mit vollem Magen. Außerdem nahm ich einen Kübel Horchata, ein eiskaltes Reisgetränk, so ähnlich

wie wässrig-süßlicher Reispudding (besser, als es klingt).

Ich setzte mich hin zum Essen, und ich wurde ganz ruhig. Entweder kam ich nun ins Gefängnis für

meine „Verbrechen“ oder auch nicht. Meine Freiheit war, seit sie mich festgehalten hatten, ein

vorübergehender Urlaub gewesen. Mein Land war nun nicht mehr mein Freund: Wir standen auf

verschiedenen Seiten, und ich hatte gewusst, dass ich niemals gewinnen konnte.

Die zwei Typen kamen ins Restaurant, als ich grade mit dem Burrito fertig war und Churros zum

Nachtisch bestellen wollte -- frittierten Teig mit Zimtzucker. Schätze mal, die hatten draußen gewartet

und waren von meiner Bummelei angenervt.

Sie stellten sich hinter mir an den Tresen und nahmen mich in die Zange. Ich bekam meinen Churro

von der hübschen Bedienung und bezahlte, dann biss ich erst noch ein paar Mal ab, bevor ich mich

umdrehte. Ich wollte zumindest ein bisschen was von meinem Dessert essen, schließlich könnte es das

letzte für lange, lange Zeit sein.

Dann drehte ich mich um. Sie waren beide so dicht, dass ich den Pickel auf der Wange des Typen

links sehen konnte und den kleinen Popel in der Nase des anderen.

„Schuldigung“, sagte ich und versuchte an ihnen vorbeizudrängen. Der mit dem Popel stellte sich mir

in den Weg.

„Würden Sie bitte mit uns dorthin kommen?“, sagte er und wies in Richtung der Restauranttür.

„Tut mir Leid, ich ess noch“, sagte ich und bewegte mich wieder. Diesmal legte er seine Hand auf

meine Brust. Er atmete schnell durch seine Nase, was den Popel wackeln ließ.

Ich glaube, ich atmete

auch schnell, aber das ging unter im Hämmern meines Herzens.

Der andere schlug eine Flappe an seiner Windjacke runter, was ein SFPD-Wappen zum Vorschein

brachte. „Polizei“, sagte er. „Bitte kommen Sie mit uns.“

„Kann ich eben noch meine Sachen holen?“, entgegnete ich.

„Darum kümmern wir uns“, sagte er. Popel trat noch einen Schritt näher und brachte seinen Fuß an

die Innenseite von meinem. In manchen Kampfsportarten macht man das auch so. Dann kann man

spüren, ob der andere sein Gewicht verlagert und eine Bewegung vorbereitet.

Doch ich würde nicht weglaufen. Ich wusste, meinem Schicksal konnte ich nicht davonlaufen.

Kapitel 7

Dieses Kapitel ist Books of Wonder in New York City gewidmet, der ältesten und größten Kinderbuchhandlung in

Manhattan. Sie liegt nur ein paar Blöcke entfernt vom Büro von Tor Books im Flatiron Building, und jedes Mal, wenn ich dort bin, um mich mit den Leuten von Tor zu treffen, nehme ich mir die Zeit, bei Books of Wonder durch die neuen, gebrauchten

und die seltenen Kinderbücher zu stöbern. Ich bin leidenschaftlicher Sammler von Alice-im-Wunderland-Raritäten, und bei

Books of Wonder finde ich garantiert immer eine aufregende, wunderschöne limitierte Alice-Ausgabe. Es gibt dort massig

Veranstaltungen für Kinder, und die Atmosphäre ist so einladend, wie man sie selbst in einer Buchhandlung selten findet.

Books of Wonder http://www.booksofwonder.com/ 18 West 18th St, New York, NY 10011 USA +1 212 989 3270

ie brachten mich raus und um die nächste Ecke zu einem ungekennzeichneten Polizeiwagen, der

dort wartete. Nicht dass irgend jemand in dieser Gegend Schwierigkeiten gehabt hätte, den

Wagen als Bullenschleuder zu identifizieren. Nur die Polizei fährt heute noch riesige Crown Victorias,

seit der Sprit bei sieben Dollar die Gallone liegt. Und außerdem konnten nur Bullen mitten auf Van

Ness Street in der zweiten Reihe parken, ohne den Horden lauernder Abschleppunternehmen zum

Opfer zu fallen, die hier ununterbrochen rumfuhren, allzeit bereit, San Franciscos unverständliche

Parkregelungen umzusetzen und fürs Kidnappen deines Autos Lösegeld zu fordern.

S

Popel schneuzte. Ich saß auf der Rückbank, er auch. Sein Partner saß vorn und tippte mit einem

Finger auf einem antiken, stoßfest ausgestatteten Laptop, der aussah, als ob er mal Fred Feuerstein

gehört hatte.

Popel sah sich meinen Ausweis noch mal genau an. „Wir möchten dir lediglich ein paar

Routinefragen stellen.“

„Kann ich mal Ihre Marken sehen?“, fragte ich. Die Typen waren eindeutig Bullen, aber es konnte

nichts schaden, ihnen zu zeigen, dass ich meine Rechte kannte.

Popel hielt mir seine Marke so kurz hin, dass ich sie nicht genau sehen konnte, aber Pickel auf dem

Fahrersitz ließ mich länger auf seine schauen. Ich las die Nummer ihrer Abteilung und merkte mir

seine vierstellige Markennummer. Das war leicht: 1337 ist, wie Hacker „leet“, also „Elite“, schreiben.

Sie waren beide sehr höflich, und keiner von ihnen versuchte mich so einzuschüchtern, wie das DHS

es getan hatte, als ich in deren „Obhut“ war.

„Bin ich verhaftet?“

„Du wirst vorübergehend festgehalten, damit wir deine Sicherheit und die allgemeine öffentliche

Sicherheit gewährleisten können“, sagte Popel.

Er reichte meinen Führerschein an Pickel weiter, der ihn langsam in den Computer tippte. Ich sah ihn

einen Tippfehler machen und hätte ihn fast korrigiert, aber ich dachte mir, es sei vielleicht klüger,

einfach den Mund zu halten.

„Gibt es irgendwas, das du mir erzählen möchtest, Marcus? Nennen sie dich Marc?“

„Marcus ist schon recht“, sagte ich. Popel sah aus, als könne er ein netter Kerl sein. Mal abgesehen

davon, dass er mich in seinen Wagen verschleppt hatte, natürlich.

„Marcus. Irgendwas, das du mir erzählen möchtest?“

„Was denn? Bin ich verhaftet?“

„Im Moment bist du nicht verhaftet“, sagte Popel. „Wärst du gern?“

„Nö“, sagte ich.

„Gut. Wir haben dich beobachtet, seit du aus der BART kommst. Dein Fast Pass sagt, dass zu zu den

merkwürdigsten Zeiten zu den merkwürdigsten Orten gefahren bist.“

Mir fiel ein Stein vom Herzen. Es ging also gar nicht ums Xnet, nicht wirklich.

Die hatten bloß meine

U-Bahn-Nutzung überprüft und wollten nun wissen, warum sie in letzter Zeit so merkwürdig war.

Völlig bescheuert.

„Also folgen Sie jedem, der mit einem merkwürdigen Nutzungsprofil aus der BART kommt? Na, da

haben Sie gut zu tun.“

„Nicht jedem, Marcus. Wir erhalten eine Warnung, wenn jemand mit einem ungewöhnlichen

Fahrprofil rauskommt, und das hilft uns einzuschätzen, ob wir eine Ermittlung starten sollten. In

deinem Fall kamen wir, weil wir wissen wollten, wie jemand wie du, der einen so vernünftigen

Eindruck macht, zu so einem merkwürdigen Fahrprofil kommt.“

Da ich jetzt wusste, dass ich nicht in den Knast kam, wurde ich langsam sauer.

Was hatten diese

Typen hinter mir herzuschnüffeln? Und was hatte die BART ihnen dabei zu helfen? Warum zum

Teufel musste meine U-Bahn-Fahrkarte mich wegen eines „ungewöhnlichen Fahrmusters“ anpissen?

„Ich glaube, ich möchte jetzt verhaftet werden“, sagte ich.

Popel lehnte sich zurück und hob eine Augenbraue.

„Soso? Unter welchem Verdacht?“

„Ach, ungewöhnliches U-Bahn-Fahren ist gar kein Verbrechen?“

Pickel schloss die Augen und rieb sie mit seinen Daumen.

Popel seufzte einen aufgesetzten Seufzer. „Hör mal, Marcus, wir sind auf deiner Seite. Wir verwenden

dieses System, um die Bösen zu fangen. Terroristen und Drogenhändler.

Vielleicht bist du ja ein

Drogenhändler. Ziemlich gute Art und Weise, sich durch die Stadt zu bewegen, so ein Fast Pass.

Anonym.“

„Was ist denn so falsch an anonym? Für Thomas Jefferson wars gut genug. Bin ich jetzt übrigens

verhaftet?“

„Bringen wir ihn heim“, sagte Pickel. „Wir können mit seinen Eltern sprechen.“

„Na, das ist doch mal ne dufte Idee“, sagte ich. „Ich bin sicher, meine Eltern findens interessant zu

erfahren, wo ihre Steuerdollars bleiben …“

Ich hatte mein Blatt überreizt. Popel hatte schon die Hand am Türgriff gehabt, aber jetzt stürzte er sich

auf mich wie ein Berserker. „Warum hältst du nicht einfach die Schnauze, solange du noch darfst?

Nach allem, was in den letzten zwei Wochen passiert ist, würde es dir nicht schaden, mit uns zu

kooperieren. Weißt du was, vielleicht sollten wir dich wirklich verhaften. Dann kannst du einen Tag

oder zwei im Knast sitzen, während dein Anwalt nach dir sucht. Und in der Zeit kann eine Menge

passieren. Eine Menge. Wie wäre das?“

Ich sagte gar nichts. Ich war albern und wütend gewesen. Jetzt hatte ich nur noch Schiss.

„Tut mir Leid“, sagte ich dann und hasste mich gleich wieder dafür.

Popel setzte sich nach vorn und Pickel setzte den Wagen in Gang. Wir fuhren die 24. Straße rauf und

über Potrero Hill. Sie kannten meine Adresse von meinem Ausweis.

Mom kam an die Tür, als sie klingelten, und ließ die Kette noch eingehängt. Sie schaute durch und

Spalt, sah mich und fragte „Marcus? Wer sind diese Leute?“

„Polizei“, sagte Popel. Er zeigte ihr seine Marke und gewährte ihr einen ausgiebigen Blick -- nicht

bloß so huschhusch, wie ers mit mir gemacht hatte. „Können wir reinkommen?“

Mom schloss die Tür, um die Kette zu entriegeln, und ließ sie dann rein. Sie brachten mich in die

Wohnung, und Mom betrachtete uns alle mit einem ihrer typischen Blicke.

„Was hat das zu bedeuten?“

Popel zeigte auf mich. „Wir wollten ihrem Sohn ein paar Routinefragen über sein

Bewegungsverhalten stellen, aber er hat sich geweigert, sie zu beantworten.

Deshalb dachten wir, es

sei am besten, ihn hierher zu bringen.“

„Ist er verhaftet?“ Moms Akzent schlug heftig durch. Gute alte Mom.

„Sind Sie eine Bürgerin der Vereinigten Staaten?“, fragte Pickel.

Sie würdigte ihn eines Blicks, der Lack zum Abplatzen gebracht hätte. „Na klar, und wie“, sagte sie

dann in breitestem Südstaaten-Akzent. „Bin ich verhaftet?“

Die beiden Bullen tauschten Blicke.

Pickel ging in die Offensive. „Das scheint ein bisschen unglücklich gelaufen zu sein. Ihr Sohn ist uns

aufgefallen als jemand mit einem ungewöhnlichen Bewegungsprofil in öffentlichen Verkehrsmitteln.

Das ist Teil eines neuen proaktiven Strafverfolgungsprogramms. Wenn wir Leute finden, die

ungewöhnliche Fahrtmuster zeigen oder die auf ein verdächtiges Profil passen, dann ermitteln wir

weiter.“

„Moment“, sagte Mom. „Woher wissen Sie denn, wie mein Sohn die öffentlichen Verkehrsmittel

benutzt?“

„Durch den Fast Pass“, sagte er. „Der zeichnet die Fahrten auf.“

„Ach so“, sagte Mom und verschränkte die Arme. Das war ein ganz schlechtes Zeichen. Schlimm

genug, dass sie ihnen keine Tasse Tee angeboten hatte -- in Mom-Land war das ungefähr dasselbe, als

hätte sie sich mit ihnen durch den Briefkastenschlitz unterhalten --, aber sobald

sie die Arme

verschränkte, war klar, dass die beiden nicht ungeschoren hier rauskommen würden. In diesem

Moment hätte ich losgehen mögen, um ihr einen riesigen Blumenstrauß zu kaufen.

„Marcus hier hat es abgelehnt, uns zu erklären, wie sein Fahrtenprofil zustande gekommen ist.“

„Sie sagen also, sie halten meinen Sohn wegen seiner Art, Bus zu fahren, für einen Terroristen?“

„Terroristen sind nicht die einzigen Bösen, die wir auf diese Weise fangen“, sagte Pickel.

„Drogenhändler. Gang-Kids. Oder auch Ladendiebe, die clever genug sind, sich für jeden Beutezug

ein anderes Revier zu suchen.“

„Sie denken also, mein Sohn sei ein Drogenhändler?“

„Wir sagen nicht, dass --“, fing Pickel an.

Mit einem Händeklatschen brachte Mom ihn zum Schweigen.

„Marcus, gib mir bitte mal deinen Rucksack.“

Das tat ich.

Mom zippte ihn auf und schaute ihn durch, zunächst mit dem Rücken zu uns.

„Meine Herren, ich kann Ihnen nun versichern, dass sich in der Tasche meines Sohnes weder Drogen

noch Sprengstoffe oder gestohlene Waren befinden. Ich denke, damit wäre das erledigt. Bevor Sie

gehen, darf ich noch um Ihre Personalnummern bitten.“

Popel lachte höhnisch. „Gute Frau, die ACLU2 hat gerade Klagen gegen dreihundert Polizisten der

Stadt laufen; da werden Sie sich hinten anstellen müssen.“

Mom machte mir einen Tee und schimpfte dann mit mir, weil ich schon gegessen hatte, obwohl ich

wusste, dass sie Falafel gemacht hatte. Dad kam heim, während wir noch am Tisch saßen, und Mom

und ich erzählten ihm abwechselnd die Geschichte. Er schüttelte den Kopf.

„Lillian, die haben doch nur ihren Job gemacht.“ Er trug immer noch den blauen Blazer und die

Khakis, die er an den Tagen trug, an denen er als Berater im Silicon Valley war.

„Die Welt ist nicht

mehr dieselbe wie noch vor einer Woche.“

2 American Civil Liberties Union, Amerikanische Bürgerrechts-Union, AdÜ

„Mom setzte ihren Teebecher ab. „Drew, werd nicht albern. Dein Sohn ist kein Terrorist. Seine

Fahrten im Nahverkehr können kein Grund für polizeiliche Ermittlungen sein.“

Dad zog seinen Blazer aus. „In meinem Job machen wir das ständig. So kann man Computer dazu

einsetzen, alle Arten von Fehlern und Unregelmäßigkeiten zu entdecken. Du sagst dem Computer, er

soll ein Profil eines durchschnittlichen Datenbankeintrags erstellen und dann rausfinden, welche

Einträge in der Datenbank am stärksten vom Durchschnitt abweichen. Das gehört zur Bayes‘schen

Statistik, und das gibt’s schon seit Jahrhunderten. Ohne so was hätten wir keine Spamfilter --“

„Soll das heißen, die Polizei sollte genauso schlecht arbeiten wie mein Spamfilter?“, fragte ich.

Dad wurde nie wütend, wenn ich mit ihm diskutierte, aber ich konnte sehen, dass er heute sehr kurz

davor war. Trotzdem konnte ichs mir nicht verkneifen. Mein Vater stellte sich auf die Seite der

Polizei!

„Ich sage nur, es ist völlig vernünftig, dass die Polizei ihre Untersuchungen damit anfängt, Daten

durchzugrasen, und erst dann mit der Lauferei anfängt, wenn sie Abnormalitäten haben, um

herauszufinden, wo die herkommen. Ich denke nicht, dass ein Computer der Polizei vorgeben sollte,

wen sie verhaften soll, aber er kann ihnen dabei helfen, den Heuhaufen nach der Nadel zu

durchflöhen.“

„Aber indem sie all diese Daten aus dem Verkehrssystem abgreifen, erzeugen sie doch überhaupt erst

den Heuhaufen“, sagte ich. „Das ist ein monströser Datenberg, und es ist aus Polizeisicht fast nichts

drin, was eine Untersuchung lohnt. Das ist die totale Verschwendung.“

„Ich versteh ja, dass du das System nicht magst, weil es dir Unbequemlichkeiten verursacht hat,

Marcus. Aber du zuallererst solltest den Ernst der Lage begreifen. Und es ist dir

doch nichts passiert,

oder doch? Sie haben dich doch sogar nach Hause gefahren.“

Sie haben gedroht, mich in den Knast zu stecken, dachte ich, aber mir war klar, dass es keinen Zweck

hatte, das auszusprechen.

„Und übrigens hast du uns immer noch nicht erklärt, wo zum Teufel du eigentlich warst, um ein so

ungewöhnliches Bewegungsmuster zu erzeugen.“

Das hatte mir grade noch gefehlt.

„Ich dachte, ihr hättet Vertrauen in mich und wolltet mir nicht hinterherschnüffeln.“ Das hatte er oft

genug gesagt. „Willst du wirklich, dass ich dir für jede einzelne Bahnfahrt meines Lebens

Rechenschaft ablege?“

Sobald ich in mein Zimmer kam, stöpselte ich die Xbox ein. Ich hatte den Projektor an der Decke

befestigt, um das Bild an die Wand über meinem Bett werfen zu können (dafür hatte ich meinen

prächtigen Wandschmuck aus Punkrock-Handzetteln abnehmen müssen, die ich von Telefonmasten

abgepult und auf große Blätter weißen Papiers geklebt hatte).

Ich schaltete die Xbox ein und sah ihr beim Hochfahren zu. Zuerst wollte ich Van und Jolu anmailen,

um ihnen von meinem Ärger mit den Bullen zu berichten, aber als ich die Finger schon auf der

Tastatur hatte, hielt ich inne.

Da war plötzlich so ein merkwürdiges Gefühl, ganz ähnlich wie das, als ich merkte, dass sie meinen

guten alten Salmagundi in einen Verräter verwandelt hatten. Diesmal war es das Gefühl, dass mein

geliebtes Xnet die Koordinaten jedes einzelnen seiner Nutzer ans DHS

übertragen könnte.

Was hatte mein Vater gleich gesagt? „Du sagst dem Computer, er soll ein Profil eines

durchschnittlichen Datenbankeintrags erstellen und dann rausfinden, welche Einträge in der

Datenbank am stärksten vom Durchschnitt abweichen.“

Das Xnet war sicher, weil seine Benutzer nicht direkt mit dem Internet verbunden waren. Sie hüpften

von Xbox zu Xbox, bis sie eine fanden, die mit dem Internet verbunden war, und dann speisten sie ihr

Material als unentzifferbare, verschlüsselte Daten ein. Niemand konnte unterscheiden, welche

Internet-Datenpakete zum Xnet gehörten und welche ganz normale Bank-, Shopping- oder andere

verschlüsselte Kommunikation war. Es war niemandem möglich, herauszufinden, wer das Xnet

geknüpft hatte, geschweige denn, wer es benutzte.

Aber was war mit Dads „Bayesscher Statistik“? Mit Bayesscher Mathematik hatte ich schon mal

rumgespielt. Darryl und ich hatten mal versucht, unseren eigenen, besseren

Spamfilter zu schreiben,

und wenn man Spam filtern will, braucht man Bayessche Mathe. Thomas Bayes war ein britischer

Mathematiker des 18. Jahrhunderts, an den nach seinem Tod erst mal niemand mehr dachte, bis

Computerwissenschaftler hundert Jahre später entdeckten, dass seine Methode, große Datenmengen

statistisch zu analysieren, für die Informations-Gebirge der modernen Welt unglaublich nützlich sein

könnten.

Ganz kurz was darüber, wie Bayessche Statistik funktioniert. Mal angenommen, du hast hier einen

Haufen Spam. Dann nimmst du jedes Wort in jeder Mail und zählst, wie oft es vorkommt. Das nennt

man ein „Wortfrequenz-Histogramm“, und es verrät dir die Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine

beliebige Ansammlung von Wörtern Spam ist. Dann nimmst du eine Tonne Mails, die kein Spam sind

(Experten nennen das „Ham“), und machst mit denen das gleiche.

Jetzt wartest du auf eine neue E-Mail und zählst die Wörter, die darin vorkommen. Dann benutzt du

das Wortfrequenz-Histogramm in der fraglichen Nachricht, um die Wahrscheinlichkeit zu berechnen,

dass sie auf den „Spam“- oder auf den „Ham“-Stapel gehört. Wenn sich herausstellt, dass sie

tatsächlich Spam ist, passt du das „Spam“-Histogramm entsprechend an. Es gibt

massenhaft

Möglichkeiten, diese Technik noch zu verfeinern -- Worte paarweise betrachten, alte Daten wieder

löschen --, aber im Prinzip funktionierts so. Es ist eine von diesen einfachen, großartigen Ideen, die

völlig offensichtlich zu sein scheinen, sobald man das erste Mal davon hört.

Es gibt dafür ne Menge Anwendungen -- man kann einen Computer anweisen, die Linien in einem

Foto zu zählen und herauszufinden, ob es eher ein „Hunde“-Linienfrequenz-Histogramm ergibt oder

eher ein „Katzen“-Histogramm. Man kann damit Pornografie, Bankbetrügereien oder Flamewars

erkennen. Gute Sache.

Zugleich wars eine schlechte Nachricht für das Xnet. Mal angenommen, du hast das gesamte Internet

angezapft -- und das DHS hat das natürlich. Dann kannst du zwar, Krypto sei Dank, nicht durch

bloßes Anschauen von Daten rausfinden, wer Xnet-Daten versendet.

Aber was du rausfinden kannst, ist, wer viel, viel mehr verschlüsselten Datenverkehr erzeugt als alle

anderen. Bei einem normalen Internet-Benutzer kommen in einer Online-Session vielleicht 95 Prozent

Klartext und 5 Prozent Chiffretext zusammen. Wenn nun jemand zu 95 Prozent Chiffretext versendet,

dann könnte man ja computererfahrene Kollegen von Popel und Pickel hinschicken, um

nachzufragen, ob er vielleicht ein terroristischer drogendealender Xnet-Benutzer ist.

In China passiert genau das permanent. Irgendein cleverer Dissident kommt auf die Idee, die Große

Chinesische Firewall, die die gesamte Internetanbindung des Landes zensiert, zu umgehen, indem er

eine verschlüsselte Verbindung zu einem Computer in einem anderen Land herstellt. Dann kann die

Partei zwar nicht herausfinden, was er überträgt -- vielleicht Pornos, vielleicht Bombenbauanleitungen, schmutzige Briefe von seiner Freundin auf den Philippinen, politische

Materialien oder gute Nachrichten über Scientology. Aber was es ist, müssen sie auch nicht wissen. Es

genügt, wenn sie wissen, dass dieser Typ viel mehr verschlüsselten Datenverkehr hat als seine

Nachbarn. Und dann schicken sie ihn in ein Zwangsarbeitslager, bloß um ein Exempel zu statuieren,

damit jeder sehen kann, was mit Klugscheißern passiert.

Für den Moment hätte ich wetten mögen, dass das DHS das Xnet noch nicht auf dem Radar hatte,

aber das würde nicht ewig so bleiben. Und nach diesem Abend war ich mir nicht mehr sicher, ob ich

wirklich noch besser dran war als ein chinesischer Dissident. Ich setzte alle Leute, die sich am Xnet

anmeldeten, enormen Risiken aus. Vor dem Gesetz war es gleichgültig, ob du tatsächlich irgendwas

Schlimmes tatest; sie würden dich schon unters Mikroskop legen, bloß weil du statistisch gesehen

unnormal warst. Und ich konnte das Ganze nicht mal mehr stoppen -- jetzt lief das Xnet, und es hatte

ein Eigenleben entwickelt.

Ich musste die Sache irgendwie anders gradebiegen.

Wenn ich nur mit Jolu drüber reden könnte. Er arbeitete bei einem Internetanbieter namens Pigspleen

Net, seit er zwölf Jahre alt war, und er wusste viel mehr übers Internet als ich.

Wenn irgend jemand

eine Ahnung hatte, wie wir unsern Hintern aus dem Knast draußenhalten konnten, dann er.

Zum Glück waren Van, Jolu und ich für den folgenden Abend nach der Schule zum Kaffee in unserem

Lieblingsplatz in der Mission verabredet. Offiziell wars unser wöchentliches Harajuku-Fun-Madness-Teamtreffen, aber seit das Spiel abgebrochen und Darryl verschwunden war, wars hauptsächlich

wöchentliches gemeinsames Flennen, ergänzt um rund ein halbes Dutzend Telefonate und

Textnachrichten im Stil von „Bist du OK? Ist das wirklich passiert?“ Es würde gut tun, mal über was

anderes sprechen zu können.

„Du spinnst ja komplett“, sagte Vanessa. „Bist du jetzt endgültig total übergeschnappt?“ Sie war in

ihrer Mädchenschul-Uniform gekommen, weil sie auf dem langen Weg nach Hause, ganz bis runter

zur San Mateo Bridge und wieder rauf in die Stadt, mit dem Zubringerbus, den die Schule betrieb, im

Verkehr steckengeblieben war. Sie hasste es, in der Öffentlichkeit in ihrer Schuluniform gesehen zu

werden, weil die total Sailor Moon war: ein Faltenrock, Tunika und Kniestrümpfe. Sie war schon

schlecht gelaunt, seit sie ins Café gekommen war, das voll war mit älteren, cooleren, zotteligen Emo-Kunststudenten, die in ihre Lattes grinsten, als sie zur Tür reinkam.

„Was denkst denn du, was ich machen sollte, Van?“, fragte ich. Ich fing selbst langsam an, ärgerlich

zu werden. In der Schule wars unerträglich, seit das Spiel nicht mehr lief und seit Darryl nicht mehr

da war. Den ganzen Tag lang hatte ich mich im Unterricht damit getröstet, dass ich mein Team sehen

würde oder besser gesagt das, was davon übrig war. Und jetzt hatten wir uns in der Wolle.

„Ich will, dass du aufhörst, solche Risiken einzugehen, M1k3y.“ Meine Nackenhaare stellten sich auf.

Okay, wir verwendeten bei Team-Treffen immer unsere Team-Nicks, aber jetzt, da mein Nick auch

mit meinem Xnet-Profil zusammenhing, machte es mir Angst, ihn laut in der Öffentlichkeit zu hören.

„Sag den Namen nicht noch mal in der Öffentlichkeit“, platzte ich heraus.

Van schüttelte den Kopf. „Genau das ist es, worüber ich rede. Du könntest dich im Knast

wiederfinden, Marcus, und nicht bloß du. Eine Menge Leute. Nach dem, was mit Darryl passiert ist

…“

„Ich tu das doch für Darryl!“ Ein paar Kunststudenten drehten sich nach uns um, und ich dämpfte die

Stimme wieder. „Ich mach das, weil die Alternative wäre, sie mit all dem ungeschoren davonkommen

zu lassen.“

„Und du glaubst, du kannst sie aufhalten? Du bist wirklich übergeschnappt. Die sind die Regierung.“

„Aber es ist immer noch unser Land“, entgegnete ich. „Und wir haben immer noch das Recht, das zu

tun.“

Van sah aus, als würde sie gleich losheulen. Sie atmete ein paar Mal tief durch und stand dann auf.

„Ich kann das nicht, sorry. Ich kann dir nicht dabei zuschauen. Das ist ja wie ein Autounfall in

Zeitlupe. Du bist auf dem besten Weg, dich zugrunde zu richten, und ich liebe dich viel zu sehr, als

dass ich dir dabei zuschauen könnte.“

Sie neigte sich runter, umarmte mich heftig und gab mir einen harten Kuss auf die Wange, der noch

meinen Mundwinkel erwischte. „Pass auf dich auf, Marcus“, sagte sie. Mein Mund brannte dort, wo

sie ihre Lippen draufgepresst hatte. Für Jolu hatte sie dieselbe Behandlung parat, allerdings glatt auf

die Wange. Dann ging sie.

Als sie weg war, starrten Jolu und ich einander an.

Ich verbarg mein Gesicht in den Händen. „Verdammt“, sagte ich schließlich.

Jolu klopfte mir auf den Rücken und bestellte dann einen neuen Latte für mich.

„Wird schon wieder“,

sagte er.

„Ich hätte gedacht, dass Van es versteht; gerade sie.“ Die Hälfte von Vans Familie lebte in Nordkorea.

Ihre Eltern hatten nie vergessen, dass all diese Verwandten unter der Herrschaft eines wahnsinnigen

Diktators lebten und keine Chance hatten, nach Amerika zu entkommen, wie es ihnen selbst, Vans

Eltern, gelungen war.

Jolu zuckte die Achseln. „Vielleicht ist sie ja deshalb so ausgerastet. Weil sie genau weiß, wie

gefährlich das werden kann.“

Ich wusste, was er meinte. Zwei von Vans Onkeln waren ins Gefängnis gebracht worden und nie

wieder aufgetaucht.

„Ja“, sagte ich.

„Und wieso warst du letzte Nacht nicht im Xnet?“ Ich war dankbar für die Ablenkung. So erklärte ich

ihm alles, das Bayes-Zeug und meine Angst, wir könnten das Xnet nicht mehr

weiter nutzen wie

bisher, ohne erwischt zu werden. Er hörte aufmerksam zu.

„Ich versteh, was du meinst. Das Problem ist, dass jemand, der zu viel Krypto in seinen InternetVerbindungen hat, als ungewöhnlich auffällt. Aber wenn du nicht verschlüsselst, dann machst dus den

bösen Jungs leichter, dich abzuhören.“

„Genau“, sagte ich. „Ich versuch schon den ganzen Tag, mir da was auszudenken. Vielleicht könnten

wir die Verbindungen abbremsen, über mehr Benutzerkonten verteilen …“

„Klappt nicht“, sagte er. „Um sie langsam genug zu machen, dass sie im Hintergrundrauschen

verschwinden, müsstest du das Netzwerk de facto dicht machen, und das wollen wir ja nicht.“

„Du hast Recht“, sagte ich. „Aber was können wir sonst machen?“

„Wie wäre es, wenn wir die Definition von ‚normal‘ ändern?“

Und genau deshalb war Jolu schon mit zwölf bei Pigspleen angestellt worden.

Gib ihm ein Problem

mit zwei schlechten Lösungen, und er denkt sich eine komplett neue dritte Lösung aus, die damit

anfängt, dass er alle Grundannahmen übern Haufen wirft.

Ich nickte begeistert. „Na los, sag schon.“

„Wenn jetzt der durchschnittliche Internetnutzer in San Francisco an einem durchschnittlichen Tag im

Internet eine Menge mehr Krypto anhäuft? Wenn wir die Verteilung so hinbiegen

können, dass

Klartext und Chiffretext bei etwa fifty-fifty liegen, dann sehen die Leute, die das Xnet versorgen,

plötzlich wieder normal aus.“

„Aber wie kriegen wir das hin? Den Leuten ist ihre Privatsphäre doch viel zu egal, als dass sie

plötzlich mit verschlüsselten Links surfen. Die begreifen doch nicht, warum es nicht egal ist, wenn

jemand mitlesen kann, was sie so alles googeln.“

„Schon, aber Webseiten sind nur kleine Datenpakete. Wenn wir die Leute jetzt dazu bringen, jeden

Tag routinemäßig ein paar riesige verschlüsselte Files runterzuladen, dann würde das genauso viel

Chiffretext erzeugen wie Tausende von Webseiten.“

„Du redest übers indienet“, sagte ich.

„Volltreffer“, sagte er.

Das indienet -- komplett kleingeschrieben -- war es, was Pigspleen Net zu einem der erfolgreichsten

unabhängigen Provider der Welt gemacht hatte. Damals, als die großen Label angefangen hatten, ihre

Fans fürs Herunterladen ihrer Musik zu verklagen, waren etliche der unabhängigen Label und ihre

Künstler entgeistert. Wie kann man denn bitte Geld verdienen, indem man seine Kunden verklagt?

Pigspleens Gründerin hatte die Antwort. Sie machte Verträge mit allen Acts, die mit ihren Fans

arbeiten wollten, statt sie zu bekämpfen. Du gibst Pigspleen eine Lizenz, deine Musik unter deren

Kunden zu verbreiten, und bekommst dafür einen Anteil an den Abogebühren, der sich danach richtet,

wie populär deine Musik ist. Für einen Indie-Künstler ist nicht Raubkopieren das Problem, sondern

Unbekanntheit: Niemand interessiert sich auch nur genug für deine Musik, um sie zu klauen.

Es funktionierte. Hunderte unabhängiger Künstler und Plattenfirmen unterzeichneten bei Pigspleen,

und je mehr Musik es gab, desto mehr Fans wechselten zu Pigspleen als InternetAnbieter und desto

mehr Geld gab es für die Künstler. Binnen eines Jahres hatte der Provider hunderttausend neue

Kunden, und inzwischen hatte er eine Million -- mehr als die Hälfte aller Breitband-Anschlüsse in der

Stadt.

„Ich hab schon seit Monaten auf dem Zettel, den indienet-Code zu überarbeiten“, sagte Jolu. „Die

ursprünglichen Programme waren schnell zusammengekloppt, und mit nem bisschen Arbeit könnten

sie viel effizienter gemacht werden. Aber ich hatte noch keine Zeit dafür. Einer der Punkte ganz oben

auf der Liste ist, die Verbindungen zu verschlüsseln, weil Trudy das gern so möchte.“ Trudy Doo war

die Gründerin von Pigspleen. Außerdem war sie eine alte Punk-Legende in San Francisco, Frontfrau

der anarcho-feministischen Band Speedwhores, und Privatsphäre war ihre fixe Idee. Ich glaubte

sofort, dass sie schon aus Prinzip ihren Musik-Dienst verschlüsselt haben wollte.

„Wird das schwer? Ich mein, wie lange dauert das?“

„Na ja, massenweise Krypto-Code gibt’s schon online für lau“, sagte Jolu. Jetzt tat er wieder das, was

er immer tat, wenn er an einem kniffligen Programmierproblem kaute: Er bekam diesen abwesenden

Blick, trommelte mit den Händen auf dem Tisch und ließ den Kaffee überschwappen. Mir war nach

Lachen zumute -- und wenn alles um ihn rum den Bach runterginge, Jolu würde diesen Code

schreiben.

„Kann ich helfen?“

Er schaute mich an. „Was, glaubst du nicht, dass ichs allein hinkriege?“

„Was?“

„Na ja, du hast das ganze Xnet-Ding allein aufgezogen, ohne mir auch bloß was zu erzählen; ohne mit

mir drüber zu reden. Und dann dachte ich so, wahrscheinlich brauchst du bei so was meine Hilfe gar

nicht.“

Jetzt hatte er mich kalt erwischt. „Was?“, wiederholte ich. Jolu sah mittlerweile richtig aufgebracht

aus. Es war klar, dass das schon eine ganze Weile an ihm genagt hatte. „Jolu …“

Er sah mich wieder an, und jetzt merkte ich, dass er richtig sauer war. Wie hatte

ich das übersehen

können? Oh Gott, manchmal war ich echt so ein Idiot.

„Weißt du, Kumpel, es ist keine große Sache …“ -- womit er eindeutig meinte, dass es eine verdammt

große Sache war -- „ich meine, du hast mich nicht mal gefragt. Hey, ich hasse das DHS. Darryl war

auch mein Freund. Ich hätte dir wirklich dabei helfen können.“

Ich wollte den Kopf zwischen den Knien vergraben. „Hey, Jolu, das war echt bescheuert von mir. Ich

hab das halt so um zwei Uhr morgens gemacht. Ich war irgendwie rasend, als das passierte. Ich …“

Ich konnte es nicht erklären. Er hatte Recht, und das war das Problem. Okay, es war nachts um zwei

Uhr gewesen, aber ich hätte ihm am nächsten oder übernächsten Tag davon erzählen können. Aber ich

hatte es nicht getan, weil ich wusste, was er sagen würde -- dass es ein hässlicher Hack war und dass

ich das besser durchdenken sollte. Jolu wusste immer, wie man meine Zwei-Uhr-Nachts-Ideen in

sauberen Code umsetzen konnte, aber das, womit er dann rumkam, war immer ein bisschen anders als

das, was ich mir ursprünglich ausgedacht hatte. Dieses Projekt hatte ich für mich allein haben wollen.

Ich war voll in meiner Rolle als M1k3y aufgegangen.

„Tut mir Leid“, sagte ich schließlich. „Tut mir wirklich, wirklich Leid. Du hast völlig Recht. Ich bin

irgendwie durchgedreht und hab dummes Zeug gemacht. Aber ich brauche wirklich deine Hilfe --

ohne dich kriege ich das nicht hin.“

„Meinst du das ernst?“

„Und wie“, sagte ich. „Mann, du bist der beste Programmierer, den ich kenne.

Du bist ein verdammtes

Genie, Jolu. Es wäre echt eine Ehre, wenn du mir dabei helfen würdest.“

Er trommelte weiter mit seinen Fingern. „Es ist bloß … du weißt schon. Du bist der Teamchef. Van ist

die Clevere. Darryl war … er war dein Stellvertreter, der Typ, der alles organisiert hat und ein Auge

auf die Details hatte. Der Programmierer, das war mein Job. Und es war so, als hättest du gesagt, dass

du mich nicht brauchst.“

„Oh Mann, ich bin son Idiot. Jolu, du bist der Beste für den Job, den ich kenne.

Ich bin echt, echt, …“

„Lass gut sein, ja? Stopp. Ich glaub dir ja. Wir sind doch alle grade ziemlich neben der Spur. Also:

Klar kannst du helfen. Wahrscheinlich können wir dich sogar bezahlen -- ich hab ein kleines Budget

für freie Programmierer.“

„Echt jetzt?“ Fürs Programmieren hatte mich noch nie jemand bezahlt.

„Logisch. Wahrscheinlich bist du gut genug, um das Geld wert zu sein.“ Er grinste und boxte mich in

die Schulter. Jolu ist eigentlich meistens total entspannt, und eben deshalb hatte er mich grade so aus

der Bahn geworfen.

Ich zahlte die Kaffees, und wir gingen. Dann rief ich meine Eltern an, um ihnen zu berichten, was ich

vorhatte. Jolus Mom bestand drauf, uns Sandwiches zu machen. Wir schlossen uns mit seinem

Computer und dem Code fürs indienet in seinem Zimmer ein, und dann begann eine der großen

Marathon-Programmiersitzungen der Weltgeschichte. Nachdem Jolus Familie um halb zwölf ins Bett

gegangen war, entführten wir die Kaffeemaschine in sein Zimmer, um unser Koffeinlevel auf konstant

hohem Niveau zu halten.

Wenn du noch nie einen Computer programmiert hast, solltest du es mal tun. Es gibt nichts

Vergleichbares auf der Welt. Wenn du einen Computer programmierst, tut er exakt das, was du von

ihm verlangst. Es ist, als ob man eine Maschine gestaltet -- irgendeine Maschine: ein Auto, ein

Absperrventil, eine Gasdruckfeder für eine Tür --, indem man Mathematik und Anweisungen

verwendet. Es ist Ehrfurcht gebietend im Wortsinn: Es kann dich mit Ehrfurcht erfüllen.

Ein Computer ist die komplizierteste Maschine, die du je benutzen wirst. Er besteht aus Milliarden

winzigwinzigkleiner Transistoren, die so eingestellt werden können, dass sie jedes Programm

ablaufen lassen, das du dir vorstellen kannst. Aber wenn du an der Tastatur sitzt und eine Zeile Code

schreibst, dann tun diese Transistoren genau das, was du ihnen sagst.

Die meisten von uns werden niemals ein Auto bauen. Die allerwenigsten von uns werden ein

Fluggerät entwickeln, ein Gebäude gestalten, eine Stadt am Reißbrett entwerfen.

Das sind schon ziemlich komplizierte Maschinen, und sie sind für Leute wie dich und mich weit

außerhalb unserer Reichweite. Aber ein Computer ist vielleicht noch zehn Mal komplizierter, und

doch tanzt er zu jeder Melodie, die du ihm vorspielst. Einfaches Programmieren kannst du an einem

Nachmittag lernen. Fang mit einer Sprache wie Python an, die extra dafür geschrieben wurde,

Programmieranfängern dabei zu helfen, dass die Maschine nach ihrer Pfeife tanzt. Und wenn du bloß

einen Tag lang, nur einen Nachmittag lang programmierst: einmal zumindest musst du es tun.

Computer können dich kontrollieren, oder sie können dir deine Arbeit erleichtern -- wenn du deine

Maschinen unter deiner Kontrolle haben willst, musst du lernen, Code zu schreiben.

In dieser Nacht schrieben wir ne Menge Code.

Kapitel 8

Dieses Kapitel ist Borders gewidmet, dem globalen Buchhandelsriesen, den man in Städten rund um die Welt finden kann --

ich werde nie vergessen, wie ich einmal in den gigantischen Borders-Laden auf der Orchard Road in Singapur spaziert bin

und ein Regal voll mit meinen Romanen gefunden habe! Viele Jahre lang war der Borders in Londons Oxford Street

Gastgeber für Pat Cadigans monatliche Science-Fiction-Abende, bei denen ansässige und angereiste Autoren aus ihren

Werken lasen, über Science Fiction sprachen und ihre Fans trafen. Wenn ich in einer fremden Stadt bin -- und das passiert

häufig -- dann ist eigentlich immer ein Borders mit großartiger Auswahl in der Nähe.; aber ganz besonders schätze ich den

Borders auf dem Union Square in San Francisco.

Borders weltweit http://www.bordersstores.com/locator/locator.jsp ch war nicht der Einzige, der den Histogrammen zum Opfer fiel. Jede Menge Leute haben

unnormale Bewegungs- und Nutzungsmuster. Unnormal ist so verbreitet, dass es praktisch schon

wieder normal ist. I

Das Xnet war voll von solchen Geschichten, ebenso die Zeitungen und die Fernsehnachrichten.

Ehemänner wurden dabei erwischt, ihre Frauen zu betrügen; Ehefrauen wurden dabei erwischt, ihre

Männer zu betrügen; und Kinder wurden mit heimlichen Freunden oder Freundinnen erwischt. Ein

Junge, der seinen Eltern nichts von seiner AIDS-Erkrankung gesagt hatte, wurde dabei erwischt, in

die Klinik zu fahren, wo er seine Medikamente bekam.

Das also waren die Leute, die was zu verbergen hatten -- nicht schuldige Menschen, sondern

Menschen mit Geheimnissen. Und noch viel mehr Leute hatten überhaupt nichts zu verbergen,

sondern bloß was dagegen, abgegriffen und verhört zu werden. Stell dir einfach mal vor, du wirst auf

dem Rücksitz eines Polizeiautos festgehalten und hast zu beweisen, dass du kein Terrorist bist.

Und es war nicht bloß der öffentliche Nahverkehr. Die meisten Autofahrer in der Bay Area haben

einen FasTrak-Pass an der Sonnenblende hängen. Das ist so ne kleine Funk-

„Brieftasche“, die deine

Maut bezahlt, wenn du eine Brücke passierst, und dir so das lästige stundenlange Warten in der

Schlange vor den Mauthäuschen erspart. Erst hatten sie die Gebühren fürs Barzahlen an den Brücken

verdreifacht (was sie aber immer abstritten und behaupteten, FasTrak sei billiger, nicht etwa anonyme

Barzahlung teurer). Und was dann noch an Barzahlern übrig blieb, verschwand, als sie die Barzahler-Spuren auf eine pro Brückenkopf eindampften, wodurch die Warteschlangen noch länger wurden.

Egal also, ob du hier wohnst oder bloß einen Mietwagen einer örtlichen Agentur fährst -- du hast

immer einen FasTrak. Aber wie sich rausstellte, sind Mauthäuschen nicht der einzige Ort, an dem dein

FasTrak gelesen wird. Das DHS hatte FasTrak-Leser in der ganzen Stadt

installiert -- wenn du dran

vorbeifuhrst, zeichneten sie die Zeit und deine ID-Nummer auf und trugen so ein immer perfekteres

Bild dessen zusammen, wer wann wohin fuhr, das in einer Datenbank landete, die zusätzlich von

Ampelblitzern und Tempoüberwachungsanlagen gespeist wurde und von all den anderen

Nummernschild-Erkennungskameras, die hier wie Pilze aus dem Boden schossen.

Bisher hatte niemand groß darüber nachgedacht. Aber jetzt, da die Leute anfingen, darauf zu achten,

bemerkten wir alle irgendwelche Kleinigkeiten, wie etwa den Umstand, dass der FasTrak keinen

Ausschalter hat.

Wenn du also Auto fuhrst, konntest du jederzeit von einer SFPD-Kutsche rausgewunken werden, und

die fragten dich dann, warum du in letzter Zeit so häufig bei Home Depot warst oder wozu dieser

mitternächtliche Trip nach Sonoma letzte Woche gut war.

Die kleinen Wochenend-Demonstrationen überall in der Stadt wurden größer.

Nach einer Woche

dieser Überwachungsmaßnahmen marschierten fünfzigtausend Menschen über Market Street. Mir

wars egal: Den Leuten, die meine Stadt eingenommen hatten, wars ja auch egal, was die Bürger

wollten. Sie waren eine Besatzerarmee. Und sie wussten, wie wir darüber

dachten.

Eines Morgens kam ich grade rechtzeitig zum Frühstück runter, um zu hören, wie Dad Mom erzählte,

dass die zwei größten Taxiunternehmen eine „Ermäßigung“ für Leute einführten, die spezielle Karten

zum Bezahlen der Fahrt verwendeten, angeblich im Sicherheitsinteresse der Fahrer, die dann nicht

mehr so viel Bargeld bei sich hatten. Ich fragte mich, was wohl mit den Informationen passierte, wer

mit welchem Taxi wohin fuhr.

Ich merkte, wie knapp es geworden war. Der neue indienet-Client war als automatisches Update

verteilt worden, als die ganze Sache grade anfing, richtig übel zu werden, und Jolu erzählte, dass jetzt

80 Prozent des Datenverkehrs bei Pigspleen verschlüsselt war. Das Xnet dürfte im letzten Moment

gerettet worden sein.

Aber Dad machte mich langsam wahnsinnig.

„Du bist ja paranoid, Marcus“, sagte er einmal beim Frühstück, als ich ihm davon erzählte, wie ich am

Tag zuvor gesehen hatte, wie Polizisten ein paar Leute aus der BART pflückten.

„Dad, das ist doch lächerlich. Die fangen überhaupt keine Terroristen, oder etwa doch? Das alles jagt

den Leuten bloß Angst ein.“

„Vielleicht haben sie noch keine Terroristen geschnappt, aber sie kriegen auf jeden Fall eine Menge

Gesindel von den Straßen. Denk mal an die Drogenhändler -- angeblich haben sie Dutzende

eingesperrt, seit das alles angefangen hat. Weißt du noch, wie diese Junkies dich ausgeraubt haben?

Wenn wir ihre Dealer nicht schnappen, wird das immer noch schlimmer.“ Im Jahr zuvor war ich

beraubt worden, allerdings noch ziemlich zivilisiert. Ein hagerer Typ mit strengem Geruch sagte mir,

er habe eine Knarre, der andere verlangte meine Brieftasche. Sie ließen mir sogar meinen Ausweis,

behielten allerdings meine Kreditkarte und den Fast Pass. Ich hatte trotzdem fürchterlich Angst gehabt

und noch wochenlang paranoid über meine Schulter geguckt.

„Aber die meisten Leute, die sie festhalten, haben doch überhaupt nichts Falsches gemacht, Dad“,

sagte ich. Das ging mir an die Nieren. Mein eigener Vater! „Das ist doch verrückt. Auf jede schuldige

Person, die sie schnappen, müssen sie Tausende Unschuldige bestrafen. Das ist einfach nicht in

Ordnung.“

„Unschuldig? Typen, die ihre Frau betrügen? Drogendealer? Die verteidigst du, aber was ist mit all

den Leuten, die gestorben sind? Wenn du nichts zu verbergen hast …“

„Also dich würde es nicht stören, wenn sie dich anhalten?“ Die Histogramme meines Vaters waren

bislang deprimierend normal.

„Ich würde es als meine Pflicht betrachten“, sagte er. „Ich wäre stolz. Und ich würde mich sicherer

fühlen.“

Der hatte gut reden.

Vanessa mochte es nicht, wenn ich über diese Sachen sprach, aber sie war zu klug diesbezüglich, als

dass ich das Thema lange vermeiden konnte. Wir trafen uns ständig, redeten übers Wetter, die Schule

und so Zeug, und dann kam ich irgendwie auf dieses Thema zurück. Vanessa blieb dann cool -- noch

einmal rastete sie nicht mehr aus --, aber ich merkte, dass es sie aufregte.

Trotzdem.

„Und dann sagt mein Vater, ‚ich würde es als meine Pflicht betrachten‘. Kannst du dir das vorstellen?

Ich mein, hallo? Ich hab ihm in dem Moment fast davon erzählt, wie ich im Knast war und ob er

meint, dass das auch unsere ‚Pflicht‘ wäre.“

Wir saßen nach der Schule in Dolores Park im Gras und sahen den Hunden dabei zu, Frisbees zu

fangen.

Van war zu Hause reingesprungen und hatte sich umgezogen -- sie trug jetzt ein altes T-Shirt einer

ihrer brasilianischen Lieblings-Techno-Brega-Bands, Carioca Proibidão, „der verbotene Typ aus Rio“.

Das T-Shirt hatte sie bei einer Live-Show gekauft, wo wir alle vor zwei Jahren

waren, ein heimlicher

Ausflug zu einem großen Abenteuer im Cow Palace; und seither war sie ein, zwei Zoll gewachsen,

deshalb saß es knapp überm Bauch und erlaubte Blicke auf ihren flachen kleinen Nabel.

Sie lag zurückgelehnt in der Sonne, die Augen hinter den Brillengläsern geschlossen, und wackelte in

ihren Flip-Flops mit den Zehen. Ich kannte Van schon ewig, und wenn ich an sie dachte, sah ich

gewöhnlich das kleine Mädchen mit Hunderten klirrender Armreifen aus aufgeschlitzten Limo-Dosen,

das Klavier spielte und ums Verrecken nicht tanzen konnte. Als sie heute in Dolores Park saß, sah ich

sie plötzlich so, wie sie war.

Sie war total h31ß -- im Klartext: heiß. Es war so, wie wenn man diese Vase anguckt und plötzlich

merkt, dass das ja auch zwei Gesichter sind. Ich sah zwar, dass Van ja eigentlich nur Van war, aber ich

konnte jetzt auch sehen, dass sie ne echte Schönheit war, und das war mir bisher noch nie aufgefallen.

Okay, Darryl hatte das die ganze Zeit schon gewusst, und glaubt mal nicht, dass ich nicht enttäuscht

war, das jetzt zu begreifen.

„Deinem Dad kannst dus nicht erzählen, ist ja klar“, sagte sie. „Du würdest uns alle in Gefahr

bringen.“ Ihre Augen waren geschlossen, und ihre Brust hob und senkte sich im

Takt ihres Atems, was

mich doch ziemlich aus dem Konzept brachte.

„Ja“, sagte ich düster, „das Problem ist bloß: Ich weiß, dass er totalen Blödsinn redet. Wenn du

meinen Dad rauswinkst und von ihm Beweise verlangst, dass er kein kinderschändender,

drogendealender Terrorist ist -- der würde amoklaufen. Er hasst es schon, in der Warteschleife zu

hängen, wenn er wegen seiner Kreditkartenabrechnung telefoniert. Sperr ihn eine Stunde auf einem

Autorücksitz ein und verhör ihn, dann kriegt der nen Infarkt.“

„Die kommen ja bloß damit durch, weil die Normalen sich für was Besseres halten als die

Unnormalen. Wenn sie jeden rauswinken würden, das wär eine Katastrophe.

Niemand würde mehr

irgendwo hinkommen, alle würden bloß noch drauf warten, von den Bullen verhört zu werden. Der

totale Stau.“

Wow.

„Van, du bist echt genial“, sagte ich.

„Erzähl mir mehr davon“, antwortete sie. Sie lächelte abwesend und blickte mich durch halb

geschlossene Augen an, dass es fast schon romantisch war.

„Ehrlich. Wir können das schaffen. Wir können die Profile ganz einfach durcheinanderbringen. Leute

rauswinken zu lassen ist kein Problem.“

Sie setzte sich auf, wischte ihr Haar aus dem Gesicht und sah mich an. Ich spürte einen kleinen

Hüpfer im Bauch, weil ich dachte, sie sei schwer beeindruckt von mir.

„Wir brauchen bloß RFID-Kloner“, sagte ich. „Und das ist total einfach. Wir müssen bloß die

Firmware auf einen Zehn-Dollar-Leser von Radio Shack flashen. Dann laufen wir rum und

vertauschen wahllos die Marker irgendwelcher Leute und überschreiben ihre Fast Passes und

FasTraks mit den Codes von anderen Leuten. Dann sieht jeder plötzlich ziemlich merkwürdig aus,

und ziemlich kriminell. Und schwupp: der totale Stau!“

Van verzog die Lippen und setzte die Sonnenbrille wieder auf; ich merkte, dass sie so wütend war,

dass sie kein Wort rausbrachte.

„Machs gut, Marcus“, sagte sie und stand auf. Ehe ich mich versah, ging sie davon -- so schnell, dass

sie fast rannte.

„Van“, rief ich, sprang auf und stürzte hinter ihr her. „Van! Warte doch!“ Sie legte noch einen Zahn

zu, und ich musste rennen, um ihr zu folgen.

„Van, was zum Teufel soll das?“, sagte ich und schnappte sie am Arm. Sie riss ihn so heftig weg, dass

ich mir selbst ins Gesicht schlug.

„Du bist völlig durchgeknallt, Marcus. Du bringst all deine kleinen Xnet-Kumpel in Lebensgefahr,

und außerdem willst du die ganze Stadt in Terrorverdächtige verwandeln. Kannst du nicht aufhören,

bevor du den Leuten wehtust?“

Ich machte den Mund ein paarmal auf und zu. „Van, ich bin nicht das Problem, die sind es. Ich

verhafte schließlich keine Leute, steck sie in den Knast und lass sie verschwinden. Die

Heimatschutzbehörde, die tut das. Und ich kämpfe dagegen, um sie aufzuhalten.“

„Aber wie, wenn dus doch nur schlimmer machst?“

„Vielleicht muss es ja erst schlimmer werden, bevor es besser wird, Van. Wars nicht das, was du

meintest? Wenn jetzt jeder rausgewunken würde …“

„Das hab ich aber nicht gemeint. Ich hab nicht gemeint, dass du dafür sorgen sollst, dass sie jeden

verhaften. Wenn du protestieren willst, dann geh doch zur Protestbewegung.

Mach irgendwas

Positives. Hast du denn überhaupt nichts von Darryl gelernt? Gar nichts?“

„Du hast verdammt Recht“, sagte ich, schon halb aus der Fassung. „Ich hab gelernt, dass man denen

nicht trauen kann. Dass jeder ihnen hilft, der sie nicht bekämft. Und dass sie das Land in einen Knast

verwandeln, wenn wir sie nur lassen. Und was hast du gelernt, Van? Immer nur ängstlich zu sein,

stillzusitzen und den Mund zu halten und zu hoffen, dass dich keiner bemerkt?

Glaubst du, das wird

noch mal besser? Wenn wir nichts unternehmen, dann ist das das Beste, was wir noch zu erwarten

haben. Dann wirds in Zukunft immer nur noch schlimmer werden. Willst du Darryl helfen? Dann hilf

mir, die zu stoppen!“

Da war er wieder, mein Schwur. Nicht Darryl zu befreien, sondern das gesamte DHS in die Knie zu

zwingen. Dass das Wahnsinn war, wusste ich selbst nur zu gut. Aber es war genau das, was ich zu tun

gedachte, da gabs gar kein Vertun.

Van schubste mich mit beiden Händen grob von sich. Sie hatte mächtig Kraft vom Schulsport --

Fechten, Lacrosse, Hockey, all diese Mädchenschul-Sportarten --, und ich landete mit dem Hintern auf

dem grässlichen San Franciscoer Bürgersteig. Sie verschwand, und ich folgte ihr nicht.

Der entscheidende Aspekt bei Sicherheitssystemen ist nicht, wie sie arbeiten, sondern wie sie

versagen.

Das war die erste Zeile meines ersten Blog-Eintrags auf Open Revolt, meiner Xnet-Site. Ich schrieb

als M1k3y, und ich war bereit, in den Krieg zu ziehen.

Mag ja sein, all diese automatische Durchleuchtung ist wirklich dafür gedacht, Terroristen zu

fangen. Und es mag sogar sein, sie fangen damit früher oder später tatsächlich einen Terroristen.

Das Problem ist bloß, es fängt uns alle auch, obwohl wir überhaupt nichts Falsches tun.

Je mehr Leute sie damit fangen, desto fragwürdiger wird das System. Wenn es zu viele Leute fängt,

dann ist das sein Tod.

Ist die Sache klar?

Dann kopierte ich meine Anleitung zum Bau eines RFID-Kloners rein, dazu ein paar Tips, wie man

nah genug an Leute rankommt, um ihre Marker zu lesen und überschreiben zu können. Meinen

eigenen Kloner steckte ich in die Tasche meiner Original-Motocross-Jacke aus schwarzem Leder mit

den verstärkten Taschen und ging dann zur Schule. Zwischen daheim und Chavez High schaffte ich

es, sechs Marker zu klonen.

Sie wollten Krieg. Sie würden Krieg bekommen.

Wenn du jemals auf die Schnapsidee kommen solltest, einen automatischen Terrordetektor zu bauen,

dann solltest du erst mal eine bestimmte Mathematik-Lektion lernen. Sie heißt

„Paradoxon vom

Falsch-Positiven“, und sie ist ein Prachtstück.

Nimm an, es gibt diese neue Krankheit, sagen wir, Super-AIDS. Nur einer von einer Million

Menschen bekommt Super-AIDS. Du entwickelst einen Test, der eine Genauigkeit von 99 Prozent

hat. Damit meine ich, er liefert in 99 Prozent der Fälle das korrekte Ergebnis:

„ja“, wenn der Proband

infiziert ist, und „nein“, wenn er gesund ist. Dann testest du damit eine Million Leute.

Einer von einer Million Leuten hat Super-AIDS. Und einer von hundert Leuten, die du testest, wird

ein „falsch-positives“ Ergebnis generieren -- der Test wird ergeben, dass der Proband Super-AIDS hat,

obwohl er es in Wahrheit nicht hat. Das nämlich bedeutet „99 Prozent genau“: ein Prozent falsch.

Was ist ein Prozent von einer Million?

1.000.000/100 = 10.000

Einer von einer Million Menschen hat Super-AIDS. Wenn du wahllos eine Million Leute testest, wirst

du wahrscheinlich einen echten Fall von Super-AIDS ausfindig machen. Aber

dein Test wird nicht

genau eine Person als Träger von Super-AIDS identifizieren. Sondern zehntausend Leute.

Dein zu 99 Prozent genauer Test arbeitet also mit einer Ungenauigkeit von 99,99

Prozent.

Das ist das Paradoxon vom Falsch-Positiven. Wenn du etwas wirklich Seltenes finden willst, dann

muss die Genauigkeit deines Tests zu der Seltenheit dessen passen, was du suchst. Wenn du auf einen

einzelnen Pixel auf deinem Bildschirm zeigen willst, dann ist ein spitzer Bleistift ein guter Zeiger: Die

Spitze ist viel kleiner (viel genauer) als die Pixel. Aber die Bleistiftspitze taugt nichts, wenn du auf ein

einzelnes Atom in deinem Bildschirm zeigen willst. Dafür brauchst du einen Zeiger -- einen Test --,

der an der Spitze nur ein Atom groß oder kleiner ist.

Das ist das Paradoxon vom Falsch-Positiven, und mit Terrorismus hängt es wie folgt zusammen:

Terroristen sind wirklich selten. In einer 20-Millionen-Stadt wie New York gibt es vielleicht einen

oder zwei Terroristen. Vielleicht zehn, allerhöchstens. 10/20.000.000 = 0.00005

Prozent. Ein

zwanzigtausendstel Prozent.

Das ist wirklich verdammt selten. Und jetzt denk dir eine Software, die alle Bankdaten, Mautdaten,

Nahverkehrs-Daten oder Telefondaten der Stadt durchgrasen kann und mit 99-

prozentiger

Genauigkeit Terroristen erwischt.

In einer Masse von 20 Millionen Leuten wird ein 99 Prozent genauer Test zweihunderttausend

Menschen als Terroristen identifizieren. Aber nur zehn davon sind wirklich Terroristen. Um zehn

Schurken zu schnappen, muss man also zweihunderttausend Unschuldige rauspicken und unter die

Lupe nehmen.

Jetzt kommts: Terrorismus-Tests sind nicht mal annähernd 99 Prozent genau.

Eher so was wie 60

Prozent. Manchmal sogar nur 40 Prozent genau.

Und all das bedeutete, dass die Heimatschutzbehörde zum Scheitern verdammt war. Sie versuchte,

unglaublich seltene Ereignisse -- eine Person ist ein Terrorist -- mit unpräzisen Systemen zu erkennen.

Kein Wunder, dass wir es schafften, so ein Chaos zu verbreiten.

Eines Dienstagmorgens, eine Woche nach Beginn der Operation Falsch-Positiv, kam ich pfeifend aus

der Haustür. Ich hörte neue Musik, die ich in der Nacht zuvor aus dem Xnet geladen hatte -- eine

Menge Leute schickten M1k3y kleine digitale Geschenke, um sich dafür zu bedanken, dass er ihnen

wieder Hoffnung gab.

Ich bog auf die 23. Straße ein und nahm vorsichtig die paar schmalen Steinstufen

in der Flanke des

Hügels. Auf dem Weg runter kam ich an Herrn Dackel vorbei. Herrn Dackels richtigen Namen kenne

ich nicht, aber ich sehe ihn fast täglich, wenn er seine drei schnaufenden Dackel die Treppe hoch zu

dem kleinen Park führt. Es ist praktisch unmöglich, sich auf der Treppe an dieser Meute

vorbeizuquetschen, und so verheddere ich mich regelmäßig in einer Leine, werde in einen Vorgarten

abgedrängt oder bleibe an der Stoßstange eines der am Straßenrand parkenden Autos hängen.

Herr Dackel ist offensichtlich sehr wichtig, denn er hat eine schicke Uhr und trägt immer einen

eleganten Anzug. Ich war davon ausgegangen, dass er im Finanzdistrikt arbeitete.

Als ich heute an ihm entlangschubberte, löste ich meinen RFID-Kloner aus, der in der Tasche meiner

Lederjacke bereit lag. Der Kloner saugte sich die Nummern seiner Kreditkarten, der Autoschlüssel,

seines Passes und die der Hundert-Dollar-Noten in seiner Brieftasche.

Während das noch geschah, flashte ich ein paar davon mit neuen Nummern, die ich im Gedränge von

anderen Leuten gesaugt hatte. Das war so, wie ein paar Nummernschilder auszutauschen, aber

unsichtbar und in Echtzeit. Ich lächelte Herrn Dackel entschuldigend an und ging weiter die Treppe

runter. Neben drei Autos blieb ich lange genug stehen, um ihre FasTrak-Nummern gegen die

Nummern von Wagen zu tauschen, an denen ich am Tag zuvor vorbeigekommen war.

Man mag das für ziemlich rüpelig halten, aber im Vergleich mit vielen Xnettern war ich noch

zurückhaltend und konservativ. Ein paar Mädels im Verfahrenstechnik-Programm an der UC Berkeley

hatten ausgetüftelt, wie man aus Küchenartikeln eine harmlose Substanz erzeugt, die Sprengstoff-Sensoren anschlagen ließ. Sie hatten ihren Spaß dabei, das Zeug auf die Aktentaschen und Jacken

ihrer Profs zu streuen, um sich dann zu verstecken und zu beobachten, wie diese Profs versuchten,

Auditorien und Bibliotheken auf dem Campus zu betreten, nur um von den mittlerweile

allgegenwärtigen Sicherheitsdiensten in die Mangel genommen zu werden.

Andere wollten ausprobieren, wie man Umschläge so mit Substanzen pudern könnte, dass sie positiv

auf Anthrax getestet würden, aber alle anderen hielten das für bescheuert. Zum Glück hatten sies wohl

auch nicht hingekriegt.

Ich kam am San Francisco General Hospital vorbei und nickte zufrieden, als ich die langen Schlangen

am Haupteingang sah. Natürlich hatten sie dort auch einen Polizeiposten, und es arbeiteten da

genügend Xnetter als Praktikanten, in der Caféteria und sonstwo, dass sie mittlerweile die Marken

von allen Mitarbeitern wild durchgemischt hatten. Ich hatte gelesen, dass die Sicherheits-Checks für

jeden die Arbeitszeit um eine Stunde pro Tag verlängerten, und die Gewerkschaften drohten mit Streik

für den Fall, dass das Hospital nichts dagegen unternahm.

Ein paar Blöcke weiter sah ich eine noch längere Schlange am Zugang zur BART. Polizisten stapften

die Schlange entlang und pickten Leute raus, um sie zu befragen, die Taschen zu durchsuchen und sie

komplett zu filzen. Sie wurden zwar immer öfter deswegen verklagt, aber das schien sie nicht zu

bremsen.

Ich war ein bisschen zu früh an der Schule und beschloss, noch mal zur 22.

Straße zu gehen, um einen

Kaffee zu trinken, und da kam ich an einem Polizeiposten vorbei, wo sie Autos anhielten und penibel

durchsuchten.

In der Schule wars nicht weniger bizarr -- die Sicherheitsleute an den Metalldetektoren prüften auch

unsere Schulausweise und griffen sich Schüler mit ungewöhnlichen Bewegungsprofilen zur

Befragung raus. Natürlich hatten wir alle ungewöhnliche Bewegungsprofile.

Und natürlich fing der

Unterricht mindestens eine Stunde später an.

Und im Unterricht wars völlig verrückt. Ich glaub nicht, dass sich überhaupt jemand konzentrieren

konnte. Ich hörte, wie zwei Lehrer drüber sprachen, wie lange sie am Tag zuvor für den Heimweg

gebraucht hatten und dass sie heute heimlich früher loskommen wollten.

Ich konnte mich nur mit Mühe beherrschen, um nicht loszuplatzen. Das Paradoxon vom Falsch-Positiven hatte wieder zugeschlagen!

Klar, dass sie uns früh aus dem Unterricht entließen; ich nahm den langen Weg nach Hause und

stromerte durch Mission, um das Chaos zu begutachten. Endlose Autoschlangen.

Anstehen vor BARTStationen

bis einmal um den Block rum. Leute, die Geldautomaten beschimpften, die kein Geld

rausrückten, weil ihre Konten wegen ungewöhnlicher Aktivitäten eingefroren waren (das kommt

dabei raus, wenn man sein Konto unmittelbar mit seinem FasTrak und FastPass koppelt!).

Ich kam heim, machte mir ein Sandwich und loggte mich ins Xnet ein. Es war ein guter Tag gewesen.

Leute aus allen Ecken der Stadt bejubelten ihre Erfolge. Wir hatten die Stadt San Francisco zum

Stillstand gebracht. Die Nachrichten bestätigten das -- dort hieß es, das DHS sei übergeschnappt, und

man machte die Pseudo-Sicherheitsmaßnahmen, die uns angeblich vor Terrorismus schützen sollten,

für alles verantwortlich. Der Wirtschaftsteil des San Francisco Chronicle widmete die komplette

Aufmacherseite einer Schätzung der volkswirtschaftlichen Kosten der DHS-Maßnahmen durch

ausgefallene Arbeitsstunden, Besprechungen und so weiter. Laut dem Wirtschaftsexperten des

Chronicle würde eine Woche dieses Blödsinns die Stadt mehr kosten als die Folgen der Sprengung der

Bay Bridge.

Hahahahaha.

Und das Beste: Dad kam an diesem Abend später. Viel später. Drei Stunden später. Warum? Weil er

rausgewunken, durchsucht und befragt worden war. Dann passierte das wieder.

Zwei Mal.

Zwei Mal!

Kapitel 9

Dieses Kapitel ist Compass Books/Books Inc gewidmet, der ältesten unabhängigen Buchhandlung im Westen der USA. Sie hat Filialen überall in Kalifornien, in San Francisco, Burlingame, Mountain View und Palo Alto, aber am coolsten ist ihre

Monster-Buchhandlung mitten in Downtown Disney im Disneyland Anaheim.

Ich bin ein Hardcore-Fan von Disney-Parks

(wie mein erster Roman, „Down and Out in the Magic Kingdom“ -- dt.

„Backup“, A.d.Ü. --) beweist, und wann immer ich in Kalifornien lebte, habe ich mir eine Disneyland-Jahreskarte gekauft und bei praktisch jedem Besuch auch einmal bei

Compass Books in Downtown Disney reingeschaut. Sie haben da eine fantastische Auswahl an unautorisierten, teils auch kritischen Büchern über Disney vorrätig, außerdem eine Menge Kinderbücher und Science Fiction, und im Kaffee nebenan

machen sie einen fiesen Cappuccino.

Compass Books/Books Inc:

http://www.booksinc.net/NASApp/store/Product;jsessionid=abcF-ch09-pbU6m7ZRrLr?

s=showproduct&isbn=0765319853

r war so wütend, dass ich dachte, gleich müsse er platzen. Sagte ich schon, dass ich erst ein paar

Mal erlebt hatte, wie er die Fassung verlor? In dieser Nacht verlor er sie mehr als jemals zuvor. E

„Ihr glaubt es nicht. Dieser Polizist war vielleicht 18, und der fragte dauernd,

,Warum waren Sie denn

gestern in Berkeley, wenn Ihr Kunde doch in Mountain View sitzt?‘ Und dann hab ich ihm noch mal

erklärt, dass ich in Berkeley unterrichte, und dann er wieder ,Aber ich dachte, Sie seien ein Berater‘,

und dann ging das Ganze wieder von vorn los. Es war wie bei einer Sitcom, wo sie die Polizisten mit

einem Dummheitslaser beschossen haben.

Aber schlimmer war: Der bestand darauf, ich sei auch heute in Berkeley gewesen, und ich sagte nein,

war ich nicht, und er sagte doch, ich sei da gewesen. Dann hat er mir meine FasTrak-Abrechnung

gezeigt, und da stand drauf, dass ich heute drei Mal über San Mateo Bridge gefahren sein soll!

Und das ist noch nicht alles“, sagte er und atmete so scharf ein, dass ich merkte, wie sauer er war. „Sie

hatten Informationen über Orte, an denen ich gewesen sein soll, die überhaupt keine Mautstation

haben. Die müssen meinen Pass einfach so auf der Straße eingelesen haben. Und das war alles falsch!

Ach verdammt, die schnüffeln uns allen hinterher und sind dafür noch nicht mal kompetent genug!“

Während er sich so in Fahrt redete, war ich in die Küche verschwunden, und jetzt sah ich ihm von der

Türschwelle aus zu. Mom begegnete meinem Blick, und wir hoben beide die Augenbrauen, wie um zu

sagen „wer sagt ihm jetzt ‚siehst du‘?“ Ich nickte ihr zu. Sie würde ihre ehefrauliche Macht nutzen

können, seine Wut zu besänftigen, wie das mir als einer bloßen Nachwuchs-Einheit niemals möglich

wäre.

„Drew“, sagte sie und schnappte ihn am Arm, um ihn davon abzuhalten, weiter durch die Küche zu

stratzen und mit den Armen zu wedeln wie ein Straßenprediger.

„Was?“, schnappte er.

„Ich glaube, du schuldest Marcus eine Entschuldigung.“ Ihre Stimme war ganz ruhig dabei. Dad und

ich sind die Durchgeknallten im Haushalt -- Mom ist ein echter Fels in der

Brandung.

Dad schaute mich an. Seine Augen wurden schmal, während er einen Moment lang nachdachte.

„Okay“, sagte er schließlich. „Du hast Recht. Was ich meinte, war kompetente Überwachung. Diese

Typen waren die totalen Anfänger. Es tut mir Leid, mein Junge“, sagte er. „Du hattest Recht. Es war

lächerlich.“ Er streckte seine Hand aus und schüttelte meine, dann zog er mich plötzlich an sich und

umarmte mich heftig.

„Oh Gott, was machen wir mit diesem Land, Marcus? Deine Generation hätte es verdient, etwas

Besseres zu erben als das hier.“ Als er mich wieder los ließ, konnte ich die tiefen Furchen in seinem

Gesicht sehen, Linien, die mir zuvor nie aufgefallen waren.

Ich ging zurück in mein Zimmer und spielte ein paar Xnet-Spiele. Es gab da eine gute Mehrspieler-Nummer, ein Uhrwerk-Piratenspiel, bei dem man jeden Tag ein paar Aufgaben lösen musste, um die

Uhrfedern seiner ganzen Mannschaft neu aufzuziehen und wieder auf Raubzüge gehen zu können. Es

war diese Sorte Spiel, die ich hasste, von der ich aber trotzdem nicht wegkam: Viele Aufgaben, die

sich wiederholten und nicht sonderlich anspruchsvoll waren, ein paar Kämpfe Spieler gegen Spieler

(Klingen kreuzen, um auszufechten, wer das Schiff kommandierte) und nicht

gerade viele coole

Rätsel zu lösen. Hauptsächlich verursachte diese Sorte Spiel mir Heimweh nach Harajuku Fun

Madness, dieser Kombination aus Rumrennen in der echten Welt, OnlineRätselaufgaben und

Strategiesitzungen mit deinem Team.

Aber heute nacht war es genau das, was ich brauchte. Sinnlose Unterhaltung.

Mein armer Dad.

Ich hatte ihm das angetan. Vorher war er zufrieden gewesen, zuversichtlich, dass seine Steuerdollars

dafür ausgegeben wurden, ihn sicherer zu machen. Ich hatte diese Zuversicht zerstört. Natürlich war

es eine falsche Zuversicht, aber es hatte ihn aufrecht erhalten. So wie ich ihn nun sah, am Boden

zerstört, fragte ich mich, ob es wohl besser sei, klarsichtig und ohne Hoffnung zu leben oder in einem

Paradies der Einfältigen. Diese Scham -- dieselbe Scham, die ich seit dem Moment empfunden hatte,

als ich meine Passwörter preisgab, als sie mich gebrochen hatten -- kehrte zurück, machte mich träge

und ließ mich wünschen, nur weit weg von mir selbst zu sein.

Mein Spielcharakter war ein Matrose auf dem Piratenschiff „Zombie Charger“, und er war

abgelaufen, während ich offline war. Ich musste alle anderen Spieler auf dem Schiff anbeamen, um

einen zu finden, der bereit war, mich wieder aufzuziehen. Das beschäftigte mich.

Ich mochte es sogar.

Es hat was Magisches, wenn ein völlig Fremder dir einen Gefallen tut. Und weil es das Xnet war,

wusste ich, dass alle Fremden hier in gewissem Sinne Freunde waren.

Woher kommste?

Der Charakter, der mich aufzog, hieß Lizanator, und er war weiblich, obwohl das nicht bedeuten

musste, dass eine Frau dahintersteckte. Kerle hatten manchmal eine bizarre Neigung dazu, weibliche

Charaktere zu spielen.

San Francisco

sagte ich

Nein, Idiot, wo in San Fran?

Warum, biste pervers?

Das war normalerweise das Ende so einer Konversation. Natürlich war jede Spiele-Site voll von

Pädos und Pervis sowie von Bullen, die hier als Köder für die Pädos und Perversen unterwegs waren

(obwohl ich hoffte, dass es im Xnet keine Bullen gab!) So eine Anschuldigung war in neunzig Prozent

aller Fälle genug für nen Themenwechsel.

Mission? Potrero Hill? Noe? East Bay?

Zieh mich bloß auf, ja?

Sie hörte auf, mich aufzuziehen.

Hast Angst?

Ne, wieso?

Nur ne Frage

Ich hatte kein gutes Gefühl mit ihr. Sie war offensichtlich mehr als bloß neugierig. Nenn es Paranoia.

Ich loggte mich aus und fuhr die Xbox runter.

Dad schaute mich am nächsten Morgen übern Frühstückstisch hinweg an und sagte: „Sieht aus, als ob

es endlich besser würde“. Er reichte mir den Chronicle, der auf der dritten Seite aufgeschlagen war.

Ein Sprecher der Heimatschutzbehörde bestätigte, dass das Büro in San Francisco in DC eine

Budget- und Personalaufstockung um 300 Prozent beantragt habe.

Wie bitte?

Generalmajor Graeme Sutherland, der Kommandierende der DHS-Operationen in Nordkalifornien,

bestätigte die Anfrage bei einer Pressekonferenz am Vortag, wobei er angab, dass ein Anstieg

verdächtiger Aktivitäten in der Bay Area den Antrag ausgelöst habe. „Wir verzeichnen einen Zuwachs

an Untergrund-Gerede und Aktivitäten und glauben, dass Saboteure absichtlich falsche

Sicherheitswarnungen auslösen, um unsere Bemühungen zu unterminieren.“

Ich verdrehte die Augen. Ach du Sch…

„Diese Fehlalarme sind möglicherweise ‚Störfeuer‘, die dazu dienen sollen, von tatsächlichen

Angriffen abzulenken. Der einzig effektive Weg, sie zu bekämpfen, besteht darin, unser Personal zu

verstärken und die Analystenlevel zu erhöhen, so dass wir jede einzelne Spur konsequent verfolgen

können.“

Sutherland bemerkte, die Verspätungen überall in der Stadt seien „unglücklich“, und er zeigte sich

entschlossen, sie zu beseitigen.

Vor meinem inneren Auge sah ich die Stadt mit vier oder fünf Mal so vielen DHS-Beamten, die alle

hergekommen waren, um meine eigenen blöden Ideen anzugehen. Van hatte Recht. Je mehr ich sie

bekämpfte, desto schlimmer wurde die Sache.

Dad zeigte auf die Zeitung. „Diese Leute sind vielleicht Idioten, aber sie sind Idioten mit Methode.

Die bewerfen das Problem einfach so lange mit Ressourcen, bis sie es lösen.

Denn es ist lösbar, weißt

du? Sämtliche Daten der ganzen Stadt erheben, jeder einzelnen Spur folgen. Sie werden die

Terroristen fangen.“

Ich fasste es nicht. „Dad! Hörst du dir eigentlich selbst zu? Die reden davon, praktisch jeden

einzelnen Menschen in ganz San Francisco unter die Lupe zu nehmen!“

„Ja“, sagte er, „stimmt. Und sie werden jeden einzelnen Alimentenbetrüger,

jeden Drogendealer, jeden

Schmutzfink und jeden Terroristen fangen. Warts nur ab. Das hier könnte sich als das Beste erweisen,

was dem Land je passiert ist.“

„Sag mir, dass du Witze machst“, sagte ich. „Ich bitte dich. Glaubst du wirklich, dass sie das haben

wollten, als sie die Verfassung geschrieben haben? Und was ist mit der Bill of Rights?“

„Als sie die Bill of Rights geschrieben haben, kannten sie noch keine Datenanalysen“, sagte er. Er war

erschreckend abgeklärt dabei, völlig überzeugt davon, im Recht zu sein. „Das Recht auf

Versammlungsfreiheit ist ja gut und schön, aber warum sollte es der Polizei nicht erlaubt sein, dein

soziales Netzwerk durchzugrasen, um rauszufinden, ob du mit Vergewaltigern und Terroristen

abhängst?“

„Weil es meine Privatsphäre beeinträchtigt!“, entgegnete ich.

„Na und, was ist schon dabei? Ist dir Privatsphäre wichtiger als Terroristen?“

Urgs, ich hasste diese Sorte Diskussionen mit meinem Dad. Ich brauchte jetzt einen Kaffee.

„Dad, komm schon. Jemandem die Privatsphäre wegzunehmen hat nichts mit Terroristenfangen zu

tun; das ist bloß dazu gut, normale Leute zu ärgern.“

„Woher willst du wissen, dass sie keine Terroristen fangen?“

„Wo sind denn die Terroristen, die sie gefangen haben?“

„Ich bin sicher, wir werden demnächst Verhaftungen erleben. Warts mal ab.“

„Dad, was zum Teufel ist denn seit letzter Nacht mit dir passiert? Du warst kurz vorm Platzen

darüber, dass die Bullen dich gestoppt hatten …“

„Nicht in diesem Ton, Marcus. Was seit letzter Nacht passiert ist, ist, dass ich Gelegenheit hatte, über

die Sache nachzudenken und dies hier zu lesen.“ Er raschelte mit seiner Zeitung.

„Der Grund dafür,

dass sie mich abgefangen haben, ist, dass die bösen Jungs ihnen Steine in den Weg legen. Sie müssen

ihre Techniken anpassen, um diese Blockaden zu überwinden. Aber das werden sie schaffen. Und bis

dahin ist die eine oder andere Straßensperre ein sehr bescheidener Preis. Jetzt ist einfach nicht die

Zeit, sich zum Anwalt der Bill of Rights aufzuspielen. Jetzt ist die Zeit, ein paar Opfer zu bringen, um

die Sicherheit unserer Stadt zu erhalten.“

Ich brachte meinen Toast nicht mehr runter. Also packte ich den Teller in die Spülmaschine und ging

zur Schule. Ich musste einfach nur raus hier.

Die Xnetter waren nicht glücklich über die verstärkte Polizeiüberwachung, aber sie waren nicht

bereit, sie ohne Gegenwehr zu akzeptieren. Irgendjemand rief bei einer Hörertelefon-Sendung auf

KQED an und erzählte, die Polizei verschwende bloß Zeit und wir würden das System schneller

durcheinanderbringen, als sie es entwirren könnten. Die Aufzeichnung war in dieser Nacht ein Top-Download im Xnet.

„Hier ist California Live, und wir sprechen mit einem anonymen Anrufer aus einer Telefonzelle in

San Francisco. Er hat seine eigenen Informationen über die die Verzögerungen, die wir in dieser

Woche überall in der Stadt erleben. Anrufer, Sie sind auf Sendung.“

„Ja, hey, das ist erst der Anfang, wisst ihr? Ich mein, hey, wir fangen grad erst an. Sollen die doch ne

Milliarde Schweine einstellen und Kontrollpunkte an jeder Ecke aufmachen. Wir jammen die alle!

Und hey, was soll die Terroristenscheiße? Wir sind keine Terroristen! Ich mein, echt jetzt! Wir

blocken das System, weil wir die Heimatschützer hassen und unsere Stadt lieben. Terroristen? Ich

kann Dschihad nicht mal buchstabieren. Entspannt euch.“

Er klang wie ein Idiot. Nicht bloß die unzusammenhängenden Wörter, sondern auch sein hämischer

Ton. Er klang wie ein Junge, der unanständig stolz auf sich selbst war. Er war ein Junge, der

unanständig stolz auf sich selbst war.

Das Xnet schäumte über deswegen. Viele Leute dachten, es sei idiotisch, dass er da angerufen habe,

und andere meinten, er sei ein Held. Ich machte mir Sorgen darüber, dass auf die Telefonzelle, die er

benutzt hatte, wahrscheinlich eine Kamera gerichtet war. Oder ein RFID-Leser, der seinen Fast Pass

ausgeschnüffelt haben könnte. Ich hoffte, der Junge war klug genug gewesen, seine Fingerabdrücke

von der Münze zu wischen, die Kapuze aufzubehalten und all seine RFIDs daheim zu lassen. Aber ich

bezweifelte es. Und ich fragte mich, ob sie wohl demnächst bei ihm an die Tür klopften.

Ich wusste, dass im Xnet eine große Sache abging, wenn ich plötzlich ne Million E-Mails von Leuten

bekam, die M1k3y über die neuesten Entwicklungen informieren wollten. Und grade als ich über

Herrn Dschihad-nicht-buchstabieren las, spielte meine Mailbox verrückt. Jeder hatte eine Botschaft

für mich, einen Link zu einem Livejournal im Xnet, einem der vielen anonymen Blogs, die auf dem

Freenet-Veröffentlichungssystem basierten, das auch von chinesischen Demokratieaktivisten benutzt

wurde.

Das war knapp

Heute abend hingen wir wieder beim Embarcadero rum, um jedem einen neuen Autoschlüssel oder

Fast Pass oder FasTrak zu verpassen und ein bisschen Pseudo-Schießpulver zu verstreuen. Überall

waren Bullen, aber wir waren klüger als die; wir waren da so ziemlich jede Nacht und wurden nie

erwischt.

Aber heute haben sie uns erwischt. Blöder Fehler. Wir waren schlampig, und sie haben uns

geschnappt. Einer von den Verdeckten hat erst meinen Freund und dann die anderen von uns

erwischt. Die hatten die Menge schon lange beobachtet, und die hatten einen von diesen Trucks in der

Nähe, da brachten sie vier von uns rein und haben den Rest entwischen lassen.

Der Truck war PROPPEVOLL wie ne Sardinendose mit allen Arten von Leuten, alt jung schwarz

weiß reich arm alle verdächtig, und zwei Bullen waren drin, die haben versucht, uns Fragen zu

stellen, und die Verdeckten brachten immer noch mehr von uns rein. Die meisten Leute versuchten

nach vorn in die Reihe zu kommen, um schneller mit der Fragerei durch zu sein, deshalb kamen wir

immer weiter nach hinten und wir waren wohl stundenlang da drin und es wurde immer bloß noch

voller statt leerer.

So um acht abends hatten die Schichtwechsel und zwei neue Bullen kamen rein und schnauzten die

anderen Bullen an, so was zum Teufel und macht ihr hier überhaupt irgendwas und so. Die hatten

echt Streit und dann verschwanden die alten Bullen und die neuen setzten sich

an die Tische und

flüsterten ne Weile.

Dann stand einer von den Bullen auf und fing an zu brüllen IHR ALLE

HIER VERSCHWINDET

JETZT EINFACH NACH HAUSE JESUS WIR HABEN BESSERES ZU TUN

ALS EUCH FRAGEN ZU

STELLEN OB IHR WAS FALSCH GEMACHT HABT MACHTS EINFACH

NICHT NOCH MAL UND

LASST ES EUCH ALLE EINE WARNUNG SEIN.

Ein paar von den Anzügen wurden echt stinkig, das war UMWERFEND

weil sie vielleicht zehn

Minuten vorher rumgezickt hatten weil sie hier festgehalten werden, und jetzt haben sie rumgezickt

weil sie rausgelassen wurden, ich mein, hä?

Wir haben uns dann ganz schnell verdünnt und sind nach Hause verschwunden, um das hier zu

schreiben. Glaubts uns, die Verdeckten sind überall. Wenn ihr zum Jammen geht, dann haltet die

Augen offen und seid immer auf dem Sprung, falls es Probleme gibt. Wenn sie euch erwischen,

versucht es auszusitzen die sind so beschäftigt dass sie euch vielleicht einfach wieder gehen lassen.

Und nur wegen uns sind die so beschäftigt! Die ganzen Leute im Truck waren bloß wegen unseren

Störaktionen da. Also: weiterjammen!

Ich hatte das Gefühl, ich müsse mich übergeben. Diese vier Leute -- Kinder, die

ich nie gesehen hatte

--, die wären fast für immer verschwunden wegen einer Sache, die ich angeleiert hatte.

Wegen einer Sache, die ich ihnen aufgetragen hatte. Ich war kein bisschen besser als ein Terrorist.

Dem DHS wurde die Budgetanforderung bewilligt. Der Präsident war im Fernsehen zusammen mit

dem Gouverneur, um uns zu erzählen, dass für Sicherheit kein Preis zu hoch sei.

Wir mussten es am

nächsten Tag in der Schulaula ansehen. Mein Dad war begeistert. Er hatte den Präsidenten seit dem

Tag seiner Wahl gehasst, weil er fand, der sei kein Stück besser als der Typ vor ihm, und der sei ja

wohl ein Totalausfall gewesen; aber jetzt fiel ihm nichts anderes mehr ein als zu erzählen, wie

entschlossen und dynamisch der Neue doch sei.

„Sei nicht so hart mit deinem Vater“, sagte Mom eines Abends zu mir, als ich von der Schule

heimkam. Sie hatte in letzter Zeit möglichst viel von zu Hause gearbeitet. Mom ist eine freiberufliche

Übersiedelungsexpertin und hilft englischen Landsleuten, sich in San Francisco einzugliedern. Die

UK High Commission bezahlt sie dafür, E-Mails von entgeisterten Briten im ganzen Land zu

beantworten, die nicht damit klarkommen, wie völlig durchgeknallt wir Amerikaner sind. Sie verdient

also ihr Geld damit, Amerikaner zu erklären, und sie sagte, dass es in diesen Tagen besser sei, das von

daheim zu tun, wo sie keinem Amerikaner leibhaftig begegnete oder mit ihm sprechen müsste.

Ich hab keine Illusionen über Großbritannien. Okay, Amerika ist vielleicht bereit, die Verfassung in

die Tonne zu treten, sobald irgendein Dschihadist uns schief anguckt; aber wie ich in meinem freien

Gesellschaftskunde-Projekt in der Neunten gelernt habe, haben die Briten noch nicht mal eine

Verfassung. Und sie haben Gesetze, die dir die Haare auf den Zehen kräuseln: Sie können dich da für

ein ganzes Jahr in den Knast stecken, wenn sie wirklich total sicher sind, dass du ein Terrorist bist,

ohne das aber beweisen zu können. Aber wie können sie so sicher sein, wenn sie keine Beweise

haben? Wie kommen sie dazu? Haben sie dich in einem total lebendigen Traum dabei beobachtet, wie

du terroristische Akte begehst?

Und die Überwachung in Großbritannien ließ Amerika wie nen blutigen Anfänger aussehen. Der

durchschnittliche Londoner wird 500 Mal am Tag fotografiert, einfach dabei, wie er die Straße

entlangläuft. Jedes Nummernschild wird an jeder Ecke des Landes fotografiert.

Jeder, von den

Banken bis zum Verkehrsunternehmen, ist total heiß drauf, dich zu tracken und dich zu verpetzen,

wenn du auch nur im entferntesten verdächtig wirkst.

Aber Mom sah das nicht so. Sie hatte Großbritannien vor dem Highschool-Abschluss verlassen und

war hier nie heimisch geworden, obwohl sie einen Jungen aus Petaluma geheiratet und einen Sohn

hier großgezogen hatte. Für sie war dies hier für immer das Land der Barbaren, und Großbritannien

würde auf ewig ihre Heimat sein.

„Mom, er liegt aber einfach daneben. Du solltest das noch am ehesten wissen.

Alles, was dieses Land

mal groß gemacht hat, wird durchs Klo gespült, und er findet das völlig in Ordnung. Hast du gemerkt,

dass sie noch keinen einzigen Terroristen geschnappt haben? Dad sagt immer nur

‚wir müssen sicher

sein‘, aber er muss doch mal begreifen, dass sich die meisten von uns kein Stück sicher fühlen. Wir

fühlen uns die ganze Zeit nur bedroht.“

„Ich weiß das alles, Marcus. Glaub mir, ich bin nicht begeistert davon, was mit diesem Land

geschieht. Aber dein Vater ist …“ Sie brach ab. „Als du nach den Angriffen nicht nach Hause kamst,

da dachte er …“

Sie stand auf und machte sich eine Tasse Tee -- etwas, was sie immer tat, wenn sie sich unwohl oder

verunsichert fühlte.

„Marcus“, sagte sie dann, „Marcus, wir glaubten, du seiest tot. Begreifst du das?

Wir haben tagelang

um dich getrauert. Wir haben uns vorgestellt, wie du in Stücke gebombt auf dem Meeresgrund liegst.

Tot, weil irgendein Mistkerl der Meinung war, Hunderte ihm unbekannte Leute töten zu müssen, nur

um irgendwas zum Ausdruck zu bringen.“

Das musste ich erst mal verdauen. Ich meine, klar hatte ich begriffen, dass sie sich Sorgen gemacht

hatten. Eine Menge Leute waren bei den Bombenanschlägen gestorben -- die aktuelle Schätzung lag

bei viertausend --, und praktisch jeder kannte jemanden, der an diesem Tag nicht nach Hause

gekommen war. An meiner Schule waren zwei Leute verschwunden.

„Dein Vater war so weit, jemanden zu töten. Irgendwen. Er war völlig außer sich; so hast du ihn noch

nie gesehen. Nicht mal ich habe ihn schon mal so gesehen. Völlig außer sich. Er saß immer nur hier

am Tisch und fluchte und fluchte und fluchte. Gemeine Worte, die ich ihn noch nie hatte sagen hören.

An dem einen Tag -- am dritten Tag -- rief jemand an, und er war sicher, dass du es warst, aber es hatte

sich bloß jemand verwählt, und da schmiss er das Telefon so in die Ecke, dass es in tausend Teile

zerfallen ist.“ Ich hatte mich schon gefragt, weshalb das Telefon in der Küche neu war.

„Irgend etwas ist in deinem Vater zerbrochen. Er liebt dich. Wir lieben dich

beide. Du bist das

Allerwichtigste in unserem Leben, und ich glaube nicht, dass dir das klar ist.

Erinnerst du dich, als du

zehn warst, als ich für diese lange Zeit heim nach London ging? Erinnerst du dich?“

Ich nickte stumm.

„Damals waren wir so weit, uns scheiden zu lassen, Marcus. Oh, es ist jetzt egal, warum. Wir hatten

bloß eine ganz schlechte Phase, wie das eben passiert, wenn Leute, die sich lieben, sich für ein paar

Jahre nicht mehr richtig umeinander kümmern. Und er kam rüber zu mir und überzeugte mich, dass

ich deinetwegen zurückkommen müsse. Wir konnten den Gedanken nicht ertragen, dir das anzutun.

Deinetwegen haben wir uns wieder ineinander verliebt. Und deinetwegen sind wir heute noch

zusammen.“

Ich hatte einen Kloß im Hals. Das hatte ich nicht gewusst. Das hatte mir nie jemand gesagt.

„Für deinen Vater ist das jetzt eine schwere Zeit. Er ist nicht richtig er selbst. Es wird eine Weile

dauern, bis er wieder zu uns zurückkommt; bis er wieder der Mann ist, den ich liebe. Bis dahin

müssen wir versuchen, ihn zu verstehen.“

Sie umarmte mich eine Weile, und ich bemerkte, wie dünn ihre Arme geworden waren und wie faltig

die Haut in ihrem Nacken. Wenn ich an meine Mutter dachte, sah ich sie immer jung, blass, mit

rosigen Wangen und einem strahlenden Lächeln vor mir, wie sie schlau durch ihre metallgefassten

Brillengläser schaut. Jetzt sah sie aus wie eine alte Frau. Ich hatte ihr das angetan. Die Terroristen

hatten ihr das angetan. Die Heimatschutzbehörde hatte ihr das angetan. Auf eine merkwürdige Weise

waren wir alle auf der gleichen Seite, und Mom und Dad und all die Leute, deren Daten wir

manipuliert hatten, waren auf der anderen Seite.

In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Moms Worte schwirrten durch meinen Kopf. Dad war beim

Abendessen angespannt und schweigsam gewesen, und wir hatten kaum ein Wort gewechselt, weil ich

Angst hatte, ein falsches Wort zu sagen und weil er sehr erregt über die neuesten Meldungen war,

nach denen Al Kaida definitiv für die Bombenanschläge verantwortlich war.

Sechs verschiedene

Terrorgruppen hatten Verantwortung für die Angriffe übernommen, aber nur das Internetvideo von Al

Kaida enthielt Informationen, von denen das DHS sagte, man habe sie nicht öffentlich gemacht.

Ich lag im Bett und hörte eine Late-Night-Anrufshow im Radio. Das Thema war Sexprobleme, mit

diesem schwulen Typ, den ich normalerweise total gern hörte, weil er den

Leuten ziemlich derbe, aber

gute Tipps gab und sehr lustig und schwülstig war.

Heute Nacht konnte ich nicht lachen. Die meisten Anrufer wollten wissen, wie sie damit umgehen

sollten, dass sie seit den Attentaten mit ihren Partnern nicht mehr in die Gänge kamen. Nicht mal im

Sexprogramm im Radio war ich vor diesem Thema sicher.

Ich schaltete das Radio aus und hörte unten auf der Straße einen Motor schnurren.

Mein Schlafzimmer ist im obersten Stock unseres Hauses, einer dieser lackierten Ladies. Ich habe ein

Schrägdach und Fenster auf beiden Seiten; eins davon überblickt den gesamten Mission-Distrikt, das

andere die Straße vor unserem Grundstück. Dort fuhren zu allen Nachtstunden Autos vorbei, aber

dieses Motorengeräusch war irgendwie anders.

Ich ging zum Straßenfenster und zog die Jalousien hoch. Auf der Straße unter mir war ein weißer,

unbeschrifteter Lieferwagen, dessen Dach mit mehr Antennen verziert war, als ich jemals auf einem

Auto gesehen hatte. Es fuhr sehr langsam die Straße runter, wobei sich eine kleine Schüssel obendrauf

permanent drehte.

Während ich zusah, hielt der Wagen an, und eine der Hecktüren klappte auf. Ein Typ in einer DHSUniform

-- die erkannte ich mittlerweile auf hundert Meter -- trat auf die Straße. Er hatte

irgendein

mobiles Gerät in der Hand, dessen blaues Leuchten sein Gesicht erhellte. Er ging auf und ab, suchte

erst bei meinen Nachbarn, machte Notizen auf seinem Gerät und kam dann in meine Richtung. Es war

etwas Vertrautes in der Art, wie er ging, runterschaute ...

Er benutzte einen WLAN-Schnüffler! Das DHS suchte nach Xnet-Knoten. Ich ließ die Jalousien

runter und flitzte quer durch den Raum zu meiner Xbox. Ich hatte sie angelassen, um ein paar coole

Animationen runterzuladen, die einer der Xnetter aus der Kein-Preis-zu-hoch-Rede des Präsidenten

gemacht hatte. Ich riss den Stecker aus der Dose, dann sauste ich zurück zum Fenster und öffnete die

Jalousien nur einen Spalt breit.

Der Typ schaute wieder auf seinen Sniffer und ging vor unserem Haus auf und ab. Einen Moment

später stieg er wieder in den Lieferwagen und fuhr an.

Ich holte meine Kamera raus und schoss so viele Bilder wie möglich von dem Auto und seinen

Antennen. Dann öffnete ich die Fotos in dem freien Bildbearbeitungsprogramm GIMP und

retuschierte aus den Bildern alles außer dem Van heraus, die ganze Straße und alles, was mich

identifizieren könnte.

Dann lud ich sie ins Xnet hoch und schrieb dazu alles über den Lieferwagen,

was mir einfiel. Diese

Typen waren definitiv auf der Suche nach dem Xnet, darauf würde ich wetten.

Jetzt konnte ich wirklich nicht mehr schlafen.

Da blieb mir nichts übrig, als Aufziehpiraten zu spielen. Selbst um diese Zeit würde man da noch jede

Menge Spieler treffen. Der echte Name von Aufziehpiraten war Clockwork Plunder, und es war ein

Amateur-Projekt von jungen Death-Metal-Freaks aus Finnland. Mitspielen war dort völlig gratis, und

es machte genauso viel Spaß wie jedes der 15-Dollar-pro-Monat-Angebote wie Ender‘s Universe,

Middle Earth Quest oder Discworld Dungeons.

Ich loggte mich wieder ein, und da war ich, immer noch an Deck der „Zombie Charger“, und wartete

auf jemanden, der mich aufziehen würde. Ich hasste diesen Teil des Spiels.

He du

tippte ich einen vorbeikommenden Piraten an.

Ziehst mich auf?

Er blieb stehen und schaute mich an.

Was hab ich davon?

Wir sind im selben Team. Und du kriegst Erfahrungspunkte.

Was fürn Depp.

Wo kommst du her?

San Francisco

Das fing an, mir bekannt vorzukommen.

Wo in San Francisco?

Ich loggte mich aus. Irgendwas lief in dem Spiel grade ziemlich schräg. Ich sprang rüber zu den

Livejournalen und fing an, Blog auf Blog zu durchwühlen. Nach einem halben Dutzend entdeckte ich

etwas, das mir das Blut gefrieren ließ.

Blogger lieben Quizspiele. Welche Sorte Hobbit bist du? Bist du ein großer Liebhaber? Welchem

Planeten bist du am ähnlichsten? Welcher Film-Charakter bist du? Was ist dein emotionaler Typus?

Sie füllen die Fragebögen aus, und ihre Freunde füllen sie aus, und dann vergleichen alle ihre

Ergebnisse. Harmlose Späßchen.

Aber das Quiz, das heute Nacht die Blogs beherrschte, war es, was mir Angst einjagte, denn es war

alles andere als harmlos:

Welches ist dein Geschlecht?

In welcher Klasse bist du?

In welche Schule gehst du?

Wo in der Stadt lebst du?

Die Quizseiten übertrugen die Ergebnisse auf eine Landkarte mit farbigen Pins für Schulen und

Stadtviertel und lieferten dürftige Empfehlungen, wo man dort Pizza und Zeug kaufen konnte.

Aber seht euch mal die Fragen an. Nehmt mal meine Antworten: Männlich

Chavez High

Potrero Hill

Es gab bloß zwei Leute in meiner Schule, auf die das Profil passte. An den meisten anderen Schulen

würde es genauso sein. Wenn du rausfinden wolltest, wer die Xnetter waren, könntest du sie mit

diesen Quizfragen alle finden.

Das war schon schlimm genug, aber schlimmer war, was es bedeutete. Jemand vom DHS benutzte das

Xnet, um an uns ranzukommen. Das Xnet war vom DHS unterwandert.

Wir hatten Spione in unserer Mitte.

Ich hatte Hunderten von Leuten Xnet-DVDs gegeben, und die hatten wieder dasselbe getan. Die

Leute, denen ich die Scheiben gegeben hatte, kannte ich einigermaßen gut. Mein ganzes Leben hatte

ich immer im selben Haus gewohnt und über die Jahre Hunderte von Freunden kennen gelernt, von

denen, die mit mir bei der Tagesmutter gewesen waren bis zu denen, mit denen ich gekickt hatte;

LARPer, solche, die ich in Clubs getroffen hatte, solche, die ich aus der Schule kannte. Mein ARGTeam,

das waren meine engsten Freunde, aber es gab noch viel mehr, denen ich genug vertraut hatte,

um ihnen eine Xnet-DVD zu geben.

Die brauchte ich jetzt.

Ich weckte Jolu, indem ich ihn auf dem Handy anrief und nach dem ersten Mal auflegte, und das drei

Mal hintereinander. Eine Minute später war er im Xnet, und wir konnten einen geschützten Chat

halten. Ich wies ihn auf meinen Blogeintrag über die Funk-Lieferwagen hin, und eine Minute später

war er völlig außer sich wieder da.

Bist du sicher, die suchen nach uns?

Als Antwort schickte ich ihn zu dem Quiz.

Oh Gott, wir sind geliefert

Ne, so schlimm noch nicht, aber wir müssen rauskriegen, wem wir trauen können

Wie?

Das wollte ich dich fragen; wie vielen Leuten kannst du echt bedingungslos vertrauen?

Hm, 20 oder 30 vielleicht

Ich will eine Truppe von wirklich vertrauenswürdigen Leuten zusammentrommeln und ein Netz des

Vertrauens mit Schlüsseltausch machen

Ein Netz des Vertrauens ist eins dieser coolen Krypto-Dinger, von denen ich schon gelesen, aber noch

nie ausprobiert hatte. Es war eine nahezu narrensichere Methode, dich so mit den Leuten zu

unterhalten, denen du vertraust, dass garantiert kein anderer mithören kann. Das Problem ist, dass du

dich mit den Leuten im Netz mindestens einmal physisch treffen musst, um das Ding in Gang zu

bringen.

Schon kapiert. Nicht schlecht. Aber wie kriegen wir alle fürs Schlüsselsignieren zusammen?

Das wollte ich dich fragen -- wie machen wirs, ohne hopsgenommen zu werden?

Jolu tippte ein paar Wörter und löschte sie wieder, dann tippte er mehr und löschte noch mal.

Darryl wüsste was

tippte ich

Gott, mit diesen Sachen war er gut

Jolu tippte erst mal gar nichts. Dann schrieb er Und was wäre mit ner Party? Wenn wir uns alle treffen wie Teenager, die sich zu ner Party treffen,

dann haben wir eine Ausrede, wenn jemand vorbeikommt und wissen will, was wir machen

Das würde absolut klappen! Jolu, du bistn Genie Ich weiß. Und jetzt kommts noch besser: Ich weiß auch schon, wo wirs machen

Wo?

Sutro Baths!

Kapitel 10

Dieses Kapitel ist Anderson‘s Bookshops gewidmet, Chicagos legendärer Kinderbuchhandlung. Anderson‘s ist ein sehr,

sehr altes familiengeführtes Unternehmen, das in grauer Vorzeit damit angefangen hatte, als Apotheke ein paar Bücher nebenher zu verkaufen. Heute ist es ein florierendes Kinderbuchimperium mit zahlreichen Niederlassungen und mit ein

paar unglaublich innovativen Buchvertriebsideen, die auf spannende Weise Bücher und Kinder zusammenbringen. Am

besten sind ihre mobilen Buchmessen; dafür schicken sie riesige rollende Bücherregale mit exzellenten Kinderbüchern auf LKWs direkt an die Schulen -- voilà, eine Instant-Buchmesse!

Anderson‘s Bookshops http://www.andersonsbookshop.com/search.php?

qkey2=doctorow+little

+brother&sid=5156&imageField.x=0&imageField.y=0 123 West Jefferson, Naperville, IL 60540 USA +1 630 355 2665

as würdet ihr tun, wenn ihr rausfindet, dass ihr einen Spion in eurer Mitte habt?

Ihr könntet ihn

verurteilen, an die Wand stellen und umlegen. Aber vielleicht habt ihr irgendwann einen

anderen Spion unter euch, und der neue wäre dann viel vorsichtiger als der erste und würde sich dann

nicht mehr so leicht schnappen lassen.

W

Hier kommt eine bessere Idee: Fangt an, die Kommunikation des Spions

abzufangen, und dann füttert

ihn und seine Auftraggeber mit Fehlinformationen. Angenommen, seine Hintermänner instruieren ihn,

Informationen über eure Unternehmungen zu sammeln. Dann lasst ihn ruhig hinter euch herrennen

und so viele Notizen machen, wie er möchte, aber macht hinterher die Umschläge auf, die er ans

Hauptquartier sendet, und ersetzt seinen Bericht eurer Unternehmungen durch einen fiktiven Bericht.

Wenn ihr wollt, könnt ihr ihn als wirr und unzuverlässig dastehen lassen und so dafür sorgen, dass er

abgesägt wird. Ihr könnt auch Krisen konstruieren, die die eine oder andere Seite dazu veranlassen,

die Identität anderer Spione preiszugeben. Kurz: Ihr habt sie in der Hand.

Das nennt man Man-in-the-Middle-Angriff oder auch Janus-Angriff, und wenn man sichs recht

überlegt, ist das eine ziemlich erschreckende Sache. Ein Man-in-the-Middle in eurem

Kommunikationsstrang kann euch auf tausenderlei Arten übers Ohr hauen.

Aber natürlich gibt es eine Möglichkeit, einem Man-in-the-Middle-Angriff zu begegnen. Benutzt

Krypto. Mit Krypto ist es egal, ob der Feind eure Nachrichten sehen kann, denn er kann sie nicht

entziffern, verändern oder neu verschicken. Das ist einer der Hauptgründe, Krypto zu benutzen.

Aber denkt dran: Damit Krypto funktioniert, braucht ihr Schlüssel für die Leute,

mit denen ihr reden

wollt. Ihr und euer Partner müsst ein, zwei Geheimnisse teilen, ein paar Schlüssel, die ihr dazu

benutzt, eure Nachrichten so zu ver- und entschlüsseln, dass der Man-in-the-Middle außen vor bleibt.

Hier kommt die Idee des öffentlichen Schlüssels ins Spiel. Jetzt wirds ein bisschen haarig, aber es ist

dabei auch unglaublich elegant.

In Krypto mit öffentlichem Schlüssel bekommt jeder Benutzer zwei Schlüssel.

Das sind lange Folgen

von mathematischem Krickelkrackel, die eine geradezu magische Eigenschaft haben: Was immer du

mit dem einen Schlüssel unleserlich machst, kannst du mit dem anderen wieder entziffern und

umgekehrt. Mehr noch: Es sind die einzigen Schlüssel, die diese Eigenschaft haben -- wenn du mit

dem einen Schlüssel eine Nachricht entziffern kannst, dann weißt du mit Sicherheit, dass sie mit dem

anderen verschlüsselt worden ist (und umgekehrt).

Also nimmst du einen der beiden Schlüssel, egal welchen, und veröffentlichst ihn einfach. Du machst

ihn total un-geheim. Du willst, dass jeder auf der ganzen Welt ihn kennt. Aus naheliegenden Gründen

nennt man das deinen „öffentlichen Schlüssel“.

Den anderen Schlüssel vergräbst du in den hintersten Windungen deines Gehirns. Du verteidigst ihn

mit deinem Leben. Du lässt nie jemanden erfahren, welches dieser Schlüssel ist.

Das nennt man

deinen „privaten Schlüssel“. (Na klar.)

Jetzt mal angenommen, du bist ein Spion und willst mit deinen Chefs reden. Ihr öffentlicher Schlüssel

ist jedem bekannt. Dein öffentlicher Schlüssel ist jedem bekannt. Niemand kennt deinen privaten

Schlüssel außer du selbst. Niemand kennt den privaten Schlüssel deiner Chefs außer sie selbst.

Du willst ihnen eine Nachricht schicken. Zuerst verschlüsselst du sie mit deinem privaten Schlüssel.

Jetzt könntest du die Nachricht schon verschicken, und das wäre so weit okay, weil deine Chefs

wissen würden, dass die Botschaft tatsächlich von dir kommt. Warum? Nun, dadurch, dass sie die

Nachricht mit deinem öffentlichen Schlüssel entziffern können, ist klar, dass sie nur mit deinem

privaten Schlüssel verschlüsselt worden sein kann. Das ist ungefähr so wie dein Siegel oder deine

Unterschrift unter einer Nachricht. Es besagt: „Ich habe das geschrieben, niemand sonst. Niemand

kann daran herumgefuhrwerkt und es verändert haben.“

Blöderweise sorgt das allein noch nicht dafür, dass deine Nachricht geheim bleibt. Denn dein

öffentlicher Schlüssel ist ja weithin bekannt (das muss er auch, denn sonst bist du darauf beschränkt,

Nachrichten an die paar Leute zu schicken, die deinen öffentlichen Schlüssel haben). Jeder, der die

Nachricht abfängt, kann sie lesen. Er kann sie zwar nicht ändern und dann wieder so tun, als käme sie

von dir, aber wenn du Wert drauf legst, dass niemand erfährt, was du zu sagen hast, dann brauchst du

eine bessere Lösung.

Also verschlüsselst du die Nachricht nicht bloß mit deinem privaten Schlüssel, sondern zusätzlich mit

dem öffentlichen Schlüssel deiner Chefs. Jetzt ist sie doppelt gesperrt. Die erste Sperre -- der

öffentliche Schlüssel der Chefs -- lässt sich nur mit dem privaten Schlüssel deiner Chefs lösen. Die

zweite Sperre -- dein privater Schlüssel -- lässt sich nur mit deinem öffentlichen Schlüssel lösen. Wenn

deine Chefs die Nachricht bekommen, dann entschlüsseln sie sie mit beiden Schlüsseln und wissen

jetzt zweierlei ganz sicher: a) du hast sie geschrieben und b) nur sie selbst können sie lesen.

Das ist ziemlich cool. Noch am selben Tag, an dem ich das entdeckte, tauschten Darryl und ich

Schlüssel aus; und dann verbrachten wir Monate damit, zu gackern und uns die Hände zu reiben über

unsere militärischen Geheimnisse, wo wir uns nach der Schule treffen wollten und ob Van ihn wohl je

bemerken würde.

Aber wenn du Sicherheit richtig begreifen willst, musst du auch die paranoidesten Möglichkeiten in

Betracht ziehen. Was ist zum Beispiel, wenn ich dich dazu bringe zu glauben, dass mein öffentlicher

Schlüssel der öffentliche Schlüssel deiner Chefs ist? Dann würdest du die Nachricht mit deinem

geheimen und meinem öffentlichen Schlüssel verschlüsseln. Ich entziffere sie, lese sie, verschlüssele

sie dann wieder mit dem echten öffentlichen Schlüssel deiner Chefs und schicke sie weiter. So weit

deine Chefs wissen, kann niemand außer dir die Botschaft geschrieben haben, und niemand außer

ihnen selbst hätte sie lesen können.

Und dann sitze ich in der Mitte, wie eine dicke Spinne in ihrem Netz, und all deine Geheimnisse

gehören mir.

Der einfachste Weg, das Problem zu beheben, besteht darin, deinen öffentlichen Schlüssel wirklich

sehr weit bekannt zu machen. Wenn es wirklich für jedermann leicht ist zu wissen, welches dein

öffentlicher Schlüssel ist, dann wird Man-in-the-Middle immer schwieriger.

Aber weißt du was?

Dinge sehr weit bekannt zu machen ist genauso schwierig wie sie geheim zu halten. Überleg mal --

wie viele Milliarden werden für Shampoo-Werbung und anderen Mist ausgegeben, bloß um

sicherzustellen, dass möglichst viele Leute etwas kennen, was sie laut der Meinung irgendeines

Werbis kennen sollten?

Es gibt noch eine billigere Art, Man-in-the-Middle-Probleme zu lösen: das Netz des Vertrauens.

Nimm an, bevor du das Hauptquartier verlassen hast, sitzen deine Chefs und du bei einem Kaffee

zusammen und verratet euch gegenseitig eure Schlüssel. Schluss-aus-vorbei für den Mann in der

Mitte! Du bist dann absolut sicher, wessen Schlüssel du hast, weil du sie direkt in die Hand

bekommen hast.

So weit, so gut. Aber es gibt eine natürliche Begrenzung für so etwas: Wie viele Leute kannst du im

wahren Leben tatsächlich treffen, um Schlüssel mit ihnen zu tauschen? Wie viele Stunden des Tages

willst du daran aufwenden, das Äquivalent deines eigenen Telefonbuchs zu schreiben? Und wie viele

von diesen Leuten sind wohl bereit, dir auf diese Weise ihre Zeit zu opfern?

Es hilft tatsächlich, sich diese Sache wie ein Telefonbuch vorzustellen. Die Welt war mal ein Ort mit

einer ganzen Menge von Telefonbüchern, und wenn du eine Nummer brauchtest, dann hast du sie im

Buch nachgeschlagen. Aber eine Menge derjenigen Nummern, die du so übern Tag brauchst, kennst

du entweder auswendig oder kannst sie von jemandem erfragen. Selbst heute,

wenn ich mit meinem

Handy unterwegs bin, frag ich noch Darry oder Jolu, ob sie mir eine bestimmte Nummer geben

können. Das ist schneller und einfacher, als online nachzuschlagen, und zuverlässiger ist es sowieso.

Wenn Jolu eine Nummer weiß, dann traue ich ihm, also traue ich auch der Nummer. Das nennt sich

„transitives Vertrauen“- Vertrauen, das sich über das Netz deiner Bekanntschaften hinweg fortpflanzt.

Ein Netz des Vertrauens ist dasselbe in größer. Mal angenommen, ich treffe Jolu und bekomme seinen

Schlüssel. Den kann ich an meinen „Schlüsselbund“ hängen -- eine Liste von Schlüsseln, die ich mit

meinem privaten Schlüssel signiert habe. Das bedeutet, du kannst ihn mit meinem öffentlichen

Schlüssel entschlüsseln und weißt mit Sicherheit, dass ich -- oder zumindest jemand mit meinem

Schlüssel -- sage, „dieser-und-jener Schlüssel gehört zu dieser-und-jener Person“.

Also gebe ich dir meinen Schlüsselbund, und -- vorausgesetzt, du traust mir so weit, zu glauben, dass

ich die Leute zu all diesen Schlüsseln wirklich getroffen und ihre Schlüssel bestätigt habe -- jetzt

kannst du ihn nehmen und zu deinem Schlüsselbund hinzufügen. So wird der Schlüsselbund größer

und größer, und vorausgesetzt, du vertraust dem Nächsten in der Kette, und er traut dem Nächsten,

und so weiter, dann ist die Sache ziemlich sicher.

Und damit komm ich zu Keysigning-Partys. Das ist haargenau das, was der Name sagt: eine Party,

wo sich Leute treffen und die Schlüssel aller anderen signieren. Als Darryl und ich Schlüssel

tauschten, war das so was wie eine Mini-Keysigning-Party, eine mit bloß zwei traurigen Geeks. Aber

mit mehr Leuten dabei legst du das Fundament für ein Netz des Vertrauens, und von da an kann das

Netz sich weiter ausdehnen. Und in dem Maße, wie jeder an deinem Schlüsselbund in die Welt

rausgeht und mehr Leute trifft, kommen mehr und mehr Namen am Schlüsselbund zusammen. Du

musst diese neuen Leute gar nicht mehr in echt treffen, du musst bloß drauf vertrauen, dass die

signierten Schlüssel, die du von den Leuten in deinem Netz bekommst, gültig sind.

Und deswegen passen ein Netz des Vertrauens und Partys zusammen wie Faust auf Auge.

„Sag ihnen aber, dass es eine superprivate Party ist, nur mit Einladung“, sagte ich. „Und sag ihnen,

dass sie niemanden mitbringen dürfen, sonst werden sie nicht reingelassen.“

Jolu schaute mich über seinen Kaffee hinweg an. „Machst du Witze? Wenn du den Leuten das sagst,

dann bringen sie erst recht noch ein paar Mann extra mit.“

„Mist“, sagte ich. Ich verbrachte jetzt eine Nacht pro Woche bei Jolu, um den indienet-Code auf dem

neuesten Stand zu halten. Pigspleen zahlte mir sogar einen gewissen Betrag dafür, was ich irgendwie

ziemlich abseitig fand. Ich hatte nie gedacht, dass ich mal dafür bezahlt würde, Code zu tippen.

„Was machen wir denn dann? Wir wollen da doch nur Leute haben, denen wir total vertrauen, und wir

wollen erst die Schlüssel haben und geheime Nachrichten senden können, bevor wir denen allen

erklären, warum wir das so machen.“

Jolu war am Debuggen, wobei ich ihm über die Schulter schaute. Das hatte man früher mal

„Extremprogrammieren“ genannt, aber das war ein bisschen lächerlich. Heute hieß das nur noch

„Programmieren“. Zwei Leute finden einfach besser die Fehler als nur einer, wie das Klischee besagt:

„Mit genug Augen werden alle Fehler unbedeutend“.

Wir arbeiteten uns durch die Bug-Meldungen und machten die neue Revision startklar. Die

aktualisierte sich automatisch im Hintergrund, so dass unsere Nutzer sich um überhaupt nichts

kümmern mussten, sie bekamen einfach einmal pro Woche oder so ein besseres Programm. Es war

ziemlich irre zu wissen, dass der Code, den ich schrieb, gleich morgen von Hunderttausenden Leuten

benutzt wurde!

„Tja, was machen wir? Mann, ich weiß nicht. Schätze mal, wir müssen einfach damit leben.“ Ich

dachte zurück an unsere Tage mit Harajuku Fun Madness. Zu dem Spiel hatten auch Berge von

sozialen Herausforderungen gehört, bei denen man es mit großen Menschengruppen zu tun hatte.

„Okay, du hast Recht. Aber lass uns zumindest versuchen, die Sache geheim zu halten. Sagen wir

ihnen, sie dürfen höchstens eine andere Person mitbringen, und das muss jemand sein, den sie schon

seit mindestens fünf Jahren persönlich kennen.“

Jolu sah vom Bildschirm hoch. „Hey“, sagte er. „Hey, das wird garantiert klappen. Ich seh das schon.

Ich meine, wenn du mir sagst, ich soll niemanden mitbringen, dann denk ich doch ‚was glaubt der,

wer er ist?‘ Aber so rum klingt das wie irgendwas tolles 007-Mäßiges.“

Ich fand einen Fehler. Wir tranken Kaffee. Ich ging heim, spielte ein bisschen Clockwork Plunder,

wobei ich versuchte, nicht an Aufzieher mit neugierigen Fragen zu denken, und schlief dann wie ein

Baby.

Sutro Baths sind San Franciscos original falsche Römerruinen. Bei der Eröffnung 1896 waren sie die

größte Schwimmhalle der Welt, ein riesiges Viktorianisches Glassolarium, voll

mit Pools, Wannen

und sogar einer frühen Wasserrutsche. In den Fünfzigern gings bergab, und die Besitzer fackelten sie

1966 für die Versicherungssumme ab. Was davon übrig blieb, ist ein Labyrinth verwitterter Steine

inmitten der vertrockneten Klippenlandschaft von Ocean Beach. Es sieht für die ganze Welt wie eine

römische Ruine aus, verfallen und geheimnisvoll, und direkt unterhalb gibt es noch ein paar Höhlen,

die zum Meer führen. Bei stürmischer See rauschen die Wellen durch die Höhlen und überspülen die

Ruinen -- man weiß sogar von dem einen oder anderen Touristen, der mitgerissen wurde und ertrank.

Ocean Beach ist weit draußen hinter Golden Gate Park, eine kahle Klippe, gesäumt von teuren, aber

dem Untergang geweihten Häusern, die zu einem schmalen Streifen Strand hin abfällt, wo man

Quallen und mutige (wahnsinnige) Surfer antrifft. Es gibt da einen riesigen weißen Felsen, der sich

kurz vor der Küste aus dem seichten Wasser erhebt. Den nennt man Robbenfelsen, und er war der

Versammlungsplatz der Seelöwen, bevor man sie in die touristenfreundlichere Gegend bei

Fisherman‘s Wharf umsiedelte.

Nach Einbruch der Dunkelheit ist kaum mehr jemand da. Es wird dort sehr kalt, und der Salznebel

weicht dich völlig durch, wenn du nichts Geeignetes anhast. Die Felsen sind scharfkantig, außerdem

liegen Glasscherben und vereinzelt mal eine gebrauchte Spritze rum.

Es ist ein Wahnsinns-Ort für eine Party.

Die Tarps und chemischen Handschuhwärmer mitzubringen war meine Idee.

Jolus Job war es, für das

Bier zu sorgen -- sein älterer Bruder, Javier, hatte einen Kumpel, der einen regelrechten

Getränkedienst für Minderjährige unterhielt: Wenn du genug zahltest, belieferte er deine abgeschottete

Party mit Kühlkisten und so viel Gebräu, wie du nur wolltest. Ich opferte was von meiner indienet-Programmierkohle, und der Typ war pünktlich: Um acht, eine gute Stunde nach Sonnenuntergang,

wuchtete er sechs Schaum-Kühlboxen von seinem Pickup runter und rein in die Ruinen der

Badeanstalt. Er brachte sogar eine leere Box für die Abfälle mit.

„Ihr Kids geht aber echt auf Nummer Sicher“, sagte er und tippte sich an die Hutkrempe. Er war ein

fetter Samoaner mit einem breiten Lächeln und einem furchterregenden Tanktop, unter dem sein

Achsel--, Brust- und Schulterhaar hervorquoll. Ich wickelte ein paar Zwanziger von meiner Rolle ab

und gab sie ihm. Seine Marge war 150 Prozent -- kein schlechtes Geschäft.

Er starrte auf meine Rolle. „Weißte, ich könnte dir die jetzt einfach wegnehmen“, sagte er, ohne dabei

aufzuhören zu lächeln. „Immerhin bin ichn Krimineller.“

Ich steckte die Rolle in die Tasche zurück und sah ihm fest in die Augen. Es war dumm von mir

gewesen, ihm zu zeigen, was ich dabei hatte, aber ich wusste, manchmal musste man einfach fest

bleiben.

„Ich mach bloß Quatsch“, sagte er schließlich. „Aber sei vorsichtig mit der Kohle. Zeigs nicht so viel

rum.“

„Danke“, sagte ich, „aber der Heimatschutz passt eh auf mich auf.“ Sein Lächeln wurde noch breiter.

„Ha! Das sind doch nicht mal echte Bullen! Die Spacken haben doch gar keinen Plan.“ Ich schaute zu

seinem Lieferwagen rüber. Hinter der Windschutzscheibe klemmte gut sichtbar ein FasTrak. Ich

fragte mich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis sie ihn hopsnehmen würden.

„Habt ihr Bräute hier heute nacht? Braucht ihr dafür das ganze Bier?“ Ich grinste und winkte ihm zu,

als ginge er zurück zum Wagen (was er jetzt endlich tun sollte). Irgendwann begriff er den Wink und

fuhr davon, aber er lächelte immer noch.

Jolu half mir, die Kühlboxen im Schutt zu verstecken, wobei wir uns mit kleinen weißen LEDLampen

an Stirnbändern behalfen. Sobald sie verstaut waren, steckten wir weiße LEDSchlüsselanhänger

rein, die leuchteten, sobald man die Styropordeckel anhob, damit man sehen konnte, was man tat.

Der Nachthimmel war mondlos und bedeckt, und die Straßenlaternen in der Ferne warfen kaum Licht

bis hierher. Ich wusste, auf einem Infrarotdetektor würden wir uns klar und deutlich abzeichnen, aber

eine ganze Truppe Leute würden wir nirgends zusammentrommeln können, ohne dabei observiert zu

werden. Na gut, dann würden wir eben als kleine betrunkene Strandparty durchgehen.

Ich trinke nicht wirklich viel. Seit ich 14 bin, gabs auf den Partys Bier, Pot und Ecstasy, aber ich

hasste Rauchen (obwohl ich nichts gegen ein gelegentliches Haschkekschen hatte), Ecstasy dauerte zu

lange -- wer hat schon das ganze Wochenende Zeit, high zu werden und wieder runterzukommen? --,

und Bier, na ja, es war okay, aber mir war nicht klar, was daran jetzt toll sein sollte. Mein Ding waren

ja eher riesige, kunstvolle Cocktails, die Sorte, die in Keramikvulkanen serviert wird, sechs Schichten,

flambiert, ein Plastikaffe außen am Rand, aber das war eigentlich nur wegen dem Brimborium.

Betrunken bin ich eigentlich ganz gern. Nur den Kater kann ich nicht ausstehen, und oh Mann, was

krieg ich immer für einen Kater! Obwohl -- das kann natürlich auch an den Getränken liegen, die

üblicherweise in Keramikvulkanen ausgeschenkt werden.

Aber du kannst keine Party schmeißen, ohne mindestens ein, zwei Kisten Bier kaltzustellen. Das wird

so erwartet. Es entkrampft. Leute machen dummes Zeug, wenn sie ein paar Biere zu viel intus haben,

aber die wenigsten meiner Freunde haben Autos. Und außerdem machen Leute sowieso dummes

Zeug, ob nun wegen Bier oder Gras oder was auch immer, das ist dabei zweitrangig.

Jolu und ich machten jeder ein Bier auf -- Anchor Steam für ihn, ein Bud Lite für mich -- und stießen

damit an, wie wir so auf den Felsen saßen.

„Hast du ihnen neun Uhr gesagt?“

„Jo“, sagte er.

„Ich auch.“

Wir tranken schweigend. Das Bud Lite war das am wenigsten alkoholische Getränk im Kühler. Ich

würde später einen klaren Kopf brauchen.

„Kriegst du manchmal Angst?“, fragte ich schließlich.

Er drehte sich zu mir um. „Ne, Mann, ich krieg keine Angst. Ich hab immer Angst. Seit den

Explosionen hab ich jede Minute Angst gehabt. Manchmal hab ich so viel Schiss, dass ich gar nicht

aus dem Bett kriechen will.“

„Warum machst dus trotzdem?“

Er lächelte. „Was das angeht“, sagte er, „vielleicht mach ich es gar nicht mehr lange. Ich mein, es war

toll, dir zu helfen. Toll. Wirklich klasse. Wüsste nicht, wann ich schon mal so was Wichtiges gemacht

habe, Aber Marcus, Alter, ich muss sagen ...“ Er verstummte.

„Was?“, fragte ich, obgleich ich wusste, was nun kommen würde.

„Ich kann das nicht mehr ewig weitermachen“, sagte er endlich. „Vielleicht nicht mal mehr einen

Monat. Ich glaube, das wars für mich. Ist einfach zu riskant. Du kannst einfach nicht gegen das DHS

in den Krieg ziehen. Das ist bescheuert. Wirklich totaler Wahnsinn.“

„Du hörst dich an wie Van“, sagte ich. Meine Stimme klang viel bitterer, als ich es wollte.

„Ich kritisier dich nicht, Mann. Ich finde es klasse, dass du den Mut hast, die Sache die ganze Zeit

durchzuziehen. Ich hab ihn nicht. Ich kann mein Leben nicht in permanenter Angst leben.“

„Was meinst du damit?“

„Ich meine, ich bin raus. Ich werde einer dieser Typen, die so tun, als ob alles in Ordnung ist und als

ob bald alles wieder normal wird. Ich werde im Internet surfen wie immer und das Xnet nur noch zum

Spielen benutzen. Ich zieh mich raus, das mein ich. Ich werde kein Teil deiner Pläne mehr sein.“

Ich sagte kein Wort.

„Ich weiß, das bedeutet, dich im Stich zu lassen. Ich will das nicht, glaub mir.

Ich will viel lieber, dass

du mit mir zusammen aufgibst. Du kannst keinen Krieg gegen die Regierung der USA erklären. Das

ist ein Kampf, den du nicht gewinnen kannst. Und dir dabei zugucken, wie dus versuchst, ist wie

zugucken, wie ein Vogel immer noch mal gegen die Scheibe fliegt.“

Er erwartete, dass ich was sagte. Was ich sagen wollte, war Oh Gott, Jolu, herzlichen Dank dafür,

dass du mich im Stich lässt! Hast du schon vergessen, wies war, als sie uns abgeholt haben? Hast du

vergessen, wie es in diesem Land aussah, bevor sie es übernommen haben? Aber das war es nicht,

was er von mir hören wollte. Was er hören wollte, war:

„Ich verstehe, Jolu. Und ich respektiere deine Entscheidung.“

Er trank den Rest aus seiner Flasche, zog sich eine neue raus und öffnete sie.

„Da ist noch was“, sagte er.

„Was?“

„Ich wollts nicht erwähnen, aber ich will, dass du wirklich kapierst, warum ich das tun muss.“ „Oh

Gott, Jolu, was denn?“

„Ich hasse es, das zu sagen, aber du bist weiß. Ich nicht. Weiße werden mit Kokain geschnappt und

gehen dann ein bisschen auf Entzug. Farbige werden mit Crack erwischt und wandern für zwanzig

Jahre in den Knast. Weiße sehen Bullen auf der Straße und fühlen sich sicherer.

Farbige sehen Bullen

auf der Straße und fragen sich, ob sie wohl gleich gefilzt werden. So, wie das DHS dich behandelt, so

war das Gesetz in diesem Land für uns schon immer.“

Es war so unfair. Ich hatte es mir nicht ausgesucht, weiß zu sein. Ich glaubte auch nicht, mutiger zu

sein, nur weil ich weiß bin. Aber ich wusste, was Jolu meinte. Wenn die Bullen in der Mission

jemanden anhielten und nach den Papieren fragten, dann war dieser Jemand typischerweise kein

Weißer. Welches Risiko ich auch einging -- Jolu ging das höhere ein. Welche Strafe ich zu zahlen

hätte, Jolu würde mehr zu zahlen haben.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, sagte ich.

„Du musst nichts sagen“, entgegnete er. „Ich wollte bloß, dass dus weißt, damit dus verstehen

kannst.“

Ich konnte Leute auf dem Nebenweg auf uns zukommen sehen. Es waren Freunde von Jolu, zwei

Mexikaner und ein Mädchen, das ich vom Sehen kannte, klein und eher der intellektuelle Typ; sie trug

immer süße schwarze Buddy-Holly-Brillen, die sie aussehen ließen wie eine ausgestoßene

Kunststudentin in einem dieser Teenie-Streifen, die schließlich den Megaerfolg landet.

Jolu stellte mich vor und verteilte Bier. Das Mädchen nahm keins, sondern holte

einen kleinen

silbernen Flachmann mit Wodka aus ihrer Handtasche und bot mir einen Schluck an. Ich nahm einen

-- warmer Wodka muss ein anerzogener Geschmack sein -- und beglückwünschte sie zu dem

Fläschchen, das mit einem wiederholten Motiv aus Parappa-the-Rapper-Charakteren geprägt war.

„Ist japanisch“, sagte sie, während ich es mit einem LED-Schlüsselanhänger begutachtete. „Die haben

jede Menge irren Trinkerbedarf mit Kinderspielzeug-Motiven. Total abgefahren.“

Ich stellte mich vor und sie sich auch. „Ange“, sagte sie und nahm meine Hand in ihre beiden Hände

-- trocken, warm, mit kurzen Fingernägeln. Jolu stellte mich seinen Kumpels vor, die er schon seit

dem Computercamp in der vierten Klasse kannte. Dann kamen noch mehr Leute

-- fünf, zehn, dann

zwanzig. Jetzt wars eine richtig große Gruppe.

Wir hatten den Leuten eingeschärft, bis Punkt halb zehn da zu sein, und warteten bis viertel vor, um

zu sehen, wer alles kommen würde. Ungefähr drei Viertel waren Jolus Freunde.

Ich hatte alle Leute

eingeladen, denen ich vertraute. Entweder war ich wählerischer als Jolu oder nicht so beliebt. Aber da

er mir nun erzählt hatte, dass er aufhören wolle, nahm ich an, dass er weniger wählerisch war. Ich war

echt stinkig auf ihn, aber versuchte es mir nicht anmerken zu lassen, indem ich mich drauf

konzentrierte, mit ein paar anderen Leuten bekannt zu werden. Aber er war nicht blöd. Er wusste, was

los war. Ich konnte ihm ansehen, dass er ziemlich niedergeschlagen war. Gut.

„Okay“, sagte ich und kletterte auf eine der Ruinen, „okay, hey, hallo?“ Ein paar Leute in der Nähe

schenkten mir ihre Beachtung, aber die weiter hinten schnatterten weiter. Ich hob meine Arme in die

Höhe wie ein Schiedsrichter, aber es war zu dunkel. Dann kam ich auf die Idee, meinen LEDSchlüsselanhänger

anzuknipsen und immer abwechselnd einen der Sprecher und dann mich selbst anzublinken. Nach und nach wurde die Menge still.

Ich begrüßte sie und dankte ihnen allen fürs Kommen, dann bat ich sie darum, näher ranzukommen,

um ihnen erklären zu können, warum wir hier waren. Ich merkte, dass sie von der Geheimnistuerei

schon angesteckt waren, fasziniert und ein bisschen angewärmt vom Bier.

„Also, es geht darum: Ihr benutzt alle das Xnet. Es ist kein Zufall, dass das Xnet so kurz, nachdem

das DHS die Stadt übernommen hat, entstanden ist. Die Leute, die das angeleiert haben, sind eine

Organisation, die sich persönliche Freiheit auf die Fahne geschrieben hat und die für uns ein

Netzwerk geschaffen haben, in dem wir sicher vor DHS-Schnüfflern und Vollstreckern sind.“ Jolu

und ich hatten uns das vorher so zurechtgelegt. Wir wollten uns nicht als die Leute hinter dem Ganzen

offenbaren, nicht gegenüber jedem. Das war viel zu riskant. Stattdessen hatten wir ausgetüftelt, dass

wir bloß Leutnants in „M1k3y“s Armee seien und damit beauftragt, den örtlichen Widerstand zu

organisieren.

„Das Xnet ist nicht rein“, sagte ich. „Es kann von der Gegenseite genauso einfach benutzt werden wie

von uns. Wir wissen, dass es DHS-Spione gibt, die es gerade in diesem Moment benutzen. Sie

verwenden Techniken sozialer Manipulation, um uns dazu zu bringen, unsere Identität offenzulegen,

damit sie uns hochgehen lassen können. Wenn das Xnet erfolgreich bleiben soll, dann müssen wir

Mittel und Wege finden, wie wir sie davon abhalten können, uns auszuschnüffeln. Wir brauchen ein

Netzwerk innerhalb des Netzwerks.“

Ich machte ne Pause und ließ das sacken. Jolu hatte gemeint, es sei vielleicht harter Stoff, zu erfahren,

dass man gerade in eine revolutionäre Zelle eingeführt wird.

„Ich bin heute nicht hier, um euch darum zu bitten, selbst aktiv zu werden. Ihr sollt nicht losgehen und

Systeme jammen oder so was. Ihr seid hierher gebeten worden, weil wir wissen, dass ihr cool seid;

dass ihr vertrauenswürdig seid. Und diese Vertrauenswürdigkeit ist es, von der

ich möchte, dass ihr sie

heute Nacht hier einbringt. Ein paar von euch sind wahrscheinlich schon vertraut mit dem Konzept

vom Netz des Vertrauens und mit Keysigning-Partys, aber für den Rest von euch will ich das noch

mal kurz erklären ...“ Was ich dann auch tat.

„Was ich heute Nacht von euch möchte, ist, dass ihr euch die Leute hier anschaut und euch überlegt,

wie weit ihr ihnen trauen könnt. Dann helfen wir euch, Schlüsselpaare zu erzeugen und mit allen

anderen hier zu tauschen.“

Dieser Teil war knifflig. Wir hätten nicht von den Leuten erwarten können, dass sie alle ihre Laptops

mitbrachten, aber wir mussten trotzdem ein paar verdammt komplizierte Sachen machen, die mit Stift

und Papier nicht wirklich funktionieren würden.

Ich hielt einen Laptop hoch, den Jolu und ich in der Nacht zuvor von Null aufgebaut hatten. „Ich

vertraue dieser Maschine. Jedes Einzelteil haben wir von Hand eingebaut. Hier drauf läuft ein

jungfräuliches ParanoidLinux, frisch von der DVD gebootet. Wenn es irgendwo auf der Welt einen

vertrauenswürdigen Computer gibt, dann ist es dieser hier.

Ich habe hier einen Schlüsselgenerator geladen. Ihr kommt hier hoch und gebt dem ein bisschen

Zufalls-Input -- Tasten drücken, Mauszeiger bewegen --, und auf dieser Basis

erzeugt der Generator

einen öffentlichen und einen privaten Schlüssel für euch, den er auf dem Monitor anzeigt. Ihr macht

mit eurem Handy ein Foto von eurem privaten Schlüssel, und wenn ihr dann irgendeine Taste drückt,

verschwindet der Schlüssel für immer -- er wird definitiv nicht im Rechner gespeichert. Als nächstes

zeigt er euren öffentlichen Schlüssel an. Dann ruft ihr all die Leute hoch, denen ihr vertraut und die

euch vertrauen, und die machen dann ein Bild von dem Monitor mit euch daneben, damit sie wissen,

wessen Schlüssel das ist.

Wenn ihr nach Hause kommt, müsst ihr die Fotos in Schlüssel umwandeln. Das ist eine Menge Arbeit,

fürchte ich, aber ihr müsst das auch bloß ein Mal machen. Ihr müsst super-vorsichtig dabei sein, wenn

ihr sie eintippt -- ein Vertipper, und die Sache ist im Arsch. Zum Glück lässt sich prüfen, ob ihrs

richtig gemacht habt: Unter dem Schlüssel wird noch eine sehr viel kürzere Nummer stehen, euer

‚Fingerprint‘. Sobald ihr den Schlüssel eingetippt habt, könnt ihr einen Fingerprint davon erzeugen

und mit dem ersten Fingerprint vergleichen, und wenn sie passen, habt ihrs richtig gemacht.“

Alle starrten mich ziemlich erschreckt an. Okay, ich hatte sie darum gebeten, ein paar ziemlich

abgefahrene Sachen zu machen, aber trotzdem ...

Kapitel 11

Dieses Kapitel ist der Universitätsbuchhandlung an der Universität von Washington gewidmet, deren Science-Fiction-Abteilung dank dem scharfen Blick und der Hingabe des Science-Fiction-Einkäufers Duane Wilkins derjenigen vieler

spezialisierter Geschäfte ebenbürtig ist. Duane ist ein echter Science-Fiction-Fan

-- ich habe ihn das erste Mal bei der

World Science Fiction Convention in Toronto 2003 getroffen --, und das zeigt sich im gut informiert ausgewählten Sortiment, das im Laden präsentiert wird. Ein gutes Indiz für eine herausragende Buchhandlung ist die Qualität der „Regal-Reviews“ --

der kleinen Kartonschnipsel an den Regalen, auf denen das Personal üblicherweise handschriftlich kleine Rezensionen über die Vorzüge von Büchern verfasst, die man sonst einfach verpassen würde.

Und die Angestellten in der

Universitätsbuchhandlung haben offensichtlich von Duanes Anleitung profitiert, denn die Regal-Reviews hier sind absolut

unvergleichlich.

The University Bookstore http://www4.bookstore.washington.edu/ 4326

University Way NE, Seattle, WA 98105 USA +1 800 335 READ

olu stand auf. „Jetzt wird’s ernst, Leute. Jetzt sehen wir, auf welcher Seite ihr seid. Vielleicht habt

ihr keine Lust, für eure Überzeugungen auf die Straße zu gehen und dafür hopsgenommen zu

werden, aber wenn ihr Überzeugungen habt, dann wird es uns das zeigen. Das

hier wird das Netz des

Vertrauens knüpfen, das uns zeigt, wer drin und wer draußen ist. Wenn wir unser Land jemals

zurückbekommen wollen, dann müssen wir das tun. Wir müssen einfach etwas wie das hier tun.“

J

Jemand in der Menge -- es war Ange -- hob eine Hand mit einer Bierflasche.

„Nennt mich blöde, aber ich versteh das kein Stück. Warum wollt ihr, dass wir das machen?“

Jolu schaute mich an, und ich erwiderte den Blick. Als wirs organisierten, hatte alles so offensichtlich

ausgesehen. „Das Xnet ist nicht bloß eine Möglichkeit, gratis zu spielen. Es ist das letzte offene

Kommunikationsnetzwerk in Amerika. Es ist die letzte Möglichkeit, miteinander zu reden, ohne vom

DHS dabei überwacht zu werden. Und damit das so bleibt, müssen wir wissen, dass derjenige, mit

dem wir grade sprechen, kein Schnüffler ist. Das bedeutet, wir müssen wissen, dass die Leute, denen

wir Nachrichten schicken, tatsächlich die sind, für die wir sie halten.

Und hier kommt ihr ins Spiel. Ihr seid alle hier, weil wir euch vertrauen. Ich meine, wirklich

vertrauen. Vertrauen auf Leben und Tod.“

Ein paar Leute stöhnten. Das klang so melodramatisch und dumm.

Ich stand wieder auf.

„Als die Bomben hochgingen“, sagte ich, und da begann sich etwas in meiner Brust zu regen, etwas

Schmerzhaftes. „Als die Bomben hochgingen, da sind vier von uns auf der Market Street gefangen

genommen worden. Aus irgendeinem Grund war das DHS der Meinung, wir hätten Verdacht erregt.

Die haben uns Tüten über den Kopf gezogen, auf ein Schiff gebracht und tagelang verhört. Die haben

uns erniedrigt und Psychospielchen mit uns gespielt. Dann haben sie uns gehen lassen.

Uns alle außer einem. Meinem besten Freund. Er war bei uns, als sie uns einkassiert haben. Er war

verletzt und brauchte ärztliche Hilfe. Und er kam nie wieder raus. Sie behaupten, sie hätten ihn nie

gesehen. Sie sagen, wenn wir je irgendwem davon erzählen, dann verhaften sie uns und lassen uns

verschwinden.

Für immer.“

Ich zitterte. Diese Scham. Diese verdammte Scham. Jolu hielt mit der Lampe auf mich.

„Oh Gott“, sagte ich. „Ihr hier, ihr seid die ersten, denen ich das erzähle. Wenn diese Story die Runde

macht, dann könnt ihr drauf wetten, dass die rauskriegen, wer undicht war. Dann könnt ihr drauf

wetten, dass sie kommen und an meine Tür klopfen.“ Ich atmete ein paar Mal tief durch. „Deshalb

engagiere ich mich im Xnet. Und deshalb ist mein Leben von jetzt an dem Kampf gegen das DHS

gewidmet. Mit jedem Atemzug, an jedem einzelnen Tag. Bis wir wieder frei sind. Jeder von euch

könnte mich jetzt in den Knast bringen, wenn er wollte.“

Ange hob wieder die Hand. „Wir verpfeifen dich nicht“, sagte sie. „Kein Stück.

Ich kenn hier so

ziemlich jeden, und so viel kann ich dir versprechen. Ich hab zwar keine Ahnung, woran man

jemanden erkennt, dem man vertrauen kann, aber ich weiß, wem man nicht vertrauen kann: alten

Leuten. Unseren Eltern. Erwachsenen. Wenn die an jemanden denken, dem nachspioniert wird, dann

denken die an jemand anderen, irgendeinen Bösen. Wenn sie an jemanden denken, der gefangen und

in ein Geheimgefängnis verschleppt wird, dann ist das immer ein anderer -- ein Junger, ein Farbiger,

ein Ausländer.

Sie haben vergessen, wie es ist, in unserem Alter zu sein. Einfach ständig unter Generalverdacht zu

sein! Wie oft steigst du in den Bus, und alle starren dich an, als ob du Bröckchen rülpst und Hunde

quälst?

Und noch schlimmer: Die werden immer früher und früher erwachsen. Früher hieß es mal, ‚trau

keinem über 30‘. Ich sage: ‚Trau keinem Mistkerl über 25‘“

Alle lachten, und sie lachte mit. Sie war auf eine merkwürdige Weise hübsch, ihr langes Gesicht und

die kräftigen Kiefer gaben ihr entfernt was von einem Pferd. „Ich mein das nicht als Witz, wisst ihr?

Ich meine, denkt mal drüber nach. Wer hat denn diese Arschgeigen gewählt?

Wer hat ihnen gesagt,

dass sie unsere Stadt besetzen sollen? Wer hat denn dafür gestimmt, Kameras in unseren

Klassenräumen aufzuhängen und uns mit ihren ekligen Schnüffelchips in unseren Transitpässen und

Autos überall hinterher zu rennen? Das war doch kein 16-Jähriger. Wir sind jung und vielleicht nicht

ganz dicht, aber Abschaum sind wir nicht.“

„Das will ich auf nem T-Shirt“, sagte ich.

„Das wär ein gutes“, entgegnete sie. Wir lächelten uns an.

„Wo bekomm ich jetzt meine Schlüssel?“, fragte sie und zog ihr Handy raus.

„Wir machen das da drüben, in der stillen Ecke bei den Höhlen. Ich bring dich rein und bereite den

Rechner vor, dann machst du deine Sache und bringst die Maschine zu deinen Freunden, damit die

Fotos von deinem öffentlichen Schlüssel machen und ihn zuhause signieren können.“

Ich erhob die Stimme. „Ach, eins noch! Mist, wie konnte ich das vergessen? Ihr müsst die Fotos

löschen, sobald ihr die Schlüssel eingetippt habt! Das letzte, was wir brauchen können, ist ein Flickr-

Stream mit Fotos von uns allen bei unserer konspirativen Sitzung.“

Als Antwort kam ein bisschen nervöses, gutmütiges Kichern, dann machte Jolu das Licht aus, und in

der plötzlichen Dunkelheit konnte ich nichts mehr sehen. Nach und nach passten sich meine Augen

an, und ich machte mich auf den Weg zur Höhle. Jemand ging hinter mir. Ange.

Ich drehte mich um

und lächelte sie an, sie lächelte zurück, und ihre Zähne leuchteten in der Dunkelheit.

„Danke für grade eben“, sagte ich. „Du warst toll.“

„Hast du das ernst gemeint, was du von der Tüte überm Kopf und all dem Zeug erzählt hast?“

„Hab ich“, antwortete ich. „Das ist echt passiert. Ich hab es noch niemandem erzählt, aber es ist

passiert.“

Ich dachte einen Moment drüber nach.

„Weißt du, nach all der Zeit, seit das passiert ist, ohne dass ich irgendwas erzählt habe, hat es sich

irgendwann nur noch wie ein böser Traum angefühlt. Aber es war echt.“

Ich hielt an und kletterte dann zur Höhle hoch.

„Ich bin froh, dass ichs endlich ein paar Leuten erzählt habe. So langsam dachte ich schon, ich wäre

durchgedreht.“

Ich stellte den Laptop auf einen trockenen Felsbrocken und fuhr ihn vor ihren Augen von der DVD

hoch.

„Ich werde ihn für jeden von euch neu starten. Das hier ist eine normale ParanoidLinux-DVD, aber

ich schätze, das musst du mir einfach so glauben.“

„Zum Teufel“, sagte sie. „Geht es hier um Vertrauen oder was?“

„Ja“, sagte ich. „Vertrauen.“

Ich ging ein paar Schritte weg, während sie den Schlüsselgenerator laufen ließ, hörte ihr zu, wie sie

tippte und klickte, um Zufallsdaten zu generieren, hörte dem Rauschen der Brandung zu, hörte den

Partygeräuschen zu, die von dort her kamen, wo das Bier war.

Sie kam aus der Höhle raus, den Laptop in den Händen. Darauf waren in großen, leuchtend weißen

Lettern ihr öffentlicher Schlüssel, ihr Fingerprint und ihre E-Mail-Adresse zu sehen. Sie hielt den

Monitor hoch neben ihr Gesicht und wartete, während ich mein Handy rauskramte.

„Cheese“, sagte sie. Ich machte ein Bild von ihr und steckte die Kamera wieder ein. Sie ging weiter

zu den Zechern und ließ jeden ein Foto von ihr mit dem Monitor machen. Es hatte was Feierliches.

Und es war lustig. Sie hatte wirklich eine Menge Charisma -- man wollte sie nicht bloß anlachen, man

wollte mit ihr lachen. Und verdammt noch mal, es war lustig. Wir erklärten gerade einen geheimen

Krieg gegen die Geheimpolizei. Wer dachten wir denn, wer wir waren?

So ging es vielleicht eine Stunde lang weiter, jeder machte Fotos und erzeugte Schlüssel. Ich lernte

jeden hier kennen. Ich kannte schon viele -- einige hatte ich ja selbst eingeladen

--, und die anderen

waren Freunde meiner Kumpels oder von Kumpeln meiner Kumpels. Wir sollten alle ein Team sein.

Am Ende dieser Nacht waren wirs. Es waren alles gute Leute.

Als alle fertig waren, ging Jolu, um einen Schlüssel zu erzeugen, und drehte sich dann mit einem

unbeholfenen Lächeln von mir weg. Mein Ärger über ihn war inzwischen verraucht. Er tat, was er tun

musste. Und ich wusste, dass er, was immer er jetzt auch sagte, immer für mich da sein würde. Und

wir waren zusammen im DHS-Knast gewesen. Van auch. Das würde uns für immer

zusammenschweißen, komme was da wolle.

Ich erzeugte meinen Schlüssel und drehte dann die Runde durch die Gang, um jeden ein Foto machen

zu lassen. Dann kletterte ich wieder auf den erhöhten Fleck von vorhin und bat alle um

Aufmerksamkeit.

„Also, ne Menge von euch haben mitbekommen, dass die ganze Nummer einen Riesenhaken hat: Was

wäre, wenn ihr diesem Laptop nicht trauen könnt? Wenn er heimlich all unsere Anweisungen

aufzeichnet? Wenn er uns ausspioniert? Was wäre, wenn ihr Jose Luis und mir

nicht trauen könnt?“

Mehr wohlwollendes Gickeln. Ein bisschen wärmer als vorher, bieriger.

„Ich mein das so“, sagte ich. „Wenn wir auf der falschen Seite wären, dann würde all das hier uns alle

-- euch alle -- in die Scheiße reiten. Vielleicht in den Knast.“

Die Gickler wurden nervöser.

„Und deshalb mach ich jetzt das hier“, sagte ich und nahm einen Hammer zur Hand, den ich aus Dads

Werkzeugkiste mitgebracht hatte. Ich stellte den Laptop neben mir auf den Felsen und holte mit dem

Hammer aus, Jolu mit der Lampe immer an der Bewegung dran. Crash -- ich hatte immer davon

geträumt, einen Laptop mit einem Hammer zu töten, und jetzt tat ich es. Es fühlte sich pornomäßig

gut an. Und schlecht zugleich.

Smash! Das Monitorpanel fiel raus, zersplitterte in Millionen Teile und gab die Tastatur frei. Ich

schlug weiter darauf ein, bis die Tastatur runterfiel und Hauptplatine und Festplatte sichtbar wurden.

Crash! Ich zielte genau auf die Festplatte und hieb mit aller Kraft auf sie ein. Es dauerte drei Schläge,

bis das Gehäuse zerbarst und das zerbrechliche Innenleben freigab. Ich hämmerte weiter, bis nur noch

feuerzeuggroße Einzelteile übrig waren, dann packte ich alles in einen Müllsack.

Meine Zuschauer

jubelten frenetisch -- laut genug, dass ich ernsthaft begann, mir Sorgen zu

machen, dass uns jemand

von oberhalb über die Brandung hinweg hören und die Gesetzeshüter rufen könnte.

„Das wäre das!“, rief ich. „Also, wenn mich jetzt jemand begleiten möchte -- ich trage das jetzt runter

zum Meer und spül es zehn Minuten im Salzwasser.“

Zuerst fand der Vorschlag keinen Zuspruch, aber dann kam Ange nach vorn, nahm meinen Arm in

ihre warme Hand und flüsterte mir „das war wundervoll“ ins Ohr; dann gingen wir zusammen runter

zum Strand.

Es war völlig dunkel unten am Wasser und nicht ungefährlich, selbst mit unseren Schlüsselanhänger-Lampen. Rutschige, scharfkantige Felsen überall, auf denen auch schon ohne drei Kilo pürierter

Elektronik in ner Plastiktüte schwer balancieren war. Ein Mal rutschte ich aus und war drauf gefasst,

mir was aufzuschlagen, aber sie angelte mich mit erstaunlich festem Griff und hielt mich aufrecht. Ich

wurde ganz nah an sie rangezogen, nah genug, um ihr Parfum wahrzunehmen, einen Duft nach neuen

Autos. Ich liebe diesen Duft.

„Danke“, brachte ich raus und schaute ihr in die großen Augen, die von ihrer männlichen, schwarz

gefassten Brille noch vergrößert wurden. Ich konnte im Dunkeln nicht erkennen, welche Farbe ihre

Augen hatten, aber ich tippte auf was Dunkles, soweit man aus ihrem dunklen Haar und olivebraunen

Teint darauf schließen konnte. Sie wirkte südländisch, vielleicht mit griechischen, spanischen oder

italienischen Wurzeln.

Ich bückte mich und ließ den Beutel im Meer mit Salzwasser volllaufen. Dabei brachte ichs fertig,

auszurutschen und meinen Schuh zu fluten; ich fluchte und sie lachte. Seit wir zum Ufer

aufgebrochen waren, hatten wir kaum ein Wort gewechselt. Es war etwas Magisches um unser

Stillschweigen.

Bis zu diesem Tag hatte ich insgesamt drei Frauen geküsst, den Heldenempfang in der Schule nicht

mitgerechnet. Das ist keine beeindruckende Zahl, aber so ganz winzig ja auch nicht. Ich habe ein

passables Frauenradar, und ich glaube, ich hätte sie küssen können. Sie war nicht h31ß im

traditionellen Sinn, aber ein Mädchen und eine Nacht und ein Strand, das hat schon was; außerdem

war sie smart, leidenschaftlich und engagiert.

Aber ich küsste sie nicht und nahm sie auch nicht bei der Hand. Stattdessen erlebten wir einen

Moment, den ich nur als spirituell bezeichnen kann. Die Brandung, die Nacht, das Meer und die

Felsen, dazu unser Atmen. Der Moment dehnte sich aus. Ich seufzte. Was für

eine Aktion! In dieser

Nacht würde ich noch eine Menge zu tippen haben, um all die Schlüssel in meinen Schlüsselbund zu

übertragen, zu signieren und die signierten Schlüssel zu veröffentlichen. Um das Netz des Vertrauens

zu starten.

Sie seufzte auch.

„Gehn wir“, sagte ich.

„Ja.“

So gingen wir zurück. Diese Nacht war eine gute Nacht.

Jolu wartete hinterher noch, bis der Freund seines Bruders kam, um die Kühlboxen abzuholen. Ich

ging mit allen anderen die Straße hoch bis zur nächsten Bushaltestelle und stieg ein. Natürlich

benutzte niemand von uns eine reguläre Fahrkarte mehr; mittlerweile klonte jeder Xnetter

gewohnheitsmäßig drei-, viermal am Tag den Fahrausweis von jemand anderem, um sich für jede

Fahrt eine neue Identität zuzulegen.

Es war nahezu unmöglich, im Bus cool zu bleiben. Wir waren alle leicht angeschickert, und es war

wahnsinnig komisch, uns gegenseitig im grellen Licht im Bus anzuschauen. Wir wurden ziemlich

laut, und der Fahrer ermahnte uns zwei Mal über die Sprechanlage und sagte dann, wenn wir nicht

sofort ruhig seien, würde er die Polizei rufen.

Das brachte uns gleich wieder zum Gickeln, und so stiegen wir alle auf einmal aus, bevor er die

Bullen rufen konnte. Wir waren jetzt in North Beach, und jede Menge Busse, Taxis, die BART in

Market Street und ein paar neonleuchtende Clubs und Cafés sorgten dafür, dass sich unsere Gruppe

hier zerstreute.

Ich kam heim, warf die Xbox an und begann, Schlüssel von meinen Handyfotos zu übertragen. Das

war eine stumpfsinnige, hypnotisierende Angelegenheit, und weil ich außerdem ein bisschen

betrunken war, fiel ich darüber in einen Halbschlaf.

Grade als ich vollends am Wegdämmern war, poppte ein neues Messenger-Fenster hoch.

hey-ho!

Ich erkannte den Nick nicht -- spexgril --, aber ich hatte so eine Ahnung, wer es sein könnte.

hi

tippte ich vorsichtig.

ich bins, von heute nacht

Dann fügte sie einen Block Krypto ein. Ihren öffentlichen Schlüssel hatte ich schon am

Schlüsselbund, also ließ ich den Messenger versuchen, den Code mit ihrem Schlüssel zu entziffern.

ich bins, von heute nacht

Sie war es!

Schön dich hier zu sehen

tippte ich, verschlüsselte es mit meinem Schlüssel und schickte es ab.

Es war toll, dich zu treffen

tippte ich weiter.

Dich auch. Ich treff nicht so viele kluge Jungs, die auch noch süß sind und ein soziales Gewissen

haben. Gute Güte, Mann, du lässt einem Mädchen kaum eine Chance.

Mein Herz hämmerte in meiner Brust.

Hallo? Klopfklopf? Jemand daheim? Ich bin nicht hier geboren, Leute, aber ich werde ganz sicher

hier sterben. Vergesst nicht, euren Kellnerinnen Trinkgeld zu geben, sie arbeiten so hart. Ich bin die

ganze Woche hier.

Ich musste laut lachen.

Ich bin ja hier, ich lach bloß zu laut, um tippen zu können Na zumindest meine Messenger-Comedy zieht noch Aha?

Es war echt toll, dich zu treffen

Ja, das ist es meistens. Wohin führste mich aus?

Ausführen?

Bei unserem nächsten Abenteuer?

Hatte noch nichts geplant

Okay, dann sag ich, wohin. Freitag, Dolores Park. Illegales Open-Air-Konzert. Komm da hin, oder

du bistn Dodekaeder

Was noch mal?

Liest du nicht mal Xnet? Steht an jeder Ecke. Schon mal von den Speedwhores gehört?

Ich verschluckte mich bald. Das war Trudy Doos Band -- DIE Trudy Doo, die Frau, die Jolu und mich

dafür bezahlte, den indienet-Code zu aktualisieren.

Ja, schon von gehört

Die planen einen Riesengig und haben wohl noch so fünfzig andere Bands dabei, wollen das auf

den Tennisplätzen machen, mit ihren eigenen Boxentrucks dabei, und die ganze Nacht durchrocken

Ich fühlte mich wie ein Grottenolm. Wie war das denn an mir vorbeigegangen?

Auf Valencia gabs

diese anarchistische Buchhandlung, an der ich manchmal auf dem Weg zur Schule vorbeikam; und die

hatte ein Poster im Fenster mit einer alten Revolutionärin, Emma Goldman, mit der Zeile „Wenn ich

nicht tanzen kann, dann will ich nichts mit deiner Revolution zu tun haben.“ Ich hatte meine gesamte

Energie darauf verwendet, mit dem Xnet engagierte Kämpfer zu organisieren, um dem DHS

dazwischenzufunken. Aber das hier war ja wohl soo viel cooler. Ein Riesenkonzert -- ich hatte keine

Ahnung, wie man so was aufzog, aber ich war froh, dass es Leute gab, die das konnten.

Und wenn ichs mir recht überlegte, dann war ich verdammt stolz drauf, dass sies mit Hilfe des Xnets

organisierten.

Am nächsten Tag war ich ein Zombie. Ange und ich hatten bis vier Uhr früh gechattet -- na ja,

geflirtet. Zum Glück war Samstag, und ich konnte ausschlafen, aber vor Kater und Übermüdung

kriegte ich trotzdem keinen geraden Gedanken zusammen.

Gegen Mittag mühte ich mich aus dem Bett und raus auf die Straße. Ich wankte rüber zum Türken,

um meinen Kaffee zu kaufen -- wenn ich allein war, kaufte ich neuerdings meinen Kaffee immer hier,

weil ich das Gefühl hatte, der Türke und ich seien Mitglieder eines geheimen Clubs.

Auf dem Weg dahin kam ich an einer Menge frischer Graffiti vorbei. Ich mochte die Graffiti im

Mission-Viertel; es war meist riesige, üppige Wandmalerei oder die sarkastischen Schablonenwerke

von Kunststudenten. Und ich mochte es, dass die Tagger von Mission unter den Augen des DHS

immer noch weiter machten. Auch ne Art Xnet, dachte ich -- die mussten auch ihre Methoden haben,

rauszukriegen, was los war, woher man Farbe kriegte und welche Kameras funktionierten. Einige

Kameras, merkte ich, waren einfach übergesprüht.

Vielleicht benutzten sie ja das Xnet!

In drei Meter hohen Buchstaben prangten am Bretterzaun eines Schrottplatzes die Worte: TRAU

NIEMANDEM ÜBER 25.

Ich hielt an. War wohl jemand gestern von meiner „Party“ mit einer Farbdose hier vorbeigekommen?

Ne Menge von den Leuten lebte hier im Viertel.

Ich holte meinen Kaffee und stratzte dann ein bisschen durch die Stadt. Dabei dachte ich die ganze

Zeit, eigentlich müsste ich jemanden anrufen, ob wir uns einen Film ausleihen wollten oder so. So

war es immer gewesen an faulen Samstagen wie heute. Aber wen sollte ich anrufen? Van redete nicht

mit mir, ich glaubte nicht, schon wieder mit Jolu sprechen zu können, und Darryl

...

Nun, Darryl konnte ich nicht anrufen.

Also holte ich noch einen Kaffee, ging heim und suchte ein bisschen in den Blogs im Xnet herum.

Diese anonymen Blogs konnten keinem bestimmten Autor zugeordnet werden --

es sei denn, der Autor

war blöd genug, seinen Namen drüberzuschreiben --, und es gab eine ganze Menge davon. Die

meisten waren unpolitisch, etliche aber auch nicht. Dort schrieben sie über

Schulen und wie unfair es

dort war. Sie schrieben über die Bullen und übers Tagging.

Wie sich rausstellte, waren die Planungen für das Konzert im Park schon seit Wochen im Gang. Sie

waren von Blog zu Blog gewandert, ohne dass ich was mitbekommen hatte. Und das Konzert stand

unter dem Motto „Trau keinem über 25“.

Nun, das erklärte, woher Ange es hatte. War ein guter Slogan.

Am Montagmorgen beschloss ich, mal wieder bei der Anarchistenbuchhandlung vorbeizuschauen und

zu versuchen, eins dieser Emma-Goldman-Poster zu bekommen. Ich brauchte die Gedächtnisstütze.

Also nahm ich auf dem Weg zur Schule den Umweg die 16te runter nach Mission, dann Valencia hoch

und rüber. Der Laden war zu, aber ich notierte mir die Öffnungszeiten und vergewisserte mich, dass

sie das Poster noch hängen hatten.

Als ich Valencia runterstapfte, war ich erstaunt zu sehen, wie viel „Trau keinem über 25“-Zeug hier zu

sehen war. Die Hälfte der Läden hatte Trau-keinem-Devotionalien in den Fenstern: Brotdosen,

Babydoll-Shirts, Stiftdosen, Truckerhüte. Die Trendsetterläden sind immer schneller geworden: Wenn

sich neue Meme binnen ein, zwei Tagen übers Netz verbreiten, dann sind die Läden mittlerweile ganz

gut darin, ruckzuck den passenden Merchandising-Kram ins Fenster zu hängen.

Wenn du am Montag

ein witziges Youtube-Filmchen über einen Typ, der sich aus Mineralwasserflaschen einen

Düsenantrieb bastelt, in deiner Mail findest, kannst du davon ausgehen, am Dienstag die ersten TShirts

mit Stills aus dem Video kaufen zu können.

Aber es war irre zu sehen, wie sich was aus dem Xnet in die Szeneläden ausbreitete. Zerfetzte

Designerjeans, auf die der Slogan sorgfältig wie mit Tinte geschrieben war.

Gestickte Aufnäher.

Gute Nachrichten verbreiten sich schnell.

Als ich in die Gesellschaftskundeklasse von Ms. Galvez kam, stand der Slogan an der Tafel. Wir

saßen alle an unseren Tischen und grinsten ihn an, und er schien zurückzugrinsen. Es hatte was

ungeheuer Befriedigendes zu denken, dass wir alle einander trauen konnten und dass der Feind

identifizierbar war. Ich wusste, dass das nicht so ganz stimmte, aber es war eben auch nicht so ganz

falsch.

Ms. Galvez kam rein, strich sich übers Haar, stellte ihr SchulBook auf den Tisch und schaltete es ein.

Dann nahm sie ein Stück Kreide und drehte sich zur Tafel. Alles lachte.

Gutmütig zwar, aber wir

lachten.

Sie drehte sich wieder zu uns und lachte ebenfalls. „Sieht so aus, als ob die Sloganschreiber der

Nation unter Inflation leiden. Wer von euch weiß denn, woher dieser Satz ursprünglich stammt?

Wir schauten uns an. „Hippies?“, fragte jemand, und wir lachten wieder. San Francisco ist voll von

Hippies, von den alten Kiffern mit ihren Schmuddelbärten und Batikfummeln bis zu denen von heute,

die sich mehr fürs Verkleiden und Footbag-Spielen interessieren als fürs Protestieren.

„Ja, Hippies. Aber wenn wir heute an Hippies denken, dann meist nur an ihre Kleidung und an die

Musik. Aber Kleidung und Musik waren nur eine Begleiterscheinung von dem, was diese Ära, die

Sechziger, so wichtig machte.

„Ihr habt schon von der Bürgerrechtsbewegung gehört, der es um die Abschaffung der

Rassentrennung ging; weiße und farbige Jugendliche wie ihr, die mit Bussen in den Süden gefahren

sind, um bei der Registrierung schwarzer Wähler zu helfen und gegen den offiziellen Staatsrassismus

zu protestieren. Kalifornien war einer der Orte, aus denen die meisten Führer der Bürgerrechtsbewegung kamen. Wir waren hier immer schon ein bisschen politischer als der Rest des

Landes, und in diesem Teil des Landes konnten Farbige außerdem schon dieselben Fabrikjobs

bekommen wie Weiße, so dass es ihnen ein bisschen besser ging als ihren Verwandten im Süden.

Die Studenten in Berkeley schickten kontinuierlich Freiheitsaktivisten nach Süden, die sie mithilfe

von Infoständen auf dem Campus, in Bancroft und Telegraph Avenue rekrutierten. Die Stände gibt es

heute noch, ihr habt sie wahrscheinlich schon gesehen.

Tja, die Universität versuchte das zu unterbinden. Ihr Präsident verbot politische Aktivitäten auf dem

Campus, aber die Bürgerrechtsjugend ließ sich davon nicht aufhalten. Die Polizei versuchte jemanden

zu verhaften, der an den Infoständen Flugblätter verteilte, aber dann haben 3000

Studenten den Wagen

umzingelt und es verhindert, ihn abtransportieren zu lassen. Sie wollten es nicht zulassen, dass sie

diesen Jugendlichen ins Gefängnis brachten. Sie stellten sich aufs Dach des Polizeiautos und hielten

Reden über das First Amendment3 und über Meinungsfreiheit.

3 Erster Zusatzartikel zur US-Verfassung, verbietet u.a. die gesetzliche Einschränkung der Meinungs- und

Versammlungsfreiheit, AdÜ

Das gab den Startschuss für die Bewegung für Meinungsfreiheit. Es war der Beginn der Hippies, aber

von hier nahmen auch ein paar radikalere Studentenbewegungen ihren Anfang.

Black-Power-Gruppen

wie die Black Panthers, und später auch Gruppen für Schwulenrechte wie die

Pink Panthers, radikale

Frauengruppen, sogar ‚lesbische Separatisten‘, die Männer komplett abschaffen wollten. Und die

Yippies. Hat schon mal jemand von den Yippies gehört?“

„Wollten die nicht das Pentagon zum Schweben bringen?“, fragte ich. Darüber hatte ich mal eine

Doku gesehen.

Sie lachte. „Das hatte ich vergessen, aber du hast Recht, das waren sie. Yippies waren so etwas wie

sehr politische Hippies, aber sie waren nicht in dem Sinne ernsthaft, wie wir uns Politik heute

vorstellen. Sie waren ziemlich verspielt, Faxenmacher. Sie haben Geld in die New Yorker Börse

geworfen und das Pentagon mit Hunderten Leuten umringt, um es mit einem Zauberspruch zu

levitieren. Sie haben eine fiktive Art von LSD erfunden, das man mit Wasserpistolen versprühen

sollte, und dann haben sie sich gegenseitig bespritzt und so getan, als ob sie stoned seien. Sie waren

lustig und ziemlich telegen -- einer der Yippies, ein Clown namens Wavy Gravy, brachte in der Regel

Hunderte von Demonstranten dazu, sich wie der Weihnachtsmann zu verkleiden, so dass man abends

in den Fernsehnachrichten sehen konnten, wie Polizisten den Weihnachtsmann festnahmen --, und sie

mobilisierten eine Menge Leute.

Ihre große Stunde war die Democratic National Convention 1968, als sie zu Protesten gegen den

Vietnamkrieg aufriefen. Tausende von Leuten kamen nach Chicago, schliefen in den Parks und

demonstrierten jeden Tag. In diesem Jahr hatten sie eine Menge bizarrer Aktionen; zum Beispiel

ließen sie ein Schwein namens Pigasus als Präsidentschaftskandidat antreten.

Die Polizei und die

Demonstranten kämpften in den Straßen -- das hatten sie vorher auch schon oft getan, aber die

Polizisten in Chicago waren nicht klug genug, die Presse in Ruhe zu lassen. Sie verprügelten die

Reporter, und die rächten sich, indem sie endlich ausführlich berichteten, was bei diesen

Demonstrationen wirklich passierte. Plötzlich sah das ganze Land, wie seine Kinder ziemlich brutal

von Polizisten zusammengeschlagen wurden. Sie nannten es einen ‚Polizei-Aufstand‘.

Die Yippies sagten immer „trau keinem über 30“. Damit meinten sie, dass Leute, die vor einem

bestimmten Zeitpunkt geboren waren, als Amerika Feinde wie die Nazis bekämpfte, es nie begreifen

würden, was es bedeutete, sein Land so sehr zu lieben, dass man es ablehnen musste, gegen die

Vietnamesen zu kämpfen.Sie dachten, dass du, wenn du erst mal 30 warst, deine Einstellungen nicht

mehr ändern würdest und niemals begreifen könntest, wieso die Kinder der

damaligen Zeit auf die

Straße gingen und Krawall machten.

San Francisco war der Ausgangspunkt für all das. Hier wurden revolutionäre Armeen gegründet.

Einige davon jagten im Dienst ihrer Sache Häuser in die Luft oder raubten Banken aus. Viele der

Jugendlichen von damals wurden später mehr oder weniger normal, während andere im Gefängnis

landeten. Einige von den Studienabbrechern erreichten Erstaunliches -- Steve Jobs und Steve Wozniak

zum Beispiel, die den PC erfunden haben.“

Die Sache begann mich zu faszinieren. Ein bisschen was wusste ich schon davon, aber so wie heute

hatte man mir die Geschichte noch nie erzählt. Auf einmal sahen die lahmen, betulichen, erwachsenen

Straßenproteste gar nicht mehr so lahm aus. Vielleicht war diese Sorte Action auch in der Xnet-Bewegung möglich.

Ich hob meine Hand. „Haben sie gewonnen? Haben die Yippies gewonnen?“

Sie sah mich lange an, als ob sie darüber nachdenken musste. Niemand sagte ein Wort. Wir waren alle

auf die Antwort gespannt.

„Verloren haben sie nicht“, sagte sie schließlich. „Sie sind sozusagen implodiert.

Einige von ihnen

sind wegen Drogen oder anderer Vergehen ins Gefängnis gekommen. Einige haben ihr Fähnchen

gedreht und sind Yuppies geworden, und dann sind sie auf Vortragsreisen gegangen und haben

herumerzählt, wie dumm sie gewesen seien und dass Gier doch eine gute Sache sei.

Aber sie haben die Welt verändert. Der Vietnamkrieg ging zu Ende, und die Art von Konformismus

und vorbehaltlosem Gehorsam, die bis dahin als Patriotismus gegolten hatte, war jetzt völlig out. Die

Rechte von Farbigen, Frauen und Schwulen wurden nachhaltig weiterentwickelt.

Die Rechte von

Chicanos oder von Behinderten, überhaupt unsere gesamte Tradition bürgerlicher Freiheiten, wurden

von diesen Leuten überhaupt erst ins Leben gerufen oder gestärkt. Die heutige Protestbewegung ist

ein unmittelbarer Abkömmling der damaligen Auseinandersetzungen.“

„Ich fass es nicht, wie Sie über die Leute reden“, sagte Charles. Er lehnte halb stehend in seinem

Stuhl, und sein mageres, kantiges Gesicht war rot angelaufen. Seine Augen waren groß und feucht

und seine Lippen riesig, und wenn er sich aufregte, sah er immer ein bisschen wie ein Fisch aus.

Ms. Galvez verspannte sich merklich, dann sagte sie, „Ja, bitte, Charles?“

„Sie haben gerade Terroristen beschrieben. Echte Terroristen. Sie sagen, dass sie Häuser gesprengt

haben. Die wollten die Börse zerstören. Die haben Polizisten verprügelt und sie davon abgehalten,

Gesetzesbrecher zu verhaften. Die haben uns angegriffen!“

Ms. Galvez nickte bedächtig. Mir war klar, dass sie drüber nachdachte, wie sie mit Charles umgehen

solle, der tatsächlich aussah, als würde er gleich platzen.

„Charles spricht da einen interessanten Aspekt an. Die Yippies waren keine fremden Agenten, sondern

amerikanische Bürger. Wenn du sagst, ‚die haben uns angegriffen‘, dann musst du dir klarmachen,

wer ‚die‘ und ‚wir‘ sind. Wenn deine Mitbürger ...“

„Schwachsinn!“, rief er. Er war jetzt aufgestanden. „Wir waren damals im Krieg.

Diese Typen haben

den Feind unterstützt. Es ist doch ganz einfach, wer ‚wir‘ sind und wer ‚die‘: Wenn du Amerika

unterstützt, gehörst du zu uns. Wenn du die Leute unterstützt, die auf Amerikaner schießen, gehörst du

zu denen.“

„Möchte vielleicht sonst jemand etwas dazu sagen?“

Einige Hände schossen hoch. Ms. Galvez rief sie auf. Ein paar Leute wiesen darauf hin, dass die

Vietnamesen bloß auf Amerikaner geschossen hatten, weil die Amerikaner nach Vietnam geflogen

waren, um dort bewaffnet im Dschungel herumzurennen. Andere fanden, dass Charles insofern Recht

hatte, dass es nicht erlaubt sein dürfe, verbotene Dinge zu tun.

Alle diskutierten angeregt; alle außer Charles, der sich drauf beschränkte, Leute anzubrüllen und sie

zu unterbrechen, wenn sie ihre Standpunkte erläutern wollten. Ms. Galvez versuchte ein paar Mal, ihn

zum Warten zu bewegen, aber er wollte davon nichts wissen.

Ich schlug derweil was in meinem SchulBook nach, von dem ich wusste, dass ich es schon mal

gelesen hatte.

Ich fand es. Ich stand auf. Ms. Galvez blickte mich erwartungsvoll an. Die Anderen folgten ihrem

Blick und verstummten. Selbst Charles schaute nach einer Weile zu mir hin; in seinen großen,

feuchten Augen loderte sein Hass auf mich.

„Ich möchte etwas vorlesen“, sagte ich. „Es ist kurz: ‚daß, um diese Rechte zu sichern, Regierungen

eingesetzt sein müssen, deren volle Gewalten von der Zustimmung der Regierten herkommen; daß zu

jeder Zeit, wenn irgend eine Regierungsform zerstörend auf diese Endzwecke einwirkt, das Volk das

Recht hat, jene zu ändern oder abzuschaffen, eine neue Regierung einzusetzen, und diese auf solche

Grundsätze zu gründen, und deren Gewalten in solcher Form zu ordnen, wie es ihm zu seiner

Sicherheit und seinem Glücke am zweckmäßigsten erscheint.“4

4 Zitat folgt einschließlich damaliger Rechtschreibung der Übersetzung von 1849, wie veröffentlicht auf

http://www.verfassungen.de/us/unabhaengigkeit76.htm Kapitel 12

Dieses Kapitel ist Forbidden Planet gewidmet, der britischen Buchhandelskette für Science-Fiction und Fantasy, Comics,

Spiele und Videos. Forbidden Planet hat Filialen überall in Großbritannien sowie Außenstellen in Manhattan und Dublin,

Irland. Es ist gefährlich, einen Forbidden Planet zu betreten -- ich komme da fast nie mit intakter Geldbörse wieder raus.

Forbidden Planet ist wirklich ganz vorn dabei, wenn‘s darum geht, die riesige Klientel für Science-Fiction-Filme und -Serien in Kontakt mit Science-Fiction-Literatur zu bringen -- und darauf kommt es in Zukunft auf diesem Sektor an.

Forbidden Planet, UK, Dublin and New York City: http://www.forbiddenplanet.co.uk

s. Galvez lächelte übers ganze Gesicht. „Weiß irgendwer, woher das kommt?“

Ein

vielstimmiger Chor antwortete „aus der Unabhängigkeitserklärung“. M

Ich nickte.

„Warum hast du uns das vorgelesen, Marcus?“

„Weil ich denke, die Gründer dieses Landes haben damit gesagt, dass Regierungen nur so lange an der

Macht bleiben sollten, wie wir daran glauben, dass sie in unserem Interesse arbeiten, und wenn wir

nicht mehr daran glauben, dann sollen wir sie aus dem Amt jagen. Das steht da doch, oder nicht?“

Charles schüttelte den Kopf. „Das ist Hunderte von Jahren her“, sagte er. „Heute sind die Dinge

anders!“

„Was ist anders?“

„Na ja, zum Beispiel haben wir keinen König mehr. Die Regierung, die die damals meinten, existierte

doch bloß, weil der Urururgroßvater von irgendeinem Idioten glaubte, von Gott eingesetzt zu sein,

und jeden tötete, der anderer Meinung war. Wir haben eine demokratisch gewählte Regierung ...“

„Ich hab sie nicht gewählt“, sagte ich.

„Und das gibt dir das Recht, Gebäude in die Luft zu jagen?“

„Wer redet denn vom Gebäudehochjagen? Die Yippies und Hippies und all diese Leute glaubten fest,

dass die Regierung ihnen nicht mehr zuhörte -- denk nur mal daran, wie die Leute behandelt wurden,

die bei der Wählerregistrierung im Süden geholfen haben. Die wurden verprügelt, eingesperrt ...“

„Ein paar von ihnen wurden sogar getötet“, ergänzte Ms. Galvez. Dann hob sie ihre Hände und

wartete, bis Charles und ich uns gesetzt hatten.

„Unsere Zeit heute ist fast vorbei, aber ich möchte euch allen für eine der interessantesten Stunden

danken, die ich je gehalten habe. Es war eine fantastische Diskussion, und ich habe von euch allen

viel gelernt. Ich hoffe, ihr habt auch etwas voneinander gelernt. Danke euch allen für eure Beiträge.

Ich habe eine Zusatzaufgabe für diejenigen von euch, die gern eine kleine Herausforderung mögen.

Ich möchte, dass ihr einen Aufsatz schreibt, in dem ihr die politischen Reaktionen auf die Antikriegs-und Bürgerrechtsbewegungen in der Bay Area mit den heutigen Bürgerrechts-Auswirkungen des

Kriegs gegen den Terror vergleicht. Mindestens drei Seiten, aber schreibt so viel ihr mögt. Ich bin

gespannt, zu welchen Ergebnissen ihr kommt.“

Im nächsten Moment klingelte es, und alles strömte aus der Klasse raus. Ich blieb zurück und wartete,

bis Ms. Galvez mich bemerkte.

„Ja, Marcus?“

„Das war faszinierend“, sagte ich. „Ich wusste das alles über die Sechziger noch gar nicht.“

„Auch die Siebziger. In politisch brisanten Zeiten war dies hier schon immer ein aufregender Ort zum

Leben. Deine Anspielung auf die Erklärung hat mir gefallen; das war sehr clever.“

„Danke, aber das ist mir irgendwie zugeflogen. Vor heute hatte ich noch gar nicht richtig begriffen,

was dieser Abschnitt bedeutete.“

„Oh, so etwas hören Lehrer immer gern, Marcus“, sagte sie und schüttelte mir die Hand. „Ich bin sehr

gespannt drauf, deinen Aufsatz zu lesen.“

Auf dem Heimweg kaufte ich das Emma-Goldman-Poster und hängte es über meinem Schreibtisch

auf, direkt über einem echten Schwarzlicht-Poster. Ich kaufte auch ein TRAU-NIEMANDEM-T-Shirt

mit einer Photoshop-Montage aus Grover und Elmo, wie sie die Erwachsenen Gordon und Susan aus

der Sesamstraße kicken, weil ich es lustig fand. Später fand ich raus, dass es schon ungefähr ein

halbes Dutzend Photoshop-Wettbewerbe mit dem Slogan auf Websites wie Fark, Worth1000 und B3ta

gab und dass bereits Hunderte fertige Bilder auf so ziemlich allem zirkulierten, was sich bedrucken

und verkaufen ließ.

Mom zog angesichts des Shirts eine Augenbraue hoch und Dad schüttelte den Kopf und meinte mir

einen Vortrag übers Ärgersuchen halten zu müssen; aber seine Reaktion bestätigte mich bloß.

Ange fand mich wieder online, und wir flirteten über Messenger bis spät in der Nacht. Der weiße

Lieferwagen mit den Antennen kam wieder vorbei, und ich schaltete meine Xbox ab, bis er weg war.

Daran hatten wir uns alle inzwischen gewöhnt.

Ange war ziemlich aufgedreht wegen der Party. Schien, als würde das ein Monsterevent werden. Es

waren so viele Bands mit an Bord, dass man davon sprach, noch eine zweite Bühne für die B-Acts

aufzubauen.

Wie sind die an die Genehmigungen gekommen, die ganze Nacht Lärm zu

machen? Da sind doch

überall Häuser

Ge-neh-mi-gun-gen? Was ist das denn? Erzähl mir mehr von deinen Geneh-mi-gun-gen

Boah, es ist illegal?

Äh, hallo? Du machst dir Sorgen übers Gesetzebrechen?

Guter Punkt

LOL

So nen Hauch einer Ahnung von Nervosität spürte ich aber doch. Hey, ich hatte am Wochenende ein

Date mit diesem völlig umwerfenden Mädchen (streng genommen hatte sie ein Date mit mir), und

zwar bei einem illegalen Rave mitten in einer belebten Gegend.

Es versprach ziemlich interessant zu werden.

Interessant, in der Tat.

Über den ganzen langen Samstagnachmittag verteilt tröpfelten die Leute in Dolores Park ein und

verteilten sich unter die Frisbeespieler und Hundehalter. Einige spielten auch Frisbee oder führten

Hunde aus. Es war noch nicht recht klar, wie das Konzert vonstatten gehen sollte, aber es hingen

schon eine Menge Bullen und Verdeckte rum. Die Verdeckten erkannte man an ihren Castrofrisuren

und dem Nebraska-Körperbau, genau wie damals Pickel und Popel: stämmige

Typen mit kurzem Haar

und unordentlichen Schnurrbärten. Sie stromerten herum und wirkten seltsam unbeholfen in ihren

riesigen Shorts und weit geschnittenen Hemden, die wohl das Ausrüstungsgeraffel überdecken sollten,

mit dem sie vermutlich behängt waren.

Dolores Park ist hübsch und sonnig; Palmen, Tennisplätze und jede Menge Hügel und urwüchsige

Bäume zum Rumlaufen und Abhängen. Nachts schlafen Obdachlose dort, aber das tun sie ja überall in

San Francisco.

Ich traf Ange die Straße runter in der Anarchistenbuchhandlung. Mein Vorschlag. Im Nachhinein wars

eine völlig durchsichtige Nummer, um vor ihr als cool und trendig dazustehen, aber in diesem

Moment hätte ich schwören können, dass es einfach bloß ein günstiger Treffpunkt war. Als ich kam,

las sie gerade ein Buch mit dem Titel „An die Wand, Motherf....r“.

„Wie hübsch“, sagte ich. „Was sagt denn deine Mutter zu so was?“

„Deine Mutter soll sich mal nicht beschweren. Ernsthaft, das hier ist die Geschichte einer Gruppe von

Leuten wie die Yippies, aber in New York. Und sie hatten das Wort alle als Nachname, zum Beispiel

‚Ben M-F‘. Es ging darum, eine Gruppe zu haben und in die Nachrichten zu kommen, aber mit einem

absolut undruckbaren Namen, einfach nur, um die Medien zu ärgern. Ziemlich

lustig, echt.“

Sie stellte das Buch zurück ins Regal, und ich fragte mich, ob ich sie wohl umarmen sollte. Die Leute

in Kalifornien umarmen sich eigentlich ständig, zur Begrüßung und zum Abschied, außer sie tun es

mal nicht. Und manchmal küssen sie sich auf die Wange. Ziemlich verwirrend das alles.

Sie nahm mir die Entscheidung ab, indem sie mich zu einer Umarmung schnappte, meinen Kopf an

sich heranzog, mich hart auf die Wange küsste und mir dann einen Furz in den Nacken blies. Ich

lachte und schubste sie weg.

„Willst du einen Burrito?“, fragte ich.

„Ist das ne Frage oder eine Feststellung offensichtlicher Tatsachen?“

„Weder noch. Es ist ein Befehl.“

Ich kaufte ein paar lustige Aufkleber DIESES TELEFON IST VERWANZT, die genau die richtige

Größe für die Münztelefone hatten, die es immer noch in den Straßen von Mission gab, in diesem

Viertel, in dem sich nicht unbedingt jeder ein Handy leisten konnte.

Wir traten raus in die Abendluft. Ich erzählte Ange davon, wie es vorhin im Park ausgesehen hatte.

„Ich wette, sie haben hundert von diesen Trucks um den Block geparkt“, sagte sie, „damit sie uns

besser hochnehmen können.“

„Öh.“ Ich blickte mich um. „Eigentlich hatte ich gehofft, du würdest sowas sagen wie ‚ach, dagegen

können sie überhaupt nichts machen‘.“

„Aber darum gehts nicht, glaub ich. Es geht darum, ne Menge Zivilisten in eine Situation zu bringen,

in der die Bullen sich zu entscheiden haben, ob sie all diese normalen Leute wirklich wie Terroristen

behandeln sollen. Es ist son bisschen wie diese Jammerei, aber mit Musik statt mit Elektronikkrams.

Du jammst doch auch, oder?“

Manchmal vergaß ich, dass meine Freunde nicht wissen, dass Marcus und M1k3y derselbe sind. „Ja,

ein bisschen“, sagte ich.

„Das hier ist wie Jammen mit einem Haufen toller Bands.“

„Verstehe.“

Mission Burritos sind eine Institution. Sie sind billig, riesig und lecker. Stellt euch eine Röhre in der

Größe einer Bazooka-Granate vor, die mit würzigem Grillfleisch, Guacamole, Salsa, Tomaten,

zweifach gebratenen Bohnen, Reis, Zwiebeln und Cilantro gefüllt ist. Es verhält sich ungefähr so zu

Taco Bell wie ein Lamborghini zu einem Hot-Wheels-Modell.

Es gibt ungefähr zweihundert Mission-Burrito-Filialen. Allen gemeinsam ist ihr Mut zur Hässlichkeit,

mit unbequemen Sitzgelegenheiten, nur einem Minimum an Deko (ausgeblichene Mexiko-Tourismus-

Plakate und gerahmte, elektrische Jesus-und-Maria-Hologramme) und lauter Mariachi-Musik. Was sie

voneinander unterscheidet, ist hauptsächlich, mit welchen exotischen Fleischsorten sie jeweils ihre

Burritos füllen. Die wirklich authentischen Läden haben auch Hirn und Zunge --

das bestelle ich nie,

aber es ist gut zu wissen, dass es das gibt.

Der Laden, zu dem wir gingen, hatte sowohl Hirn als Zunge, aber wir bestelltens nicht. Ich nahm

Carne Asada und sie Hühnerhack, und beide nahmen wir einen großen Becher Horchata.

Kaum hatten wir uns gesetzt, rollte sie ihren Burrito aus und holte ein kleines Fläschchen aus ihrer

Tasche. Es war ein kleiner Edelstahl-Zerstäuber, den wohl jeder für eine Pfefferspray-Selbstverteidigungswaffe gehalten hätte. Sie zielte auf die freiliegenden Innereien ihres Burrito und

nebelte sie mit einem feinen, öligen roten Spray ein. Ich bekam einen Hauch in die Nase, meine Kehle

zog sich zusammen und meine Augen tränten.

„Was zum Teufel tust du deinem armen, wehrlosen Burrito da an?“

Sie warf mir ein fieses Grinsen zu. „Ich bin süchtig nach scharfem Essen. Das hier ist Capsaicinöl in

einem Zerstäuber.“

„Capsaicin ...“

„Genau, das Zeug in Pfefferspray. Das hier ist im Prinzip Pfefferspray, aber in Öl

angelöst. Und viel

leckerer. Stell es dir einfach wie Spicy Cajun Visine vor.“

Meine Augen tränten schon beim bloßen Gedanken daran.

„Du machst Witze. Das da wirst du niemals essen.“

Sie zog die Augenbrauen hoch. „Hey, Bürschchen, das klingt wie ne Herausforderung. Schau genau

hin.“

Sie rollte den Burrito so sorgfältig zusammen wie ein Kiffer seinen Joint, schlug die Enden ein und

wickelte ihn dann wieder in die Alufolie. Sie pulte ein Ende ab, hielt es sich vor den Mund und

balancierte es ein wenig vor ihren Lippen.

Bis zu dem Moment, in dem sie reinbiss, konnte ich nicht glauben, dass sie es wirklich tun würde. Ich

mein, was sie da grade auf ihr Essen gesprüht hatte, das war nicht bloß scharf, das war eine scharfe

Waffe!

Sie biss rein. Kaute, schluckte. Und sah dabei in jeder Hinsicht so aus wie jemand, der seine Mahlzeit

genießt.

„Magst mal beißen?“, fragte sie mit Unschuldsmiene.

„Jo“, sagte ich. Ich mag scharfes Essen. Bei den Pakistanis bestell ich immer die Currys, die auf der

Speisekarte mit vier Chilis markiert sind.

Ich pulte etwas mehr Folie ab und biss herzhaft rein.

Böser Fehler.

Kennt ihr das Gefühl, wenn ihr einen großen Haps Rettich oder Wasabi oder so was nehmt und wenn

sich dann die Nebenhöhlen und die Luftröhre gleichzeitig zusammenziehen und sich der ganze Kopf

mit brennend heißer Luft füllt, die durch eure tränenden Augen und Nasenlöcher einen Weg ins Freie

sucht? Dieses Gefühl, als obs gleich aus euren Ohren dampft wie bei einer Zeichentrickfigur?

Das hier war viel schlimmer.

Das hier war so, wie wenn man die Hand auf die heiße Herdplatte legt, außer dass es nicht bloß die

Hand war, sondern die gesamte Innenseite des Kopfes und die Speiseröhre und alles bis runter zum

Magen. Mein ganzer Körper brach in Schweiß aus und ich schnappte verzweifelt nach Luft.

Sie reichte mir kommentarlos meine Horchata, und irgendwie gelang es mir, den Strohhalm in meinen

Mund zu führen und gewaltig zu schlucken, den halben Becher auf einmal.

„Es gibt da diese Skala, die Scoville-Skala, mit der wir Chili-Liebhaber die Schärfe von

Paprikafrüchten beschreiben. Reines Capsaicin hat zirka 15 Millionen Scoville.

Tabasco liegt bei rund

50.000. Pfefferspray hat freundliche drei Millionen. Das Zeug hier hat kümmerliche 200.000, es ist

also in etwa so scharf wie milder Scotch Bonnet Pepper. Ich habe ungefähr ein Jahr gebraucht bis

hierher. Ein paar von den richtig Harten können bis zu einer Million ab, zwanzig Mal schärfer als

Tabasco. Das ist verdammt höllenscharf. Bei solchen Scoville-Graden wird dein Gehirn total mit

Endorphinen geflutet; wirkt auf den Körper berauschender als Hasch. Und gesund ist es auch.“

Allmählich meldeten sich meine Nebenhöhlen zurück, und ich konnte wieder atmen, ohne zu hecheln.

„Ach, und wenn du nächstes Mal pinkeln gehst, wird das noch mal übel brennen“, sagte sie

zwinkernd.

Autsch.

„Du bist wahnsinnig“, sagte ich.

„Große Worte von jemandem, der zum Spaß Laptops baut und wieder verschrottet.“

„Touché,“ sagte ich und fasste mir an die Stirn.

„Magst du noch was?“ Sie hielt mir den Zerstäuber hin.

„Gib rüber“, sagte ich schnell genug, dass wir beide lachen mussten.

Als wir das Restaurant Richtung Dolores Park verließen, legte sie mir den Arm um die Hüfte, und ich

stellte fest, dass sie genau die richtige Größe hatte, dass ich ihr bequem meinen Arm um die Schulter

legen konnte. Das war neu. Ich war nie einer von den Großen gewesen, und die Mädchen, mit denen

ich ging, waren alle genau so groß gewesen wie ich. Mädchen wachsen als Teens schneller als Jungs --

ein fieser Trick der Natur. Das hier war nett. Es fühlte sich gut an.

An der Ecke 20. Straße bogen wir ab Richtung Dolores. Und noch ehe wir einen Schritt getan hatten,

spürten wir schon die Schwingungen, wie das Summen einer Million Bienen zugleich. Unmengen von

Leuten strömten dem Park entgegen, und von hier betrachtet sah er hundert Mal voller aus als vorhin,

bevor ich Ange traf.

Der bloße Anblick brachte mein Blut zum Kochen. Es war eine wundervolle, kühle Nacht, und wir

würden feiern, richtig feiern, feiern, als gäbe es kein Morgen. „Lass uns essen, trinken und fröhlich

sein, denn morgen sterben wir.“

Ohne ein Wort zu sagen, fielen wir in Laufschritt. Wir begegneten massenhaft Polizisten mit ernsten

Gesichtern, aber was würden die schon unternehmen wollen? Es waren unglaublich viele Leute im

Park. Ich bin nicht so gut darin, Massen zu zählen. In den Zeitungen sollten die Veranstalter später

von 20.000 Leuten sprechen, während die Polizei 5000 zählte. Vielleicht waren es also 12.500.

Wie auch immer: Noch nie war ich unter so vielen Menschen gewesen, und hier war ich Teil eines

unangekündigten, unzulässigen, illegalen Events.

Nur einen Augenblick später waren wir mittendrin. Ich würds nicht beschwören wollen, aber ich

glaube, es war wirklich niemand über 25 in dieser Traube von Menschen. Alle lächelten. Ein paar

jüngere Kinder waren dabei, Zehn-, Zwölfjährige, und das empfand ich als beruhigend. Niemand

würde etwas allzu Dummes unternehmen, wenn so junge Kinder in der Menge dabeiwaren. Niemand

würde riskieren wollen, dass Kinder verletzt würden. Diese Nacht würde einfach bloß eine

denkwürdige, festliche Frühlingsnacht werden.

Ich fand, wir sollten uns am besten Richtung Tennisplätze orientieren. Also wühlten wir uns durch die

Menge, und um uns nicht zu verlieren, nahmen wir uns bei den Händen. Um uns nicht zu verlieren,

wäre es natürlich nicht nötig gewesen, unsere Finger ineinander zu verschränken; das war nur zum

Vergnügen. Und es war ein ganz erhebliches Vergnügen.

Die Bands waren alle auf den Tennisplätzen mit ihren Gitarren, Mischpulten, Keyboards und sogar

einem Schlagzeug. Später fand ich im Xnet einen Flickr-Stream davon, wie sie das ganze Zeug

reinschmuggelten, Stück für Stück, in Sporttaschen und unter den Mänteln.

Außerdem gab es

monströse Lautsprecher, die Sorte, wie man sie bei Autoteilehändlern findet, und darunter ein Stapel

von ... Autobatterien! Ich musste lachen. Genial! So also versorgten sie ihre Aufbauten mit Strom. Ich

konnte erkennen, dass es Batterien von einem Hybridwagen waren, von einem Prius. Jemand hatte ein

Ökomobil ausgeweidet, um die nächtliche Unterhaltung mit Energie zu versorgen. Die Stapel von

Batterien gingen außerhalb der Tennisplätze noch weiter; draußen häuften sie sich auch noch am Zaun

entlang, mit dem Hauptstapel mit durchgefädelten Kabeln verbunden. Ich zählte insgesamt 200

Batterien! Gott, das Zeug wog bestimmt auch eine Tonne.

Keine Chance, dass sie das alles ohne E-Mail, Wikis und Mailinglisten hätten organisieren können.

Und unvorstellbar, dass so kluge Leute das alles im öffentlichen Internet gemacht hätten. Das alles

war im Xnet passiert, darauf verwettete ich meine Stiefel.

Erst mal ließen wir uns eine Weile von der Menge hierhin und dorthin treiben, während die Bands

ihre Instrumente stimmten und sich untereinander besprachen. Von weitem sah ich Trudy Doo auf den

Tennisplätzen. Sie sah aus wie in einem Käfig, wie ein Profi-Wrestler. Sie trug ein abgerissenes

Tanktop, und ihr Haar hing in langen, leuchtend pinkfarbenen Dreadlocks bis zur Hüfte. Dazu trug sie

Army-Tarnhosen und riesige Grufti-Stiefel mit Stahlkappen. In diesem Moment nahm sie eine

schwere Motorradjacke, abgegriffen wie ein Catcher-Handschuh, und zog sie über, als seis eine

Rüstung. Obwohl: Wahrscheinlich war es ja auch als Rüstung gedacht.

Ich versuchte ihr zuzuwinken (wohl um Ange zu beeindrucken), aber sie sah mich nicht, und um nicht

weiter bescheuert zu wirken, ließ ichs sein. Die Energie hier in der Menge war schwer beeindruckend.

Man redet ja immer von „Vibes“ und „Energie“, wenn es um große Menschenansammlungen geht,

aber wenn mans noch nicht selbst erlebt hat, hält man es vermutlich nur für eine rhetorische Figur.

Ist es aber nicht. Es ist das Lächeln, ansteckend und groß wie Wassermelonen, auf jedem Gesicht. Wie

jeder Einzelne zu einem unhörbaren Rhythmus hopst und die Schultern wippen.

Der wogende Gang.

Witze, Lachen. Der Klang jeder Stimme, angespannt, aufgeregt, wie ein Feuerwerk, das jeden

Moment gezündet wird. Und du kannst gar nicht anders, als ein Teil davon zu sein. Ist einfach so.

Als die Bands loslegten, war ich von den Massen-Vibes schon komplett zugedröhnt. Der Opener war

eine Art serbischer Turbo-Folk, und ich konnte nicht rauskriegen, wie man dazu tanzen sollte. Ich

kann überhaupt nur zu zweierlei Sorten Musik tanzen: zu Trance (schlurf rum und lass dich von der

Musik bewegen) und zu Punk (spring rum und schüttel die Mähne, bis du verletzt oder ausgepowert

bist oder beides). Der nächste Act waren Oakland-HipHopper mit einer Thrash-Metal-Kombo als

Backup, was besser klingt, als die Beschreibung vermuten lässt. Danach kam etwas Kaugummi-Pop.

Und dann übernahmen die Speedwhores die Bühne, und Trudy Doo trat ans Mikro.

„Mein Name ist Trudy Doo, und ihr seid Idioten, wenn ihr mir traut. Ich bin zweiunddreißig, und für

mich ist der Zug abgefahren. Ich bin fertig. Ich bin noch voll in den alten Ideen drin. Ich betrachte

meine Freiheit immer noch als was Selbstverständliches und erlaube es anderen Leuten, sie mir

wegzunehmen. Ihr seid die erste Generation, die im Gulag Amerika aufwächst, und ihr wisst auf den

letzten gottverdammten Cent genau, was eure Freiheit wert ist!“

Die Menge tobte. Sie huschte ein paar schnelle, nervöse Akkorde auf ihrer Gitarre dahin, und ihre

Bassistin, ein mächtig dickes Mädchen mit ner Dyke-Frisur, noch größeren Stiefeln und einem

Lächeln, das Bierflaschen öffnen konnte, verlegte schon ein reichlich hartes Brett. Mich hielt es nicht

mehr auf den Füßen. Ich hüpfte, und Ange hüpfte mit. Wir schwitzten in der Abendluft, die schon

geschwängert war von Schweiß und Pot-Rauch. Von allen Seiten wurden wir von warmen Leibern

bedrängt, alles hüpfte mit.

„Traut keinem über 25!“, rief sie Wir brüllten, ein einziges riesiges Tier, aus voller Kehle.

„Traut keinem über 25!“

„Traut keinem über 25!“

„Traut keinem über 25!“

„Traut keinem über 25!“

„Traut keinem über 25!“

„Traut keinem über 25!“

Sie schlug auf der Gitarre ein paar harte Akkorde an, und die zweite Gitarristin, eine Elfe mit heftig

gepierctem Gesicht, fiel ein, in schwindelerregenden Höhen, über den zwölften Bund raus.

„Das hier ist unsere verdammte Stadt! Es ist unser verdammtes Land. Und kein Terrorist kann es uns

wegnehmen, so lange wir nur frei sind. Sobald wir nicht mehr frei sind, gewinnen die Terroristen!

Holt es euch zurück! Holt es euch zurück! Ihr seid jung genug und dumm genug, um noch nicht zu

wissen, dass ihr eigentlich keine Chance habt, also seid ihr die einzigen, die uns noch zum Sieg führen

können! Holt es euch zurück!“

„HOLT ES EUCH ZURÜCK!“, brüllten wir. Sie drosch hart auf ihre Saiten ein.

Wir nahmen die Note

grölend auf, und dann wurde es richtig, richtig LAUT.

Ich tanzte, bis ich vor Müdigkeit keinen Schritt mehr machen konnte, und Ange tanzte neben mir.

Rein technisch gesehen rieben wir stundenlang unsere schwitzenden Leiber aneinander, aber glaubt es

oder lasst es bleiben, es törnte mich nicht an. Wir tanzten bloß, wir verloren uns in den Beats und dem

Soundgeprügel und dem Schreien -- HOLT ES EUCH ZURÜCK! HOLT ES

EUCH ZURÜCK!

Als ich nicht mehr tanzen konnte, griff ich nach ihrer Hand, und sie drückte meine, als ob ich sie

davon abhalten müsse, von einem Hausdach zu fallen. Sie zog mich aus der Masse raus, wo es luftiger

und kühler wurde. Da draußen, im Randbereich von Dolores Park, waren wir der kühlen Luft

ausgesetzt, und der Schweiß auf unseren Körpern wurde sofort eiskalt. Wir zitterten, und sie schlang

ihre Arme um meine Hüfte. „Wärm mich“, forderte sie.

Ich brauchte keine weiteren Hinweise und umarmte sie auch. Ihr Herzschlag war ein Echo der

rasenden Beats auf der Bühne -- Breakbeats jetzt ohne Gesang, schnell und aggressiv.

Sie roch nach Schweiß, ein scharfer, überwältigender Geruch. Ich wusste, ich roch auch nach

Schweiß. Meine Nase war in ihrem Haar vergraben, ihr Gesicht an meinem Schlüsselbein. Ihre Hände

wanderten in meinen Nacken und zogen an mir.

„Komm hier runter, ich hab keine Trittleiter dabei“, sagte sie, und ich versuchte zu lächeln, aber

Lächeln ist schwierig, wenn man gleichzeitig küsst.

Ich erwähnte bereits, dass ich in meinem Leben bislang drei Mädchen geküsst hatte. Zwei von ihnen

hatten vorher noch niemanden geküsst. Eine hatte feste Freunde, seit sie zwölf war, und die hatte so

ihre Eigenarten.

Keine von ihnen küsste wie Ange. Sie machte ihren gesamten Mund weich wie das Innere einer reifen

Frucht, und sie rammte mir ihre Zunge nicht einfach in den Mund, sondern ließ sie reingleiten, und

gleichzeitig saugte sie meine Lippen in ihren Mund, und es war, als ob mein Mund und ihrer

ineinander verschmolzen. Ich hörte mich selbst stöhnen und packte sie und umarmte sie fester.

Langsam, ganz langsam ließen wir uns ins Gras sinken. Und dann lagen wir auf der Seite und

umarmten einander, küssten und küssten und küssten. Die ganze Welt verschwand hinter diesem einen

Kuss.

Meine Hände fanden ihren Po, ihre Hüften. Den Saum ihres T-Shirts. Ihren warmen Bauch, den

weichen Nabel. Sie bewegten sich langsam höher. Sie stöhnte ebenfalls.

„Nicht hier“, sagte sie. „Lass uns da rüber gehen.“ Sie zeigte über die Straße hinweg auf die große

weiße Kirche, die Mission Dolores Park und der Mission den Namen gab.

Händchenhaltend eilten wir

rüber zur Kirche. Vor dem Eingang standen einige Pfeiler. Sie presste mich mit dem Rücken gegen

einen davon und zog mein Gesicht wieder zu sich herunter. Meine Hände wanderten schnell und

mutig zurück zu ihrem T-Shirt und dort immer höher.

„Er geht hinten auf“, flüsterte sie in meinen Mund. Mit meiner Latte hätte ich mittlerweile Glas

schneiden können. Meine Hände wanderten weiter zu ihrem breiten, kräftigen Rücken, und mit

zitternden Fingern fand ich das Häkchen. Ich fummelte eine Weile und dachte dabei an all die Witze

darüber, wie schlecht Jungs darin sind, Bhs zu öffnen. Ich war schlecht darin.

Dann plötzlich ging das

Häkchen auf. Sie keuchte in meinen Mund. Ich zog meine Hände wieder nach vorn, spürte die

Feuchtigkeit unter ihren Achseln (was ich sexy fand und merkwürdigerweise kein Stück abstoßend)

und streichelte die Seiten ihrer Brüste.

In diesem Moment begannen die Sirenen zu heulen.

Sie waren lauter als alles, was ich jemals gehört hatte. Ein Lärm, der im ganzen Körper zu spüren war,

als ob dich plötzlich jemand von den Füßen reißt. Ein Lärm so laut, wie ihn deine Ohren nur

verarbeiten können, und noch lauter.

„ENTFERNEN SIE SICH SOFORT VON HIER!“ donnerte die Stimme Gottes in meinem Schädel.

„DIES IST EINE ILLEGALE VERSAMMLUNG. ENTFERNEN SIE SICH

SOFORT!“ Die Band

hatte aufgehört zu spielen, und die Geräusche der Menge auf der anderen Straßenseite änderten sich.

Sie wurde ängstlich. Und wütend.

Ich hörte ein Klicken, als die PA-Anlage aus Autoboxen und Autobatterien auf den Tennisplätzen

eingeschaltet wurde.

„HOLT ES EUCH ZURÜCK!“

Es war ein lauter, trotziger Schrei, ein Schrei wie in die Brandung oder von einer Klippe herab.

„HOLT ES EUCH ZURÜCK!“

Die Masse grummelte, ein Klang, der mir die Nackenhaare sträubte.

„HOLT ES EUCH ZURÜCK!“, skandierten sie. „HOLT ES EUCH ZURÜCK

HOLT ES EUCH

ZURÜCK HOLT ES EUCH ZURÜCK!“

Die Polizei rückte in Reihen an, hinter Plastikschilden, unter Darth-Vader-Helmen, die die Gesichter

bedeckten. Jeder hatte einen schwarzen Gummiknüppel und eine Infrarot-Nachtsichtbrille. Sie sahen

aus wie Soldaten in einem futuristischen Kriegsfilm. Alle zusammen machten einen Schritt vorwärts,

und jeder hieb seinen Knüppel gegen seinen Schild -- ein Krachen, als ob die Erde splitterte. Noch ein

Schritt, noch ein Krachen. Sie hatten den gesamten Park umstellt und zogen den Belagerungsring jetzt

zu.

„ENTFERNEN SIE SICH SOFORT VON HIER“, sagte die Stimme Gottes noch einmal. Plötzlich

waren Helikopter über uns. Aber ohne Suchscheinwerfer. Infrarotbrillen, klar.

Die würden da oben

auch Nachtsichtgeräte haben. Ich zog Ange zurück zur Kirchentür, aus dem Sichtfeld der Bullen und

der Helis.

„HOLT ES EUCH ZURÜCK!“, donnerte die PA. Das war Trudy Doos Rebellenschrei, und ich konnte

hören, wie sie auf der Gitarre ein paar Akkorde rausprügelte, dann der Schlagzeuger dazu, dann der

riesige, tiefe Bass.

„HOLT ES EUCH ZURÜCK!“, antwortete die Menge, und dann schwappte die Woge aus dem Park

heraus und den Gefechtsreihen der Polizei entgegen.

Ich war noch nie im Krieg, aber jetzt glaube ich zu wissen, wie das ist. Wie es sich anfühlen muss,

wenn verängstigte Kids über eine Wiese rennen, um sich einer gegnerischen Macht

entgegenzuwerfen, wohl wissend, was kommen muss, und trotzdem rennen sie, brüllen und heulen.

„ENTFERNEN SIE SICH SOFORT VON HIER“, sagte die Stimme Gottes. Sie

kam von Trucks, die

rund um den Park abgestellt waren, Trucks, die dort in den letzten paar Sekunden postiert worden

waren.

Und dann fiel der Nebel vom Himmel. Er kam aus den Helikoptern, und er erwischte uns nur grade

eben noch. Ich dachte, mir sprengts die Schädeldecke weg und meine Nasenhöhlen werden mit

Eispickeln perforiert. Meine Augen schwollen und tränten, meine Kehle zog sich zusammen.

Pfefferspray. Nicht bloß 200.000 Scoville. Eineinhalb Millionen. Die hatten die Masse begast.

Ich konnte nicht sehen, was das passierte, aber ich konnte es hören, über Anges und mein Husten

hinweg, während wir einander festhielten. Erst die erstickten, würgenden Geräusche. Gitarre, Drums

und Bass kamen abrupt zum Schweigen. Dann Husten.

Dann Schreien.

Das Schreien dauerte entsetzlich lange. Als ich wieder sehen konnte, hatten die Bullen ihre Brillen

hochgeschoben, und die Helis fluteten Dolores Park mit so viel Scheinwerferlicht, dass es aussah wie

am hellichten Tag. Jeder schaute in Richtung Park, und das war gut für uns, denn als die Lichter

angingen, da waren auch wir perfekt sichtbar.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Ange mit belegter, furchtsamer Stimme. Für

einen Augenblick war

ich nicht sicher, ob ich meiner eigenen Stimme schon wieder trauen könnte, und schluckte ein paar

Mal.

„Wir gehen jetzt weg“, sagte ich dann. „Was anderes bleibt uns nicht übrig.

Weggehen, als ob wir hier

bloß vorbeigekommen sind. Dolores runter und dann hoch zur Sechzehnten. Als ob wir bloß

vorbeigekommen sind und uns das alles hier nichts angeht.“

„Das klappt nie“, sagte sie.

„Mehr fällt mir nicht ein.“

„Denkst du nicht, wir sollten lieber rennen?“

„Nein. Wenn wir rennen, dann jagen sie uns. Aber wenn wir gehen, denken sie vielleicht, dass wir

nichts getan haben, und lassen uns in Ruhe. Die haben mit ihren Verhaftungen hier genug zu tun, um

sich ne Weile zu beschäftigen.“

Im Park wälzten die Leute sich auf dem Boden, hielten sich die Hände vors Gesicht und schnappten

nach Luft. Die Bullen packten sie unter den Achseln und zogen sie raus, dann fesselten sie die

Handgelenke mit Plastikhandschellen und schubsten sie in die Trucks, als seien es Stoffpuppen.

„OK?“, fragte ich.

„OK.“

Und genau so machten wirs. Wir gingen händchenhaltend, flott und zielstrebig davon, wie zwei Leute,

die bemüht waren, sich aus dem Ärger anderer Leute rauszuhalten. Die Sorte Gang, in die man

verfällt, wenn man so tut, als ob man den Schnorrer nicht sieht, oder einem Straßenkampf aus dem

Weg gehen will.

Es klappte.

Wir erreichten die Ecke, bogen ab und gingen weiter. Zwei Blocks weit traute sich keiner von uns zu

sprechen. Dann ließ ich einen Atemzug raus, von dem ich gar nicht wusste, dass ich ihn schon so

lange angehalten hatte.

Dann kamen wir zur 16ten Straße und bogen ab Richtung Mission Street.

Normalerweise ist das

samstagnachts um zwei eine ziemlich beängstigende Gegend. In dieser Nacht war es eine

Offenbarung -- dieselben alten Junkies, Nutten, Dealer und Besoffskis wie immer. Keine Bullen mit

Knüppeln, kein Gas.

„Hm“, sagte ich, Nachtluft einsaugend. „Kaffee?“

„Nach Hause“, erwiderte sie. „Ja, ich glaube, nach Hause jetzt. Kaffee später.“

„Gut.“ Sie wohnte oben in Hayes Valley. Ich sah ein Taxi vorbeifahren und winkte es ran. Das war

ein kleines Wunder -- wenn man in San Francisco ein Taxi braucht, ist normalerweise kaum eins zu

kriegen.

„Hast du genug Taxigeld für nach Hause?“

„Ja“, sagte sie. Der Taxifahrer beäugte uns durch die Seitenscheibe. Ich öffnete schon mal die

Fondtür, um ihn davon abzuhalten, gleich wieder loszufahren.

„Gute Nacht“, sagte ich.

Sie griff um meinen Kopf herum und zog mein Gesicht zu sich heran. Dann küsste sie mich hart auf

den Mund, nichts Sexuelles darin, aber vielleicht grade deswegen um so intimer.

„Gute Nacht“, flüsterte sie mir ins Ohr und verschwand im Taxi.

Mit dumpfem Schädel, tränenden Augen und einem brennenden Schamgefühl, weil ich all diese

Xnetter zurückgelassen hatte, der Gnade oder Ungnade von DHS und SFPD

ausgeliefert, machte ich

mich auf den Weg nach Hause.

Am Montagmorgen stand Fred Benson hinter Ms. Galvez‘ Schreibtisch. „Ms.

Galvez wird diese

Klasse nicht länger unterrichten“, sagte er, kaum dass wir uns gesetzt hatten. Er hatte diese

selbstgefällige Miene aufgesetzt, die ich sofort erkannte. Einer Ahnung folgend schaute ich zu Charles

rüber. Er grinste, als sei heute sein Geburtstag und er hätte das schönste Geschenk der Welt

bekommen.

Ich hob die Hand.

„Warum nicht?“

„Es gehört zu den Prinzipien der Schulbehörde, die Belange der Angestellten mit niemandem außer

dem Angestellten selbst und dem Disziplinarkomitee zu besprechen“, sagte er und gab sich dabei

nicht mal Mühe zu verbergen, welche Genugtuung es ihm bereitete, das zu sagen.

„Wir beginnen heute mit einer neuen Unterrichtseinheit zur nationalen Sicherheit. Ihre SchulBooks

haben die neuen Texte. Bitte öffnen Sie sie und rufen sie den ersten Bildschirm auf.“

Auf dem Startbildschirm prangte ein DHS-Logo nebst Titel „WAS JEDER

AMERIKANER ÜBER

HEIMATSCHUTZ WISSEN SOLLTE“.

Am liebsten hätte ich mein SchulBook auf den Boden gepfeffert.

Kapitel 13

Dieses Kapitel ist Books-A-Million gewidmet, einer Kette riesiger Buchläden überall in den USA. Mit Books-A-Million bin ich zum ersten Mal in Berührung gekommen, als ich in einem Hotel in Terre Haute, Indiana wohnte (an diesem Tag sollte ich

eine Rede im Rose Hulman Institute of Technology halten). Der Laden war ganz in der Nähe des Hotels, und ich brauchte

dringend was zu lesen -- Ich war schon einen ganzen Monat auf Achse gewesen, hatte alle Bücher in meinem Koffer durch

und noch fünf weitere Städte auf dem Reiseplan, bevor ich wieder nach Hause

konnte. Und während ich eifrig durch die Regale schaute, fragte mich eine Angestellte, ob ich Hilfe benötige. Ich habe selbst schon in Buchläden gearbeitet, und

Buchhändler mit Erfahrung sind ihr Gewicht in Gold wert; also sagte ich ja und fing an, meinen Geschmack und meine

Lieblingsautoren zu beschreiben. Die Angestellte lächelte und sagte, „da habe ich genau das richtige Buch für Sie“, und

dann brachte sie mir meinen ersten Roman, „Down and Out in the Magic Kingdom“. Ich brach in Gelächter aus, stellte mich vor, und wir hatten eine ganz wunderbare Plauderei über Science Fiction, die mich fast davon abhielt, rechtzeitig zu meiner Rede zu kommen!

Books-A-Million http://www.booksamillion.com/ncom/books?

&isbn=0765319853

ie sind ja absolute Huren“, sagte Ange, wobei sie das Wort geradezu ausspuckte.

„Nein, das wär

ja eine Beleidigung aller hart arbeitenden Huren. Die -- die sind Profiteure.“ D

Wir blätterten einen Stapel Zeitungen durch, die wir ins Café mitgebracht hatten.

Sie hatten alle

„Berichterstattung“ über die Party in Dolores Park, und ausnahmslos stellten sies so dar, als sei es

eine Orgie betrunkener, bekiffter Kiddies gewesen, die die Polizei angegriffen hatten. USA Today

schrieb über die Kosten der „Ausschreitungen“ und vergaß dabei nicht aufzurechnen, was es kosten

würde, die Rückstände des Pfefferspray-Bombardements zu beseitigen, was der

Anstieg an Asthma-

Attacken, die die städtischen Notaufnahmen verstopft hatten, und was die Behandlung der

achthundert festgenommenen „Randalierer“.

Niemand erzählte es aus unserer Sicht.

„Na ja, zumindest im Xnet steht es richtig“, sagte ich. Ich hatte einige Blogeinträge, Videos und

Fotostreams auf meinem Handy gespeichert und zeigte sie ihr. Darunter waren Erfahrungsberichte

von Leuten, die vom Gas erwischt worden waren, und von solchen, die man verprügelt hatte. Auf dem

Video sah man uns alle tanzen und Spaß haben, man sah die friedlichen politischen Ansprachen und

den Chorus von „Holt es euch zurück“, man sah Trudy Doo darüber sprechen, dass wir die einzige

Generation sei, die noch daran glauben könne, für unsere Freiheiten zu kämpfen.

„Wir müssen das den Menschen zeigen“, sagte sie.

„Ja“, sagte ich finster. „Hübsche Theorie.“

„Warum meinst du denn, dass die Presse unseren Standpunkt nicht veröffentlichen würde?“

„Du hast doch selbst gesagt, es sind Huren.“

„Ja, aber Huren machens für Geld. Wenn sie eine richtige Kontroverse hätten, könnten sie mehr

Zeitungen und mehr Anzeigen verkaufen. Was sie bis jetzt haben, ist bloß ein Verbrechen; eine

Kontroverse ist das viel größere Thema.“

„Okay, so weit, so gut. Aber warum machen sies dann nicht? Na ja, Reporter finden sich ja schon

kaum in normalen Blogs zurecht, wie sollen die dann auch noch das Xnet finden? Ist ja auch nicht

wirklich ein erwachsenenfreundlicher Ort.“

„Stimmt. Aber das lässt sich doch ändern, oder?“

„Ach ja?“

„Schreib es alles auf. Tu es alles auf eine Seite, mit allen Links. Eine einzige Site, extra für die Presse,

wo sie sich ein vollständiges Bild machen kann. Verlink die noch mit den How-Tos für das Xnet.

Normale Internet-Surfer kommen ja auch ins Xnet, solange es ihnen egal ist, dass das DHS

mitbekommt, was sie da besuchen.“

„Und du meinst, das kann klappen?“

„Und wenn nicht, dann haben wir es zumindest versucht.“

„Warum sollten sie uns schon zuhören?“

„Wer würde denn M1k3y nicht zuhören?“

Ich stellte meinen Kaffee ab. Ich nahm mein Handy und steckte es in die Tasche.

Ich stand auf, drehte

mich auf dem Absatz um und verließ das Café. Ich suchte mir keine bestimmte Richtung aus und ging

einfach nur los. Mein Gesicht fühlte sich wie erstarrt an, und mein Magen rebellierte.

Die wissen, wer du bist, dachte ich. Die wissen, wer M1k3y ist. Die Sache war gelaufen. Wenn Ange

es rausgefunden hatte, dann das DHS ja wohl erst recht. Ich war geliefert. Ich hatte es von dem

Moment an gewusst, in dem ich aus dem DHS-Truck aussteigen durfte: Eines Tages würden sie

kommen, um mich zu holen und mich für immer verschwinden zu lassen, dort, wo sie auch Darryl

hatten verschwinden lassen.

Alles war aus.

Auf Höhe Market Street rannte sie mich fast um. Sie war außer Atem und sah ziemlich wütend aus.

„Was zum Teufel ist ihr Problem, mein Herr?“

Ich schüttelte sie ab und ging weiter. Alles war aus.

Sie packte mich wieder. „Hör auf damit, Marcus, du machst mir Angst. Komm schon, sprich mit mir.“

Ich hielt an und schaute sie an. Sie verschwamm vor meinen Augen. Ich sah alles nur unscharf. Und

ich hatte diesen wahnsinnigen Drang, mich einfach vor die Straßenbahn zu werfen, die grade an uns

vorbeiratterte, hier, mitten auf der Straße. Lieber sterben als noch mal dorthin zurück.

„Marcus!“ Sie tat etwas, was ich bisher nur aus Filmen kannte: Sie haute mir eine runter, und zwar

hart ins Gesicht. „Sprich mit mir, verdammtnochmal!“

Ich sah sie an und befühlte mein Gesicht, das brannte wie Hölle.

„Niemand darf wissen, wer ich bin“, sagte ich. „Ich kanns nicht anders sagen.

Wenn du es weißt, dann

ist es vorbei. Sobald andere Leute es wissen, ist es gelaufen.“

„Oh Gott, es tut mir Leid. Hey, ich weiß das bloß, weil, also, ich hab Jolu erpresst. Nach der Party hab

ich dir ein bisschen hinterhergeschnüffelt, um rauszukriegen, ob du wirklich so nett bist, wie du

wirkst, oder vielleicht doch ein heimlicher Serienkiller. Jolu kenn ich schon ewig, und als ich ihn über

dich ausgefragt habe, da hat er von dir geschwärmt, als wärst du der nächste Messias oder so; aber ich

hab gemerkt, dass da immer noch was war, womit er nicht rausrücken wollte. Ich kenn ihn also schon

ewig; und er war mal im Computer-Camp hinter meiner älteren Schwester her, als er nochn Kind war.

Ich weiß ein paar ziemlich schmutzige Sachen über ihn. Und ich hab ihm gesagt, ich würde die in der

Welt rumposaunen, wenn er mir nicht alles erzählt.“

„Und dann hat ers dir erzählt.“

„Nein“, sagte sie. „Er meinte, ich könne mich mal gehackt legen. Dann hab ich ihm also was über

mich erzählt. Etwas, was ich überhaupt noch niemandem erzählt habe.“

„Was denn?“

Sie schaute mich an. Blickte sich um, blickte wieder zu mir. „Okay, ich lass dich jetzt nicht

Verschwiegenheit schwören; was solls? Entweder ich kann dir trauen oder nicht.

Letztes Jahr hab ...“ Sie stockte. „Letztes Jahr hab ich die standardisierten Tests geklaut und im

Internet veröffentlicht. War eigentlich nur zum Spaß. Ich kam zufällig am Büro des Schulleiters

vorbei und sah sie im Safe, und die Tür war offen. Ich bin also reingehuscht -- da waren sechs

Exemplare, und ich hab mir eins davon in die Tasche gesteckt und bin wieder raus. Daheim hab ich

sie gescannt und auf einem Piratenpartei-Server in Dänemark veröffentlicht.“

„Du warst das?“

Sie errötete. „Hm, ja.“

„Heilige Scheiße!“ Das war wirklich ne dolle Sache gewesen. Das Erziehungsministerium sagte

damals, dass es etliche Millionen Dollar gekostet habe, ihre „Kein Kind wird zurückgelassen“-Tests

produzieren zu lassen, und dass sie jetzt nach dem Leck gleich noch mal dieselbe Summe ausgeben

müssten. Sie sprachen von „Bildungsterrorismus“, und in den Nachrichten wurde spekuliert ohne

Ende über die politischen Motive des Täters; man fragte sich, ob es ein Lehrerprotest war, ein Schüler,

ein Dieb oder ein unzufriedener Behördenmitarbeiter.

„DU warst das?“

„Ich war das.“

„Und du hast es Jolu erzählt ...“

„Weil ich ihm zeigen wollte, dass er sich drauf verlassen kann, dass ich das Geheimnis für mich

behalte. Wenn er mein Geheimnis kennt, dann hat er was gegen mich in der Hand, das mich ins

Gefängnis bringen würde, falls ich meine Falle öffne. Bisschen geben, bisschen nehmen. Quid pro

quo, wie in Schweigen der Lämmer.“

„Und dann hat er es dir erzählt.“

„Nein, hat er nicht.“

„Aber ...“

„Dann hab ich ihm erzählt, wie total verknallt ich in dich bin und dass ich bereit wär, mich völlig zum

Depp zu machen, nur um dich zu kriegen. Dann hat er es mir erzählt.“

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und guckte meine Zehen an. Sie nahm meine Hände und

drückte sie.

„Es tut mir Leid, dass ich es aus ihm rausgepresst habe. Es wäre deine Entscheidung gewesen, es mir

zu erzählen oder eben nicht. Es stand mir nicht zu ...“

„Nein“, sagte ich. Jetzt, da ich wusste, wie sies erfahren hatte, beruhigte ich mich langsam wieder.

„Nein, es ist gut, dass du es weißt. Du.“

„Ich“, sagte sie. „Ich dummes kleines Ding.“

„Okay, ich kann damit leben. Aber da ist noch eine Sache.“

„Was?“

„Keine Ahnung, wie ich es sagen soll, ohne wie ein kompletter Idiot zu klingen, aber ... egal. Also:

Wenn Leute zusammen sind, oder wie immer man das nennen soll mit uns, dann trennen sie sich

manchmal. Und wenn sie sich trennen, dann sind sie böse aufeinander.

Manchmal hassen sie sich

sogar. Eigentlich zu finster, auch nur drüber nachzudenken bei dir und mir, aber weißt du, wir müssen

drüber nachdenken.“

„Ich verspreche hoch und heilig, dass nichts, was du jemals tun könntest, mich dazu bringen könnte,

dein Geheimnis zu verraten. Nichts. Vögel ein Dutzend Cheerleader in meinem Bett, während meine

Mutter zuschaut. Zwing mich, Britney Spears zu hören. Zerleg meinen Laptop, hau ihn mit Hämmern

zu Brei und weich ihn in Meerwasser ein. Ich verspreche es dir. Nichts, niemals.“

Ich atmete sehr tief aus.

„Hm.“

„Jetzt wäre ein guter Moment, mich zu küssen“, sagte sie und wandte mir ihr Gesicht entgegen.

M1k3ys nächstes großes Xnet-Projekt war die ultimative Zusammenstellung von Berichten über die

Trau-Keinem-Party in Dolores Park. Ich machte daraus die größte und

rattenschärfste Website, die mir nur möglich war, die gesamte Action aufgeschlüsselt nach Orten, nach Zeit, nach Kategorien --

Polizeigewalt, Tanzen, Nachwirkungen, Gesang. Dazu lud ich das komplette Konzert hoch.

Das war so ziemlich alles, was ich den Rest der Nacht machte. Und die nächste Nacht. Und die

übernächste.

Meine Mailbox quoll über mit Anregungen von Anderen, die mir Aufzeichnungen aus ihren Handys

und ihren Kompaktkameras zusandten. Dann bekam ich eine E-Mail von jemandem, dessen Namen

ich kannte -- Dr. Eeevil (mit drei „E“), einem der führenden Köpfe hinter ParanoidLinux.

M1k3y

Ich habe dein Xnet-Experiment sehr interessiert verfolgt. Hier in Deutschland haben wir eine

Menge Erfahrung damit, was passiert, wenn Regierungen außer Kontrolle geraten.

Eine Sache solltest du wissen: Jede Kamera hat eine einzigartige „Rausch-Signatur“, die man

später dazu verwenden kann, ein Bild einer bestimmten Kamera zuzuordnen.

Das bedeutet, dass

Fotos, die du auf deiner Site veröffentlichst, möglicherweise dazu benutzt werden können, ihre

Fotografen zu identifizieren, falls sie später mal wegen was anderem

hochgenommen werden.

Es ist zum Glück nicht schwer, die Signaturen zu entfernen, wenn du dir die Mühe machen willst. In

der ParanoidLinux-Distro, die du benutzt, gibt es dafür ein Tool. Es heißt photonomous, und es steckt

in /usr/bin. Lies einfach die Hilfeseiten als Anleitung. Ist aber eigentlich simpel.

Viel Glück bei dem, was du da tust. Lass dich nicht schnappen. Bleib frei.

Bleib paranoid.

Dr Eeevil

Ich beseitigte die Signaturen von allen Fotos, die ich gepostet hatte, und lud sie dann wieder hoch,

zusammen mit einem Bericht darüber, was Dr. Eeevil mir erzählt hatte, und der dringenden Bitte an

alle anderen, es genauso zu machen, um all unsere Fotos zu anonymisieren. Mit den Fotos, die schon

runtergeladen und gespeichert waren, konnten wir nichts mehr machen, aber von jetzt an würden wir

schlauer sein.

Weiter dachte ich in dieser Nacht nicht über die Sache nach, bis ich am nächsten Morgen zum

Frühstück runterkam und Mom das Radio anhatte, wo die NPR-Morgennachrichten liefen.

„Die arabische Nachrichtenagentur Al-Dschassira verbreitet Fotos, Videos und Augenzeugenberichte

vom Jugendaufstand am vorigen Wochenende in Mission Dolores Park“, sagte der Sprecher, während

ich grade ein Glas Orangensaft trank. Irgendwie schaffte ich es, ihn nicht über den ganzen Raum zu

versprühen, aber ein bisschen verschluckte ich mich dann doch.

„Al-Dschassira-Reporter geben an, dass diese Berichte im so genannten ‚Xnet‘

veröffentlicht wurden,

einem Untergrund-Netzwerk von Studenten und Al-Kaida-Sympathisanten in der Bay Area. Über die

Existenz dieses Netzwerks wurde schon lange spekuliert, doch der heutige Tag markiert seine

erstmalige Erwähnung in Massenmedien.“

Mom schüttelte den Kopf. „Das fehlte uns noch. Als ob die Polizei nicht schon schlimm genug wäre.

Kids, die rumrennen und glauben, eine Guerilla-Armee zu sein, geben denen doch bloß einen

Vorwand, noch härter zuzuschlagen.“

„Die Weblogs im Xnet sind voll mit Hunderten von Berichten und Multimedia-Dateien junger

Menschen, die bei dem Aufruhr dabeiwaren und behaupten, es sei eine friedfertige Versammlung

gewesen, bis die Polizei sie angegriffen habe. Hier ist einer dieser Berichte:

‚Alles, was wir machten, war tanzen. Ich hatte meinen kleinen Bruder mitgebracht. Bands spielten,

und wir redeten über Freiheit und darüber, dass wir auf dem besten Weg sind, sie an diese Idioten zu

verlieren, die behaupten, Terroristen zu hassen, aber uns dann angreifen, als ob wir Terroristen sind

und nicht Amerikaner. Ich glaube, die hassen die Freiheit, nicht uns.

Wir haben getanzt, und die Bands spielten, und alles war lustig und einfach toll, und dann brüllten

die Polizisten uns an, wir sollten auseinandergehen. Wir schrien alle, holt es euch zurück!, und damit

meinten wir, holt euch Amerika zurück. Die Polizei hat uns mit Pfefferspray angegriffen. Mein kleiner

Bruder ist zwölf, der konnte drei Tage lang nicht in die Schule gehen. Meine dämlichen Eltern

behaupten, das sei meine Schuld. Und was ist mit der Polizei? Wir bezahlen die dafür, uns zu

beschützen,aber die haben uns ohne Grund mit Pfefferspray begast, als ob wir feindliche Soldaten

seien.‘

Ähnliche Berichte, einschließlich Video und Audio, können Sie auf Al-Dschassiras Website und im

Xnet finden. Wie Sie dieses Xnet erreichen, erfahren Sie auf der Homepage von NPR.“

Dad kam runter.

„Benutzt du das Xnet?“, wollte er wissen. Er blickte mir eindringlich ins Gesicht. Mir wurde übel.

„Das ist für Computerspiele“, sagte ich. „Jedenfalls benutzen die meisten Leute es dafür. Es ist bloß

ein drahtloses Netzwerk. Das hat jeder mal ausprobiert, als sie letztes Jahr diese Xboxen verschenkt

haben.“

Er sah mich finster an. „Spiele? Marcus, du scheinst nicht zu begreifen, dass du damit Leuten eine

Tarnung verschaffst, die dieses Land angreifen und zerstören wollen. Ich möchte nicht, dass du dieses

Xnet noch ein Mal benutzt. Nie wieder. Haben wir uns verstanden?“

Ich wollte diskutieren. Ach verdammt, ich wollte ihn an den Schultern packen und schütteln. Aber ich

ließ es sein. Ich sagte „Na klar, Dad“ und verschwand in die Schule.

Zuerst war ich erleichtert, als ich merkte, dass Fred Benson nicht dauerhaft für meinen

Gesellschaftskunde-Kurs zuständig war. Aber die Frau, die ihn ersetzen sollte, war mein schlimmster

Alptraum.

Sie war jung, vielleicht 28 oder 29, und auf so eine gesunde Weise hübsch. Sie war blond und ließ

einen leichten Südstaaten-Akzent durchschimmern, als sie sich bei uns als Mrs.

Andersen vorstellte.

Das ließ bei mir sofort die Alarmglocken klingeln: Ich kannte keine Frau unter sechzig, die sich selbst

„Mrs.“ nannte.

Aber darüber wollte ich hinwegsehen. Sie war jung, hübsch und klang nett. Sie würde schon okay

sein.

Sie war nicht okay.

„Unter welchen Umständen sollte die Regierung bereit sein, die Bill of Rights

außer Kraft zu

setzen?“, fragte sie und drehte sich dabei an die Tafel, um die Zahlen von eins bis zehn

untereinanderzuschreiben.

„Gar nicht“, sagte ich, ohne abzuwarten, dass sie mich aufrief. Das war ja wohl leicht.

„Verfassungsrechte sind absolut.“

„Das ist keine sonderlich fortschrittliche Ansicht.“ Sie schaute auf ihren Sitzplan. „Marcus. Nimm

zum Beispiel einen Polizisten, der eine unzulässige Durchsuchung durchführt und dabei seine

Befugnisse überschreitet. Dabei stößt er auf erdrückende Beweise, dass ein Krimineller deinen Vater

getötet hat. Diese Beweise sind die einzigen, die existieren. Sollte der Kriminelle ungeschoren

davonkommen?“

Ich wusste, wie die Antwort lauten musste, aber ich konnte es nicht recht erklären. „Ja“, sagte ich

schließlich. „Aber die Polizei sollte keine unzulässigen Durchsuchungen durchführen ...“

„Falsch. Die richtige Reaktion auf polizeiliches Fehlverhalten sind Disziplinarmaßnahmen, aber es

wäre falsch, die ganze Gesellschaft für das Fehlverhalten eines einzelnen Polizisten zu bestrafen.“ Sie

schrieb „Verbrecherische Schuld“ unter Punkt eins an die Tafel.

„Andere Anlässe, bei denen die Bill of Rights ersetzt werden kann?“

Charles hob die Hand. „In einem überfüllten Theater Feuer schreien?“

„Sehr gut, ...“ -- sie konsultierte den Sitzplan -- „Charles. Es gibt viele Umstände, unter denen das First

Amendment keine absolute Gültigkeit hat. Lasst uns noch ein paar davon zusammentragen.“

Charles hob die Hand noch mal. „Einen Exekutivbeamten in Gefahr bringen.“

„Ja, die Identität eines verdeckten Ermittlers oder Geheimdienstlers offenlegen.

Sehr gut.“ Sie schrieb

es auf. „Noch etwas?“

„Nationale Sicherheit“, sagte Charles, ohne nochmals aufs Aufrufen zu warten.

„Verleumdung.

Obszönität. Missbrauch Minderjähriger. Kinderpornografie.

Bombenbauanleitungen.“

Mrs. Andersen schrieb zügig mit, hielt aber bei Kinderpornografie inne.

„Kinderpornografie ist nur

eine Unterart von Obszönität.“

Mir wurde langsam schlecht. Das war nicht das, was ich über mein Land gelernt hatte oder woran ich

glaubte. Ich hob die Hand.

„Ja, Marcus?“

„Ich verstehe das nicht. Wie Sie es sagen, klingt das, als ob die Bill of Rights optional wäre. Aber es

ist die Verfassung. Und der sollen wir uneingeschränkt Folge leisten.“

„Das ist eine verbreitete Übervereinfachung“, sagte sie mit aufgesetztem Lächeln. „Tatsache ist, dass

die Gestalter der Verfassung sie als ein lebendiges Dokument verstanden, das durchaus im Lauf der

Zeit revidiert werden sollte. Ihnen war klar, dass die Republik keinen dauerhaften Bestand haben

konnte, wenn die jeweilige Regierung nicht den jeweiligen Bedürfnissen entsprechend regieren

konnte. Sie hatten nicht vorgesehen, dass man an die Verfassung glauben solle wie an eine religiöse

Doktrin. Immerhin waren sie auf der Flucht vor religiöser Doktrin hierher gekommen.“

Ich schüttelte den Kopf. „Was? Nein. Sie waren Kaufleute und Handwerker, und sie waren dem König

so lange loyal verbunden, bis er Gesetze erließ, die ihren Interessen zuwiederliefen, und sie mit

Gewalt durchzusetzen versuchte. Die religiösen Flüchtlinge waren schon viel früher.“

„Einige der Framer5 stammten von religiösen Flüchtlingen ab“, sagte sie.

„Und die Bill of Rights ist doch nicht etwas, aus dem man sich nach Belieben rauspicken kann, was

man möchte. Die Framer hassten Tyrannei. Und genau das soll die Bill of Rights verhindern. Sie

waren eine Revolutionsarmee, und sie wollten ein Regelwerk, dem jeder zustimmen konnte. Leben,

Freiheit und das Streben nach Glück. Das Recht des Volkes, seine Unterdrücker zu beseitigen.“

„Ja, ja“, sagte sie gestikulierend. „Sie glaubten an das Recht des Volkes, seine Könige zu beseitigen,

aber ...“ Charles grinste, und als sie das sagte, grinste er noch viel breiter.

„Sie erarbeiteten die Bill of Rights, weil sie dachten, es sei besser, absolute Rechte zu haben, als zu

riskieren, dass irgendjemand sie ihnen wegnimmt. Wie beim First Amendment: Das ist dazu gedacht,

uns zu beschützen, indem es der Regierung untersagt, zwei Sorten von Meinungsäußerung zu

unterscheiden, die erlaubte und die kriminelle. Sie wollten nicht das Risiko eingehen, dass irgendein

Idiot auf die Idee käme, die Dinge, die ihm nicht passten, als illegal zu deklarieren.“

Sie drehte sich um und schrieb „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ an die Tafel.

„Wir sind dem Lehrplan schon ein bisschen voraus, aber ihr scheint eine fortgeschrittene Gruppe zu

sein.“ Die anderen lachten nervös.

„Die Aufgabe der Regierung ist es, die Rechte der Bürger auf Leben, Freiheit und das Streben nach

Glück zu gewährleisten. In dieser Reihenfolge. Das ist wie ein Filter. Wenn die Regierung etwas

unternehmen möchte, das uns ein wenig unzufriedener macht oder unsere Freiheit teilweise

einschränkt, dann ist das okay, vorausgesetzt, es dient dazu, unser Leben zu schützen. Deshalb dürfen

Polizisten euch einsperren, wenn sie glauben, dass ihr eine Gefahr für euch oder andere darstellt. Ihr

5 Autoren der Verfassung von 1787, als solche sozusagen die zweite Welle der Gründerväter, siehe auch

http://en.wikipedia.org/wiki/Founding-Fathers-of-the-United_States AdÜ

verliert eure Freiheit und eure Freude, um Leben zu schützen. Wenn ihr Leben habt, dann bekommt

ihr vielleicht später noch Freiheit und Freude dazu.“

Ein paar von den anderen hatten die Hände oben. „Aber bedeutet das nicht, dass sie tun können, was

immer sie wollen, solange sie behaupten, dass es jemanden davon abhält, uns irgendwann in der

Zukunft zu verletzen?“

„Genau“, meinte ein anderer. „Es klingt, als ob Sie sagen, dass nationale Sicherheit wichtiger ist als

die Verfassung.“

In diesem Moment war ich so was von stolz auf meine Mitschüler. Ich sagte,

„wie können Sie denn

Freiheit schützen, indem Sie die Bill of Rights außer Kraft setzen?“

Sie schüttelte den Kopf, als ob wir unglaublich dumm seien. „Die

‚revolutionären‘ Gründerväter

haben Verräter und Spione erschossen. An absolute Freiheit haben sie nicht geglaubt, nicht wenn sie

die Republik bedrohte. Nehmt zum Beispiel diese Xnet-Leute ...“

Es fiel mir schwer, nicht zu erstarren.

„... diese so genannten Jammer, die heute früh in den Nachrichten waren.

Nachdem diese Stadt von

Leuten angegriffen worden war, die diesem Land den Krieg erklärt haben, machten die Xnetter sich

daran, die Sicherheitsmaßnahmen zu sabotieren, die dazu dienten, Bösewichter zu fangen und sie von

Wiederholungstaten abzuhalten. Das taten sie, indem sie ihre Mitbürger gefährdeten und ihnen Ärger

bereiteten ...“

„Das taten sie, um zu zeigen, dass unsere Rechte geraubt wurden unter dem Vorwand, sie zu

schützen!“, sagte ich. Okay, ich schrie es. Oh Gott, hatte die mich in Fahrt gebracht. „Sie haben es

getan, weil die Regierung jeden wie einen Terrorverdächtigen behandelt hat.“

„Ach, und um zu beweisen, dass man sie nicht wie Terroristen behandeln sollte“, brüllte Charles

zurück, „haben sie sich wie Terroristen benommen? Deshalb haben sie ihren Terror ausgeübt?“

Ich kochte.

„Jetzt komm mal runter. Terror ausgeübt? Sie haben bloß gezeigt, dass allgegenwärtige Überwachung

gefährlicher ist als Terrorismus. Denk mal an den Park letztes Wochenende. Die Leute da haben

getanzt und Musik gehört. Was ist denn daran Terrorismus?“

Die Lehrerin kam durch den Raum auf mich zu und postierte sich über mir, bis ich still war. „Marcus,

du scheinst noch zu glauben, dass sich in diesem Land nichts geändert hat. Aber du hast zu begreifen,

dass die Sprengung der Bay Bridge alles geändert hat. Tausende unserer Freunde und Verwandten

liegen tot da unten in der Bay. Dies ist die Zeit für nationale Einheit angesichts dieser Gewalt, die

unser Land erleiden musste ...“

Ich stand auf. Dieses „Alles hat sich geändert“-Geseiher ging mir bis hier.

„Nationale Einheit? Was

Amerika ganz wesentlich ausmacht, ist doch wohl, dass wir ein Land sind, in dem Dissens

willkommen ist. Wir sind ein Land von Dissidenten und Kämpfern und Uniabbrechern und Aktivisten

für Meinungsfreiheit.“

Dann dachte ich an Ms. Galvez‘ letzte Stunde und an die Tausende von Berkeley-Studenten, die den

Polizeiwagen eingekesselt hatten, als dieser eine Typ für das Verteilen von Bürgerrechts-Literatur

abtransportiert werden sollte. Niemand hatte versucht, die Trucks aufzuhalten, die mit all den Tänzern

aus dem Park davonfuhren. Ich hatte es nicht versucht. Ich war weggelaufen.

Vielleicht hatte sich ja wirklich alles geändert.

„Ich glaube, du weißt, wo Mr. Bensons Büro ist“, sagte sie zu mir. „Du wirst dich unverzüglich dort

melden. Ich werde es nicht dulden, dass mein Unterricht von respektlosem Verhalten gestört wird. Für

jemanden, der behauptet, die Meinungsfreiheit zu lieben, wirst du ziemlich laut, sobald irgend jemand

nicht deiner Meinung ist.“

Ich schnappte mein SchulBook und meine Tasche und stürmte raus. Die Tür hatte eine Gasfeder,

deshalb konnte ich sie nicht hinter mir zuknallen; ich hätte sie gern zugeknallt.

Ich ging zügig zu Mr. Bensons Büro. Kameras filmten mich auf dem Weg dorthin. Mein Gang wurde

aufgezeichnet. Die RFIDs in meinem Schülerausweis funkten meine Identität an die Sensoren im Flur.

Es war hier wie im Knast.

„Schließ die Tür, Marcus“, sagte Mr. Benson. Dann drehte er seinen Monitor herum, so dass ich den

Videostream aus der Gesellschaftskunde-Klasse sehen konnte. Er hatte zugeschaut.

„Was hast du zu deiner Entschuldigung vorzubringen?“

„Das war kein Unterricht, das war Propaganda. Sie hat uns gesagt, dass die Verfassung belanglos ist.“

„Nein. Sie hat gesagt, dass sie keine religiöse Doktrin ist. Und du hast sie angegangen wie irgendein

Fundamentalist und damit genau ihren Standpunkt bewiesen. Marcus, du solltest als allererster

wissen, dass sich alles geändert hat, seit die Brücke gesprengt wurde. Dein Freund Darryl ...“

„Wagen Sie es nicht, auch nur ein verdammtes Wort über ihn zu sagen“, sagte ich schäumend vor

Ärger. „Es steht ihnen nicht zu, ihn auch nur zu erwähnen. Ja, ich habe verstanden, dass sich alles

geändert hat. Wir waren mal ein freies Land. Jetzt nicht mehr.“

„Marcus, weißt du, was Null-Toleranz bedeutet?“

Ich zuckte zusammen. Er konnte mich wegen „bedrohenden Verhaltens“

rauswerfen. Eigentlich war

die Regel als Maßnahme gegen Gang-Kids gedacht, die ihre Lehrer einzuschüchtern versuchten. Aber

natürlich würde er keinerlei Hemmungen haben, sie auch gegen mich einzusetzen.

„Ja, ich weiß, was das bedeutet.“

„Ich glaube, du schuldest mir eine Entschuldigung.“

Ich sah ihn an. Er unterdrückte sein sadistisches Lächeln nur unzureichend. Ein Teil von mir wollte

kuschen. Dieser Teil wollte, Scham hin oder her, um seine Verzeihung winseln.

Aber ich unterdrückte

diesen Teil von mir und beschloss, dass ich mich lieber rauswerfen lassen würde, als um Verzeihung

zu bitten.

„daß, um diese Rechte zu sichern, Regierungen eingesetzt sein müssen, deren volle Gewalten von der

Zustimmung der Regierten herkommen; daß zu jeder Zeit, wenn irgend eine Regierungsform

zerstörend auf diese Endzwecke einwirkt, das Volk das Recht hat, jene zu ändern oder abzuschaffen,

eine neue Regierung einzusetzen, und diese auf solche Grundsätze zu gründen, und deren Gewalten in

solcher Form zu ordnen, wie es ihm zu seiner Sicherheit und seinem Glücke am

zweckmäßigsten

erscheint.“ Ich erinnerte mich Wort für Wort daran.

Er schüttelte den Kopf. „Etwas auswendig zu wissen ist nicht dasselbe wie es zu begreifen, Kleiner.“

Er bückte sich über den Computer und klickte ein paar Mal. Der Drucker surrte.

Dann reichte er mir

ein noch warmes Blatt mit dem Behörden-Briefkopf, auf dem stand, dass ich für zwei Wochen vom

Unterricht ausgeschlossen war.

„Ich schicke jetzt deinen Eltern eine E-Mail. Wenn du in einer halben Stunde noch auf dem

Schulgelände bist, wirst du wegen Hausfriedensbruchs verhaftet.“

Ich blickte ihn an.

„Du willst nicht wirklich in meiner eigenen Schule Krieg gegen mich erklären.

Diesen Krieg kannst

du nicht gewinnen. RAUS!“

Ich ging.

Kapitel 14

Dieses Kapitel ist der unvergleichlichen Mysterious Galaxy in San Diego, Kalifornien gewidmet. Die Leute von Mysterious Galaxy laden mich jedes Mal zu einer Signierstunde ein, wenn ich zu einer Konferenz oder zum Unterrichten in San Diego

bin (an der San Diego State University im nahen La Jolla, CA findet der Clarion Writers‘ Workshop statt), und jedes Mal ist

die Bude gerammelt voll. Dieser Laden hat eine treue Kundschaft aus Hardcore-

Fans, die sich drauf verlassen können, dort hervorragende Empfehlungen und Ideen zu bekommen. Im Sommer 2007 nahm ich meinen Autoren-Kurs bei Clarion zum

mitternächtlichen Erstverkauf des letzten Harry Potter in die Buchhandlung mit, und ich habe niemals sonst eine so

ausgelassene, unglaublich lustige Party in einem Geschäft erlebt.

Mysterious Galaxy

http://mysteriousgalaxy.booksense.com/NASApp/store/Product?

s=showproduct&isbn=9780765319852

7051 Clairemont Mesa Blvd., Suite #302 San Diego, CA USA 92111 +1 858 268

4747

as Xnet machte tagsüber keinen Spaß, wenn alle regelmäßigen Benutzer in der Schule waren.

Ich hatte den Schrieb zusammengefaltet und in die hintere Jeanstasche gesteckt, und als ich

heimkam, warf ich ihn auf den Küchentisch. Dann setzte ich mich ins Wohnzimmer und schaltete die

Glotze ein. Ich sah nie Fernsehen, aber ich wusste, dass meine Eltern es taten.

Fernsehen, Radio und

Zeitungen waren es, wo sie ihre Ideen über die Welt her hatten.

D

Die Nachrichten waren fürchterlich. Es gab so viele Gründe, Angst zu haben.

Amerikanische Soldaten

starben überall auf der Welt. Und im Übrigen nicht bloß Soldaten. Auch Nationalgardisten, die sich

vermutlich gemeldet hatten, um nach Wirbelstürmen Menschenleben zu retten,

und die jetzt auf Jahre

hinaus für einen endlos langen Krieg in Übersee stationiert waren.

Ich zappte durch die Nachrichtensender, einen nach dem anderen, und sah eine Parade von

Würdenträgern, die uns erzählten, warum wir Angst haben sollten, und eine Parade von Fotos von

Bomben, die überall auf der Welt hochgingen.

Ich zappte weiter und sah plötzlich ein vertrautes Gesicht. Es war der Typ, der damals in den Truck

gekommen war und mit Frau Strenger Haarschnitt gesprochen hatte, während ich hinten angekettet

war. Der in der Militäruniform. Die Unterschrift wies ihn aus als Major General Graeme Sutherland,

Regional Commander, DHS.

„Hier in meinen Händen halte ich Literatur, die bei dem angeblichen Konzert in Dolores Park am

vergangenen Wochenende angeboten wurde.“ Er hielt einen Stapel Pamphlete hoch. Ich erinnerte

mich, dort viele Leute mit Handzetteln gesehen zu haben. Sobald sich in San Francisco eine Gruppe

von Menschen traf, waren auch Handzettel dabei.

„Bitte schauen Sie sich das einen Moment an. Ich lese mal die Titel vor. OHNE

ZUSTIMMUNG

DER REGIERTEN: EIN BÜRGERLEITFADEN ZUM UMSTURZ DES

STAATES. Nehmen wir den

hier: SIND DIE ANSCHLÄGE VOM 11. SEPTEMBER WIRKLICH

PASSIERT? Und noch einer:

WIE MAN IHRE SICHERHEITSMAßNAHMEN GEGEN SIE WENDET.

Diese Literatur zeigt uns,

wobei es bei der illegalen Zusammenrottung Samstagnacht wirklich ging. Es war nicht bloß eine

unsichere Versammlung von Tausenden Leuten ohne entsprechende Vorkehrungen oder auch bloß

Toiletten. Es war eine Rekrutierungsveranstaltung für den Feind. Es war der Versuch, Kindern

missbräuchlich die Idee einzuimpfen, dass Amerika sich nicht mehr selbst verteidigen sollte.

Nehmen Sie diesen Slogan, TRAU KEINEM ÜBER 25. Wie könnte man besser gewährleisten, dass

keine umsichtige, ausgewogene Diskussion erwachsener Menschen deiner Pro-Terroristen-Botschaft

in die Quere kommt, als Erwachsene von vornherein auszuschließen und die Gruppe auf leicht

beeinflussbare junge Menschen zu begrenzen?

Als die Polizei am Ort des Geschehens erschien, fand sie eine Rekrutierungsveranstaltung für die

Feinde Amerikas in vollem Gange. Die Versammlung hatte bereits die Nachtruhe von Hunderten

Anwohnern gestört, von denen keiner im Vorfeld in die Planung dieser nächtlichen Rave-Party

einbezogen worden war.

Die Polizisten forderten diese Leute auf, sich zu zerstreuen -- das ist auf allen

Videos zu sehen --, und

als das Partyvolk sie angriff, von den Musikern auf der Bühne aufgestachelt, setzte die Polizei nichttödliche

Massenkontroll-Techniken ein, um sie unter Kontrolle zu bringen.

Die Festgenommenen waren Rädelsführer und Provokateure, die Tausende beeinflussbarer junger

Menschen dazu brachten, die Polizisten anzugreifen. 827 von ihnen wurden in Gewahrsam

genommen. Viele von diesen Leuten waren schon früher straffällig geworden.

Gegen mehr als hundert

lagen bereits Haftbefehle vor. Sie sind nach wie vor inhaftiert.

Meine Damen und Herren, Amerika führt einen Krieg an vielen Fronten, aber unser Land ist nirgends

stärker gefährdet als hier in der Heimat. Sei es, dass wir von Terroristen angegriffen werden oder von

jenen, die mit ihnen sympathisieren.“

Ein Reporter hob die Hand und fragte: „General Sutherland, sie wollen doch sicherlich nicht

behaupten, dass diese Kinder, bloß weil sie eine Party im Park besucht haben, Terror-Sympathisanten

sind?“

„Natürlich nicht. Aber wenn junge Menschen unter den Einfluss der Feinde unseres Landes geraten,

wächst ihnen so eine Sache schnell über den Kopf. Terroristen würden liebend gern eine fünfte

Kolonne rekrutieren, die für sie den Krieg an der Heimatfront führt. Wären dies

meine Kinder, ich

würde mir ernsthaft Sorgen machen.“

Ein anderer Reporter griff den Faden auf. „Aber wir reden hier lediglich von einem Open-Air-Konzert, General. Es fand wohl kaum Drill mit Gewehren statt.“

Der General holte einen Stoß Fotos hervor und begann sie emporzuhalten. „Dies sind Fotos, die

Beamte mit Infrarot-Kameras aufgenommen haben, bevor sie dort vorrückten.“

Er hob sie zu seinem

Gesicht empor und blätterte eins nach dem anderen auf. Es waren wild tanzende Menschen zu sehen,

so wild, dass sie andere umrempelten oder auf sie traten. Dann folgten Sex-Szenen bei den Bäumen,

ein Mädchen mit drei Typen, zwei knutschende Jungs. „Bei diesem Event waren Kinder anwesend,

die teilweise nicht älter als zehn Jahre waren. Ein tödlicher Cocktail aus Drogen, Propaganda und

Musik hat zu Dutzenden Verletzten geführt. Es grenzt an ein Wunder, dass keine Toten zu beklagen

sind.“

Ich schaltete den Fernseher aus. Sie stellten es dar, als wäre es ein Aufstand gewesen. Wenn meine

Eltern ahnten, dass ich auch dort war, würden sie mich einen Monat lang ans Bett binden und mich

hinterher nur noch mit einem Funkhalsband wieder rauslassen.

A propos: sie würden ziemlich angepisst sein, wenn sie rausfanden, dass ich

freigestellt war.

Sie nahmen es jedenfalls nicht gut auf. Dad wollte mich zur Schnecke machen, aber Mom und ich

konnten es ihm noch ausreden.

„Du weißt genau, dass dieser Konrektor es schon seit Jahren auf Marcus abgesehen hat“, sagte Mom.

„Als wir ihn das letzte Mal sprachen, hast du hinterher eine Stunde lang über ihn geflucht. Ich

erinnere mich, dass mehrfach das Wort ‚Arschloch‘ gefallen ist.“

Dad schüttelte den Kopf. „Den Unterricht zu unterbrechen, um gegen die Heimatschutzbehörde zu

wettern ...“

„Es ist ein Gesellschaftskunde-Kurs, Dad.“ Mir war mittlerweile alles egal, aber ich fand, wenn mir

Mom schon in die Bresche sprang, dann sollte ich sie nicht hängen lassen. „Wir haben über das DHS

gesprochen. Ist Diskutieren denn nichts Gutes mehr?“

„Hör mal, Sohn“, sagte er. In letzter Zeit sagte er viel zu oft „Sohn“ zu mir.

Fühlte sich an, als ob er

aufgehört hätte, mich als Person zu betrachten, und mich statt dessen als so ne Art halbfertige Larve

sah, die Führung und Anleitung beim Entpuppen brauchte. Ich hasste das. „Du wirst dich endlich an

die Tatsache gewöhnen müssen, dass wir heute in einer veränderten Welt leben.

Du hast

selbstverständlich immer noch das Recht, deine Meinung zu äußern, aber du

musst bereit sein, die

Konsequenzen daraus zu tragen. Du musst endlich begreifen, dass es da draußen Leute gibt, die leiden

und die nicht gewillt sind, die Feinheiten des Verfassungsrechts zu diskutieren, während ihr Leben

bedroht ist. Wir sitzen jetzt im Rettungsboot, und wenn man im Rettungsboot sitzt, will niemand was

darüber hören, wie gemein der Käptn ist.“

Viel fehlte nicht, und ich hätte mit den Augen gerollt.

„Na, jedenfalls habe ich die Aufgabe, zwei Wochen lang unabhängig Studien zu treiben und in jedem

Fach einen Aufsatz zu schreiben, der die Stadt als Hintergrund hat -- einen Aufsatz in Geschichte,

einen in Gesellschaftskunde, einen in Englisch und einen in Physik. Ist allemal besser, als tagsüber

vor der Glotze zu hängen.“

Dad sah mich prüfend an, als erwarte er, dass ich auf irgendwas hinauswolle, dann nickte er. Ich sagte

ihnen Gute Nacht und verzog mich in mein Zimmer. Dort warf ich die Xbox an, startete eine

Textverarbeitung und fing an, Ideen für meine Aufsätze zu sammeln. Warum auch nicht? Das war

wirklich besser, als bloß daheim herumzusitzen.

Letztlich chattete ich dann die halbe Nacht mit Ange. Sie war voll auf meiner Seite und sagte, sie

würde mir bei den Aufsätzen helfen, wenn ich sie nach der Schule am nächsten Abend sehen wolle.

Ihre Schule kannte ich -- es war dieselbe, auf die Van ging --, sie war ganz drüben in der East Bay, wo

ich seit den Bombenanschlägen nicht mehr gewesen war.

Der Gedanke, sie wiederzusehen, machte mich ziemlich hibbelig. Seit der Party hatte ich jede Nacht

beim Einschlafen an zweierlei gedacht: an den Anblick der Masse, wie sie auf die Polizei zustürmte,

und an das Gefühl, dort an dem Pfeiler ihre Brüste unter dem T-Shirt zu spüren.

Sie war einfach

umwerfend. Ich war noch nie mit einem so ... aggressiven Mädchen zusammengewesen. Bisher war

immer ich es gewesen, der die Initiative ergriff, um dann zurückgewiesen zu werden. Ich hatte das

Gefühl, dass Ange genauso scharf drauf war wie ich, und das war ein quälender Gedanke.

In dieser Nacht schlief ich tief und fest und träumte wildes Zeug von Ange und mir und was wir wohl

anstellen würden, wenn wir uns nur an einem abgeschiedenen Fleck fänden.

Am nächsten Tag fing ich mit meinen Aufsätzen an. Über San Francisco kann man phantastisch

schreiben. Geschichte? Jede Menge, vom Goldrausch zu den Schiffsdocks im Zweiten Weltkrieg, den

Internierungslagern für die japanischstämmige Bevölkerung und der Erfindung des PCs. Physik? Das

Exploratorium hat die coolste Austellung von allen Museen, in denen ich je war.

Ich empfand eine

perverse Befriedigung bei der Darstellung der Verflüssigung des Erdreichs während großer Beben.

Englisch? Jack London, die Beat-Poeten, Science-Fiction-Autoren wie Pat Murphy und Rudy Rucker.

Gesellschaftskunde? Die Bewegung für Meinungsfreiheit, Cesar Chavez, Schwulenrechte,

Feminismus, die Antikriegsbewegung ...

Ich fand es schon immer toll, Sachen einfach um ihrer selbst willen zu lernen, mehr zu wissen über

die Welt um mich herum. Und dazu genügte es schon, einfach nur in der Stadt herumzulaufen. Ich

entschied mich dafür, mit einem Englisch-Aufsatz über die Beatniks zu beginnen. City Lights Books

hatte eine großartige Bibliothek in einem Zimmer im Obergeschoss, wo Allen Ginsberg und seine

Kumpel ihre radikale Drogenpoesie verfasst hatten. Das eine Gedicht, das wir im Englisch-Kurs

gelesen hatten, war Howl (Geheul); und seine ersten Zeilen würde ich niemals vergessen, solche

Gänsehaut verursachten sie mir:

I saw the best minds of my generation destroyed by madness, starving hysterical naked,

Ich sah die besten Köpfe meiner Generation zerstört vom Wahnsinn, ausgezehrt hysterisch nackt,

dragging themselves through the negro streets at dawn looking for an angry fix, wie sie sich durch die Negerstraßen schleppten bei Tagesanbruch auf der Suche nach einer

zornigen Spritze,

angelheaded hipsters burning for the ancient heavenly connection to the starry dynamo in the

machinery of night...

engelsköpfige Hipster, sich verzehrend nach jener uralten himmlischen Verbindung zum

Sternendynamo in der Maschinerie der Nacht ...

Ich liebte es, wie diese Wörter ineinanderflossen, „ausgezehrt hysterisch nackt“.

Ich kannte dieses

Gefühl. Und „die besten Köpfe meiner Generation“ gab mir auch schwer zu denken. Es erinnerte

mich an den Park und an die Polizei und daran, wie das Gas fiel. Man klagte Ginsberg für Howl

wegen Obszönität an -- wegen einer Zeile über Homo-Sex, deretwegen heute niemand mehr mit der

Wimper zucken würde. Irgendwie stimmte es mich fröhlich zu wissen, dass wir doch irgendwelche

Fortschritte gemacht hatten, dass frühere Zeiten noch viel restriktiver gewesen waren als diese.

In der Bibliothek vergaß ich alles um mich herum, während ich die wunderschönen alten Ausgaben

dieser Bücher las. Ich verlor mich in Jack Kerouacs „On the Road“, einen Roman, den ich schon

lange lesen wollte, und ein Angestellter, der nachschauen kam, was ich da trieb, nickte zustimmend

und fand eine billige Ausgabe für mich, die er mir für sechs Dollar verkaufte.

Dann ging ich nach Chinatown weiter und aß Dim Sum Buns und Nudeln mit scharfer Sauce, die ich

früher als ziemlich scharf bezeichnet hätte, die mir aber mit der Erfahrung eines Ange-Special

mittlerweile eher mild vorkam.

Als es auf Nachmittag zuging, stieg ich in die BART und dann in einen Shuttlebus über San Mateo

Bridge, der mich zur East Bay brachte. Ich las mein Exemplar von „On the Road“ und genoß die

vorbeiflitzende Landschaft. „On the Road“ ist ein halb autobiografischer Roman über Jack Kerouac,

einen drogen- und alkoholabhängigen Schriftsteller, der per Anhalter durch Amerika reist, Billigjobs

annimmt, bei Nacht durch die Straßen geistert, Leuten begegnet und wieder seiner Wege zieht.

Hipster, traurige Hobos, Betrüger, Straßenräuber, Penner und Engel. Das Buch hat keine eigentliche

Handlung -- Kerouac soll es, zugedröhnt bis zur Kante, innerhalb von drei Wochen auf eine lange

Rolle Papier geschrieben haben --, es beschreibt bloß eine Reihe erstaunlicher Dinge, ein Ereignis

nach dem anderen. Er freundet sich mit selbstzerstörerischen Leuten wie Dean Moriarty an, die ihn in

merkwürdige Pläne verwickeln, aus denen nie irgendwas wird, und doch wird was draus, wenn ihr

wisst, was ich meine.

Diese Worte hatten einen ganz eigenen Rhythmus, sie waren üppig, ich konnte sie laut in meinem

Kopf hören. Sie weckten in mir das Verlangen, mich auf der Ladefläche eines Pickups schlafen zu

legen und in einer staubigen Kleinstadt im Central Valley auf halber Strecke nach L.A. wieder

aufzuwachen, in einem dieser Orte mit einer Tankstelle und einem Diner, und dann einfach nur auf die

Felder hinauszulaufen und Leute zu treffen, Dinge zu sehen und Dinge zu tun.

Es war eine lange Busfahrt, und ich musste ein bisschen eingenickt sein -- mit Ange bis werweißwann

zu chatten war schlecht für meinen Schlafrhythmus, denn Mom erwartete mich nach wie vor zum

Frühstück. Ich wachte auf, wechselte den Bus, und kurz darauf war ich bei Anges Schule.

Sie kam mir hüpfend entgegen in ihrer Uniform -- ich hatte sie noch nie darin gesehen, sie sah auf eine

merkwürdige Art süß aus und erinnerte mich an Van in ihrer Uniform. Sie umarmte mich lange und

gab mir einen harten Kuss auf die Wange.

„Hallo, du!“, sagte sie.

„Hi!“

„Was liestn da?“

Darauf hatte ich gewartet. Ich hatte die Stelle mit einem Finger markiert. „Hör mal:

‚Sie tanzten die Straßen hinab wie Dingledodies6, und ich schlurfte hinterher, wie ich es mein

Leben lang mit Leuten getan habe, die mich interessieren, weil die einzigen Leute, die für mich

zählen, die Verrückten sind -- die verrückt sind nach Leben, verrückt nach Reden, verrückt nach

Erlösung, begierig nach allem zugleich; die niemals gähnen oder Gemeinplätze plappern, sondern

6 pardon, das wundervolle Wort „dingledodies“ ist mir zu schade, es zu übersetzen, am ehesten bedeutet es vermutlich

etwas wie „wilde Verrückte“ AdÜ

brennen, brennen, brennen wie sagenhafte gelbe römische Kerzen, explodieren wie Spinnen über

all die Sterne hinaus, und in der Mitte siehst du das blaue Zentrum der Flamme verpuffen und alles

sagt „Oohhh!“‘“

Sie nahm das Buch und las die Passage noch einmal. „Wow, Dingledodies! Ich liebe so was! Ist das

alles so?“

Ich erzählte ihr von dem, was ich schon gelesen hatte, während wir langsam den Bürgersteig runter

zur Bushaltestelle schlenderten. Als wir um die Ecke gebogen waren, schlang sie ihren Arm um meine

Hüfte, und ich legte meinen über ihre Schulter. Die Straße runterzugehen mit

einem Mädchen im Arm

-- meiner Freundin? Klar, wieso nicht? -- und über dieses coole Buch zu reden, das war einfach

himmlisch. Es ließ mich meine Sorgen für einen Moment vergessen.

„Marcus?“

Ich drehte mich um. Es war Van. Im Unterbewusstsein hatte ich damit gerechnet.

Ich wusste es, weil

mein Bewusstsein nicht im Mindesten überrascht war. Es war keine große Schule, und sie hatten alle

zur selben Zeit Schluss. Ich hatte seit Wochen nicht mit Van geredet, und diese Wochen fühlten sich

wie Monate an. Früher hatten wir jeden Tag miteinander geredet.

„Hi, Van“, sagte ich. Ich unterdrückte den Reflex, meinen Arm von Anges Schulter zu nehmen. Van

schien überrascht zu sein, aber nicht so sehr wütend als vielmehr bleich und erschüttert. Sie

beobachtete uns beide scharf.

„Angela?“

„Hi, Vanessa,“ sagte Ange.

„Was machst du denn hier?“

„Ich bin hier rausgekommen, um Ange abzuholen“, sagte ich in bemüht neutralem Tonfall. Plötzlich

fühlte ich mich unwohl dabei, mit einem anderen Mädchen gesehen zu werden.

„Oh. Na dann, war nett, dich gesehen zu haben.“

„Ja, war nett, dich gesehen zu haben, Vanessa“, sagte Ange, zog mich herum und weiter Richtung

Bushaltestelle.

„Du kennst sie?“

„Ja, schon ewig.“

„Wart ihr zusammen?“

„Was? Nein! Überhaupt nicht! Wir waren bloß Freunde.“

„Ihr wart Freunde?“

Ich hatte das Gefühl, als würde Van direkt hinter uns herlaufen und zuhören, obwohl sie bei dem

Tempo, das wir eingeschlagen hatten, hätte joggen müssen, um an uns dranzubleiben. Ich widerstand

der Versuchung, über die Schulter zu blicken, so lange wie nur möglich, aber schließlich tat ich es

doch. Hinter uns waren massenhaft Mädchen aus der Schule, aber keine Van.

„Sie war mit mir und Jose-Luis und Darryl unterwegs, als wir verhaftet wurden.

Wir haben zusammen

ARGs gemacht. Wir vier waren so was wie beste Freunde.“

„Und dann?“

Ich dämpfte die Stimme. „Sie mochte die Idee mit dem Xnet nicht. Sie dachte, wir würden Ärger

kriegen und ich würde andere Leute in Schwierigkeiten bringen.“

„Und deshalb seid ihr jetzt keine Freunde mehr?“

„Wir haben uns bloß sozusagen auseinandergelebt.“ Wir gingen ein paar

Schritte.

„Ihr wart nicht, du weißt schon, Freund-und-Freundin-Freunde?“

„Nein!“, sagte. Ich. Mein Gesicht glühte. Ich fühlte mich, als würde ich mich wie ein Lügner anhören,

obwohl ich ja nun die Wahrheit sagte.

Ange brachte uns beide abrupt zum Stehen und studierte meinen Gesichtsausdruck.

„Oder doch?“

„Nein! Ehrlich nicht! Nur Freunde. Darryl und sie -- na ja, auch nicht wirklich, aber Darryl war

ziemlich in sie verknallt. Überhaupt kein Gedanke daran, ...“

„Aber wenn Darryl nicht in sie verknallt gewesen wäre, wärst du, oder was?“

„Nein, Ange. Nein. Bitte glaub mir doch einfach und lass das Thema. Vanessa und ich waren gute

Freunde und sind es jetzt nicht mehr, und das macht mir zu schaffen; aber ich war nie hinter ihr her,

okay?“

Sie entspannte sich ein bisschen. „Okay, okay. Tut mir Leid. Ist bloß, dass ich mit ihr nicht

klarkomme. Wir sind nie miteinander klargekommen in all den Jahren, die wir uns schon kennen.“

Ach so, dachte ich. Das erklärte, weshalb Jolu Ange schon so lange kannte und ich sie trotzdem noch

nie getroffen hatte. Sie hatte ihre Privatfehde mit Van, und deshalb hatte er sie nie mitgebracht.

Wir umarmten uns ausgiebig und küssten uns, und eine Horde Mädels kam an uns vorbei und machte

„huiuiuiui“; also rissen wir uns zusammen und gingen weiter zur Bushaltestelle.

Vor uns lief jetzt Van,

die an uns vorbeigekommen sein musste, während wir uns küssten. Ich fühlte mich wie ein kompletter

Idiot.

Natürlich war sie auch an der Bushaltestelle und dann im Bus, und wir sprachen kein Wort

miteinander, und ich versuchte die ganze Fahrt über ein Gespräch mit Ange zu führen, aber es war

sehr verkrampft.

Wir hatten geplant, irgendwo auf einen Kaffee anzuhalten und dann zu Ange weiterzugehen, um zu

„lernen“, also um abwechselnd mit ihrer Xbox im Xnet zu lesen. Anges Mom kam an Dienstagen

immer spät nach Hause, weil sie da abends Yogakurs hatte und dann mit ihren Freundinnen essen

ging, und Anges Schwester war mit ihrem Freund auf der Piste, also würden wir ganz ungestört sein.

Und ich hatte schmutzige Phantasien seit dem Moment, als wir uns für diesen Abend verabredet

hatten.

Wir kamen bei ihr an, gingen direkt in ihr Zimmer und machten die Tür hinter uns zu. Ihr Zimmer

hatte was von einem Bombenkrater, es wär übersät mit schichtenweise

Klamotten, Notizbüchern und

PC-Teilen, die sich wie Krähenfüße in die Socken bohren würden. Ihr Schreibtisch war noch

schlimmer als der Fußboden, dort stapelten sich die Bücher und Comics; so setzten wir uns

schließlich auf ihr Bett, wogegen ich nichts einzuwenden hatte.

Die Verlegenheit seit dem Treffen mit Van hatte sich einigermaßen gelegt, und wir warfen ihre Xbox

an. Sie war in ein Nest von Kabeln eingebettet, von denen einige zu einer WLAN-Antenne führten,

die sie am Fenster befestigt hatte, um die Funknetze der Nachbarn anzapfen zu können. Andere Kabel

führten zu alten Laptop-Monitoren, die sie zu Einzelbildschirmen umgebaut hatte, auf Standfüßen

balancierend und voll freiliegender Elektronik. Die Monitore standen auf beiden Nachttischen, ein

geniales Arrangement, um im Bett Filme zu sehen oder zu chatten: Wenn sie die Bildschirme zum

Bett hin drehte, konnte sie sich auf die Seite drehen und hatte nach links oder rechts immer ein

seitenrichtiges Bild.

Nebeneinander an den Nachttisch gelehnt auf ihrem Bett sitzend wussten wir beide, weshalb wir

wirklich hier waren. Ich zitterte ein wenig, und die Wärme ihres Beins und ihrer Schulter an mir

waren nur zu gegenwärtig; aber ich musste mich zumindest mal ins Xnet

einloggen, meine Mails

lesen und so.

Eine Mail kam von einem Jungen, der gern lustige Handy-Videos über das Amok laufende DHS

verschickte. Das letzte hatte gezeigt, wie sie einen Kinderwagen zerlegten, weil ein

Sprengstoffspürhund sich dafür interessiert hatte; sie hatten ihn mitten auf der Straße in der Marina

mit Schraubenziehern auseinanandergenommen, und man konnte sehen, wie all die reichen Leute da

vorbeikamen, sich umdrehten und offensichtlich wunderten, wie bescheuert das war.

Ich hatte zu dem Video verlinkt, und es war wie bescheuert runtergeladen worden. Er hatte es auf den

Spiegelserver des „Internet Archive“ in Alexandria, Ägypten hochgeladen, wo sie so ziemlich alles

akzeptierten, vorausgesetzt, es stand unter einer remix- und weitergabefähigen Creative-Commons-Lizenz. Das US-„Archive“ -- im Presidio, nur ein paar Minuten von hier -- war gezwungen worden, all

diese Videos im Namen der nationalen Sicherheit vom Netz zu nehmen, aber das

„Archive“ in

Alexandria hatte sich als eigenständige Organisation abgespalten und hostete jetzt alles, was geeignet

war, die Vereinigten Staaten zu verärgern.

Dieser Junge -- sein Nick war Kameraspie -- hatte mir diesmal ein noch besseres

Video geschickt. Es

war im Eingang zur City Hall im Civic Center aufgenommen, dieser riesigen Hochzeitstorte von

einem Haus, voll mit Statuen in kleinen Bogengängen, vergoldeten Blättern und Gedöns. Das DHS

hatte rund um das Gebäude eine Sicherheitszone eingerichtet, und Kameraspies Video zeigte eine

Ansicht ihres Checkpoints, während sich ein Typ in Offiziersuniform näherte, seinen Ausweis zeigte

und seine Aktentasche auf das Röntgenband stellte.

Alles war okay, bis einer der DHS-Leute auf dem Röntgenbild etwas sah, das ihm nicht gefiel. Er

stellte dem General Fragen, und der rollte mit den Augen und sagte etwas Unhörbares (das Video war

von der anderen Straßenseite aufgenommen, offenkundig mit einem getarnten Eigenbau-Zoom,

deshalb war die Tonspur voll mit Geräuschen von vorbeieilenden Passanten und dem Straßenverkehr).

Der General und die Leute vom DHS gerieten aneinander, und je länger sie diskutierten, desto mehr

DHS-Typen scharten sich dazu. Schließlich schüttelte der General verärgert den Kopf, wies mit dem

Finger auf die Brust des einen DHSlers, schnappte sich die Aktentasche und ging davon. Die DHSTypen

riefen ihm nach, aber er wurde nicht langsamer. Seine Körpersprache sagte überdeutlich „ich

bin äußerst verärgert“.

Dann geschah es. Die DHS-Typen rannten dem General hinterher. Kameraspie hatte das Video hier

verlangsamt, so dass man in extremer Zeitlupe, Bild für Bild, das Gesicht des Generals sehen konnte:

Wie er sich halb umdrehte mit diesem Ausdruck im Gesicht, der besagte „Ihr werdet den Teufel tun,

mich zu tackeln“, und wie der Ausdruck sich in Entsetzen verwandelte, als sich drei der riesigen

DHS-Wachen auf ihn stürzten, ihn zur Seite stießen und dann um die Hüfte fassten, als wäre dies das

letzte Football-Tackling in seiner Karriere. Der General -- schon etwas älter, mit stahlgrauem Haar,

zerfurchtem und würdevollem Gesicht -- ging zu Boden wie ein Sack Kartoffeln, schlug zweimal hart

auf, sein Gesicht knallte auf den Bürgersteig, und Blut schoss aus seiner Nase.

Das DHS verschnürte den General, fesselte ihn an Händen und Füßen. Der General brüllte jetzt, und

wie er brüllte, sein Gesicht verfärbt von dem Blut, das ihm immer noch aus der Nase strömte. Beine

flitzten durchs Bild. In der starken Tele-Einstellung sah man vorbeikommende Fußgänger zuschauen,

wie man diesen Typ in Uniform fesselte, und seinem Gesicht war zu entnehmen, dass dies das

Schlimmste von allem war -- dies war rituelle Erniedrigung, der Raub seiner Würde. Hier endete der

Clip.

„Ach du mein süßer Buddha“, sagte ich, während der Schirm schwarz wurde und ich das Video

nochmals startete. Ich stupste Ange an und zeigte ihr den Clip. Sie sagte kein Wort und betrachtete

den Film mit offenem Mund.

„Lad das ja hoch!“, sagte sie. „Los, hochladen hochladen hochladen hochladen hochladen!“ Ich lud

ihn hoch. Ich konnte kaum tippen vor Aufregung, als ich aufschrieb, was ich hier gesehen hatte; und

ich fügte eine Notiz an, ob wohl jemand den Offizier im Video identifizieren könne oder etwas über

die Sache wisse.

Ich drückte auf „Veröffentlichen“.

Dann sahen wir uns das Video noch einmal an. Und noch einmal.

Mein E-Mail-Programm meldete sich.

Ich erkenn den Kerl ganz sicher -- du findest seine Bio in der Wikipedia.

Das ist General Claude

Geist. Er war Kommandeur der UN-Friedenstruppen in Haiti.

Ich schlug die Bio nach. Es gab da ein Bild des Generals bei einer Pressekonferenz und Anmerkungen

über seine Rolle bei der kniffligen Haiti-Mission. Es war offensichtlich derselbe Typ.

Ich aktualisierte meinen Blogeintrag.

Theoretisch war dies die Chance für Ange und mich, ein bisschen rumzumachen,

aber daraus wurde

schließlich doch nichts. Wir stöberten durch die Blogs im Xnet und suchten nach weiteren Berichten

über Durchsuchungen und Übergriffe durch das DHS. Das war schon ein Routinejob, weil ich

dasselbe bereits nach den Ausschreitungen im Park gemacht hatte. In meinem Blog führte ich eine

neue Kategorie für diese Sachen ein, MissbrauchVonBefugnissen, und sortierte alles ein. Ange

überlegte sich immer noch mehr Suchbegriffe, die wir ausprobieren könnten, und als ihre Mutter

heimkam, hatte meine neue Kategorie schon siebzig Einträge, allen voran der Angriff auf General

Geist vor City Hall.

Den ganzen nächsten Tag über arbeitete ich daheim an meinem Beatnik-Aufsatz, las Kerouac und

surfte im Xnet. Eigentlich hatte ich Ange an der Schule treffen wollten, aber der Gedanke, womöglich

wieder Van zu treffen, machte mich furchtbar nervös, also simste ich ihr eine Ausrede, dass ich noch

am Aufsatz zu schreiben hätte.

Derweil trudelten alle möglichen tollen Vorschläge für MissbrauchVonBefugnissen ein, Hunderte von

kleinen und großen, Bilder und Videos. Das Mem hatte begonnen, sich zu replizieren.

Und es hörte nicht wieder auf. Am nächsten Morgen waren es nochmals mehr geworden. Jemand

hatte ein neues Blog namens MissbrauchVonBefugnissen aufgesetzt, das Hunderte weiterer Vorfälle

sammelte. Der Stapel wuchs. Wir wetteiferten darum, die saftigsten Storys und die wildesten Bilder

aufzutun.

Mit meinen Eltern hatte ich vereinbart, dass ich jeden Morgen mit ihnen zusammen frühstückte und

über die Projekte redete, die ich gerade in Arbeit hatte. Es gefiel ihnen, dass ich Kerouac las. Es war

für sie beide eines ihrer Lieblingsbücher gewesen, und es stellte sich heraus, dass wir bereits ein

Exemplar im Regal in ihrem Schlafzimmer hatten. Mein Dad brachte es runter, und ich blätterte es

durch. Da waren Abschnitte mit Kuli angestrichen, es gab Seiten mit Eselsohren und Notizen am

Rand. Mein Dad hatte dieses Buch offensichtlich sehr geliebt.

Das erinnerte mich an bessere Zeiten, als mein Dad und ich uns noch fünf Minuten am Stück

unterhalten konnten, ohne uns über Terrorismus in die Haare zu kriegen, und wir hatten zum

Frühstück ein tolles Gespräch darüber, wie der Roman strukturiert war, und über all die irren

Abenteuer.

Aber am nächsten Morgen hingen sie beim Frühstück wieder wie gebannt vorm

Radio.

„Missbrauch von Befugnissen -- so heißt der neueste Trend in San Franciscos berüchtigtem Xnet, und

er hat bereits weltweites Aufsehen erregt. Die Bewegung, kurz MvB genannt, besteht aus ‚Kleinen

Brüdern‘, die ihrerseits die Anti-Terrorismus-Maßnahmen der Heimatschutzbehörde überwachen und

ihre Pannen und Exzesse dokumentieren. Initialzündung für MvB war ein populäres virales Video, das

zeigt, wie General Claude Geist, ein pensionierter Drei-Sterne-General, von DHS-Mitarbeitern auf

dem Bürgersteig vor City Hall umgerempelt wird. Geist hat den Vorfall nicht kommentiert, aber es

gab zahlreiche wütende Reaktionen junger Zuschauer, die auch über ihre eigene Behandlung

entrüstet sind.

Besonders bemerkenswert ist das hohe Maß an Aufmerksamkeit, das dieser Bewegung weltweit zuteil

wird. Bilder aus dem Geist-Video wurden bereits auf den Titelseiten von Zeitungen in Korea,

Großbritannien, Deutschland, Ägypten und Japan veröffentlicht, und Rundfunkstationen überall auf

der Welt zeigten den Clip in ihren Abendnachrichten. Ihren vorläufigen Höhepunkt erlebte die

Angelegenheit, als gestern abend National News Evening der British Broadcasting Corporation eine

Sondersendung über den Umstand ausstrahlte, dass die Story bislang weder von einem US-Sender

oder einer hiesigen Nachrichtenagentur aufgegriffen wurde. Kommentatoren auf der Website der

BBC weisen zudem darauf hin, dass sich die Sondersendung auf den Seiten von BBC America

ebenfalls nicht finden lässt.“

Es folgte eine Reihe von Interviews: britische Medienbeobachter, ein Bürschchen von der

schwedischen Piratenpartei mit spöttischen Bemerkungen über Amerikas korrupte Presse, ein

ehemaliger amerikanischer Nachrichtensprecher im Ruhestand in Tokio; dann strahlten sie einen

kurzen Spot von Al-Dschassira aus, in dem es um die US-Presse im Vergleich zu den nationalen

Nachrichtenmedien in Syrien ging.

Ich meinte die Blicke meiner Eltern auf mir zu spüren, meinte zu ahnen, dass sie wussten, was ich tat.

Aber als ich mein Geschirr wegräumte, sah ich, dass sie einander anschauten.

Dad hielt sich mit zitternden Händen am Kaffeebecher fest. Mom blickte zu ihm hin.

„Die wollen uns schlechtreden“, sagte Dad schließlich. „Die wollen alle Bemühungen um unsere

Sicherheit sabotieren.“

Ich öffnete den Mund, aber dann fing ich den Blick meiner Mutter und ihr Kopfschütteln auf. Also

ging ich in mein Zimmer, um weiter an dem Kerouac-Aufsatz zu arbeiten.

Sobald ich zum zweiten

Mal die Haustür gehört hatte, warf ich meine Xbox an und ging online.

Hallo M1k3y. Mein Name ist Colin Brown, ich bin Produzent der Nachrichtensendung The

National bei der Canadian Broadcasting Corporation. Wir machen eine Geschichte über das Xnet

und haben bereits einen Reporter nach San Francisco geschickt, um von dort zu berichten. Wären Sie

an einem Interview interessiert, um über Ihre Gruppe und ihre Aktivitäten zu sprechen?

Ich starrte den Monitor an. Oh Gott. Die wollten mich über „meine Gruppe“

interviewen?

Oh, nein, danke. Ich achte sehr auf meine Privatsphäre. Außerdem ist es gar nicht „meine“

Gruppe. Aber danke, dass Sie eine Geschichte drüber machen!

Eine Minute später kam die nächste E-Mail.

Wir können Sie unkenntlich machen und Ihnen Anonymität zusichern. Es ist Ihnen klar, dass das

DHS nur zu gern seinen eigenen Sprecher vorschicken wird. Ich bin aber interessiert an Ihrer Sicht

der Dinge.

Ich speicherte die E-Mail ab. Er hatte Recht, aber ich wäre bescheuert, das zu tun. Von meinem

Standpunkt aus war er das DHS.

Ich wandte mich wieder Kerouac zu, da kam die nächste E-Mail. Dieselbe Bitte

von einer anderen

Nachrichtenagentur: KQED wollte mich treffen, um ein Radio-Interview aufzuzeichnen. Ein Sender

in Brasilien. Die Australian Broadcasting Corporation. Deutsche Welle. Den ganzen Tag lang

trudelten Presse-Anfragen ein. Und den ganzen Tag lang lehnte ich höflich ab.

Viel Kerouac las ich an diesem Tag nicht.

Du musst eine Pressekonferenz abhalten“, sagte Ange, als wir am selben Abend in dem Café bei ihr

um die Ecke saßen. Ich war nicht mehr allzu scharf drauf, sie in der Schule abzuholen und womöglich

wieder mit Van im selben Bus zu sitzen.

„Hä? Bist du wahnsinnig?“

„Mach es in Clockwork Plunder. Such dir einfach einen Handelsstützpunkt, wo kein PvP erlaubt ist,

und leg eine Uhrzeit fest. Du kannst dich von hier einloggen.“

PvP, Player-versus-Player, ist ein Kampf-Modus Spieler gegen Spieler. Einige Bereiche von

Clockwork Plunder waren als neutrales Territorium definiert, und dort konnten wir theoretisch eine

Tonne Reporter anschleppen, die keine Ahnung vom Spiel hatten, ohne zu riskieren, dass andere

Spieler sie während der Pressekonferenz einfach umlegten.

„Ich kenn mich mit Pressekonferenzen null aus.“

„Musst du halt googeln. Ganz sicher hat schon mal jemand einen Ratgeber geschrieben, wie man eine

erfolgreiche Pressekonferenz abhält. Ich mein, wenn der Präsident das kann, kannst du das auch. Der

sieht nicht so aus, als ob er sich schon allein die Schuhe zubinden kann.“

Wir bestellten noch Kaffee.

„Du bist eine sehr kluge Frau“, sagte ich.

„Und ich bin schön.“

„Das auch.“

Kapitel 15

Dieses Kapitel ist Chapters/Indigo gewidmet, der nationalen kanadischen Mega-Kette. Ich arbeitete zu der Zeit bei Bakka,

der unabhängigen Science-Fiction-Buchhandlung, als Chapters seine erste Filiale in Toronto eröffnete; und es war mir

schnell klar, dass da was Großes am Werden war, weil zwei unserer klügsten und bestinformierten Kunden bei uns

reinschneiten, um mir zu berichten, dass sie für die Leitung der dortigen Science-Fiction-Abteilung angestellt worden seien.

Von Beginn an legte Chapters die Messlatte für eine große Buchhandels-Filiale hoch -- mit erweiterten Öffnungszeiten,

einem freundlichen Café mit vielen Sitzplätzen, Selbstbedienungs-Terminals und einem erstaunlich vielfältigen Sortiment.

Chapters/Indigo: http://www.chapters.indigo.ca/books/Little-Brother-Cory-Doctorow/9780765319852-item.html

ch bloggte über die Pressekonferenz, noch bevor ich die Einladungen an die Presse rausschickte. Es

war klar, dass all diese Schreiberlinge mich zu einem Führer oder General oder obersten Guerilla-Kommandeur hochstilisieren wollten, und der beste Weg, dem zu begegnen, schien mir der,

sicherzustellen, dass noch eine Menge anderer Xnetter sich dort herumtrieben und Fragen

beantworteten.

I

Dann mailte ich den Presseleuten. Die Reaktionen rangierten von verwirrt bis enthusiastisch -- nur die

Reporterin von Fox war „empört“, dass ich es wagte, ihr dieses Spielchen aufzunötigen, um in ihrer

TV-Show zu erscheinen. Die anderen schienen das für den Beginn einer ziemlich coolen Story zu

halten, allerdings brauchten etliche von ihnen eine ganze Menge Support, um sich bei dem Spiel

anzumelden.

Ich entschied mich für acht Uhr abends, nach dem Essen. Mom hatte schon länger nachgebohrt, wo

ich mich in letzter Zeit abends rumtrieb, bis ich schließlich mit Ange rausgerückt war; seither sah sie

mich ständig mit diesem verträumten Blick an, als ob sie sagen wolle, „oh, mein Kleiner wird

langsam groß“. Sie wollte Ange treffen, und das benutzte ich als Hebel, indem ich versprach, sie am

nächsten Abend einmal mitzubringen, wenn ich mit Ange heute „ins Kino

gehen“ dürfe.

Anges Mom und ihre Schwester waren schon wieder unterwegs -- sie waren beide keine Stubenfliegen

--, so dass ich mit Ange und unseren beiden Xboxen in ihrem Zimmer allein war.

Ich stöpselte einen

der Monitore neben ihrem Bett aus und hängte meine Xbox dran, damit wir uns beide zugleich

einloggen konnten.

Beide Xboxen waren jetzt in Clockwork Plunder eingeloggt und ansonsten untätig. Ich lief nervös auf

und ab.

„Sieht aus, als obs gut für uns läuft“, sagte sie, ohne den Blick vom Monitor abzuwenden. „Auf dem

Markt von Patcheye Pete hats jetzt 600 Spieler!“ Patcheye Pete hatten wir uns ausgeguckt, weil es

vom Dorfplatz aus, wo neue Spieler „ausschlüpften“, der nächstgelegene Markt war. Sofern die

Reporter nicht schon Clockwork Plunder spielten (haha), würden sie dort automatisch auftauchen.

Deshalb hatte ich in meinem Blogeintrag darum gebeten, dass sich ein paar Leute an der Strecke

zwischen Patcheye Pete und dem Ankunftstor aufhalten mögen, um jeden, der wie ein

orientierungsloser Reporter aussah, zu Pete weiterzulotsen.

„Was zum Teufel soll ich denen denn erzählen?“

„Du beantwortest einfach nur ihre Fragen. Und wenn dir eine Frage nicht passt,

ignorier sie. Wird sich

schon jemand finden, der sie beantwortet. Alles wird gut.“

„Das ist Wahnsinn.“

„Das ist perfekt, Marcus. Wenn du das DHS wirklich drankriegen willst, dann musst du sie piesacken.

Wenn du es auf ein direktes Duell ankommen lässt, hast du keine Chance. Deine einzige Waffe ist

deine Fähigkeit, sie als Idioten dastehen zu lassen.“

Ich ließ mich aufs Bett fallen, und sie zog meinen Kopf in ihren Schoß und strich mir übers Haar. Vor

den Anschlägen hatte ich mit diversen Schnitten experimentiert und meine Haare in den lustigsten

Farben getönt, aber seit ich aus dem Knast raus war, war mir das alles unwichtig geworden. Mein

Haar war lang und zottelig geworden, und dann war ich ins Bad gegangen, hatte mir die Schere

geschnappt und alles rundum auf gut einen Zentimeter Länge getrimmt; das war völlig pflegeleicht,

und außerdem war es hilfreich, beim Jammen und RFID-Klonen unauffällig auszusehen.

Ich öffnete die Augen und blickte in ihre großen, braunen Augen hinter der Brille. Sie waren rund,

feucht und sehr ausdrucksstark. Sie konnte sie hervorpoppen lassen, um mich zum Lachen zu bringen,

sie konnte sie weich und traurig wirken lassen, aber auch träge und schläfrig auf eine Weise, die mich

vor Geilheit fast zerfließen ließ.

Und genau das tat sie gerade jetzt.

Ich setzte mich langsam auf und umarmte sie. Sie erwiderte die Umarmung. Wir küssten uns. Sie

küsste unglaublich. Ich weiß, ich sagte es schon, aber das kann man nicht oft genug wiederholen. Wir

küssten uns ziemlich oft, aber irgendwie hörten wir immer auf, bevor es zu heftig zur Sache ging.

Jetzt wollte ich einen Schritt weiter gehen. Ich fand den Saum ihres T-Shirts und zog. Sie hob ihre

Hände übern Kopf und rutschte ein kleines Stück zurück. Ich hatte gewusst, dass sie das tun würde;

ich hatte es seit der Nacht im Park gewusst. Vielleicht waren wir deshalb nie weiter gegangen. Ich

wusste, ich konnte mich nicht darauf verlassen, dass sie rechtzeitig die Notbremse zog, und das

machte mir ein wenig Angst.

Aber dieses Mal hatte ich keine Angst. Die bevorstehende Pressekonferenz, die Querelen mit meinen

Eltern, die internationale Aufmerksamkeit, dieses Gefühl, dass es da eine Bewegung gab, die sich

über die Stadt ausbreitete wie eine wildgewordene Flipperkugel -- das alles prickelte auf meiner Haut

und ließ mein Herz singen.

Und sie war wunderschön, klug und lustig, und ich verliebte mich mehr und mehr in sie.

Ihr Shirt rutschte heraus, mit einer Biegung ihres Rückens half sie mir, es über ihre Schultern zu

ziehen. Dann griff sie hinter sich, hantierte etwas, und ihr BH fiel aufs Bett. Ich konnte sie nur

sprachlos, bewegungslos anstarren, und dann griff sie nach meinem Shirt, zerrte es mir über den Kopf

und zog mich an sich heran, Brust an nackte Brust.

Wir wälzten uns übers Bett, berührten einander, vernestelten unsere Körper ineinander und stöhnten.

Sie bedeckte meine Brust mit Küssen, und ich ihre ebenso. Ich konnte nicht atmen, nicht denken; ich

konnte mich nur bewegen und küssen und lecken und berühren.

Dann trauten wir uns noch einen Schritt weiter. Ich knöpfte ihre Jeans auf, sie öffnete meine. Ich zog

ihren Reißverschluss auf, sie meinen, dann zog sie mir die Jeans aus und ich ihre. Einen Augenblick

später waren wir beide nackt, mit Ausnahme meiner Socken, die ich mit den Zehen abstreifte.

Und genau in diesem Moment erhaschte ich einen Blick auf ihren Wecker, der schon vor langer Zeit

auf den Boden gerollt war und uns von dort unten entgegenleuchtete.

„Verdammt!“, schrie ich. „Es geht in zwei Minuten los!“ Ich konnte es selbst nicht fassen, dass ich im

Begriff war, damit aufzuhören, wo ich doch gerade erst damit aufgehört hatte, vorher aufzuhören. Ich

mein, hätte man mich gefragt, „Marcus, du wirst gleich zum allerersten Mal in

deinem Leben mit

einem Mädchen ins Bett gehen; würde es dich stören, wenn ich im gleichen Raum diese Atombombe

zündete?“, dann wäre meine Antwort ein beherztes, eindeutiges „NEIN“

gewesen.

Und doch: Dafür hörten wir auf.

Sie zog mich zu sich heran, mein Gesicht eng an das ihre, und küsste mich, bis ich dachte, gleich

ohnmächtig werden zu müssen; dann schnappten wir uns unsere Klamotten, hockten uns mehr oder

weniger angezogen hinter unsere Tastaturen und Mäuse und machten uns auf den Weg zu Patcheye

Pete.

Die Presseleute konnte man leicht erkennen. Das waren die Anfänger, die ihre Charaktere wie

stolpernde Besoffskis spielten, hin- und her-, rauf- und runterwankend versuchten, sich irgendwie

zurechtzufinden, und gelegentlich die falsche Taste drückten, was dann dazu führte, dass sie Fremden

ihre Ausrüstung ganz oder teilweise zum Tausch anboten oder sie versehentlich umarmten oder traten.

Auch die Xnetter waren leicht zu erkennen. Wir spielten alle Clockwork Plunder, sooft wir etwas

Freizeit hatten (oder keine Lust auf Hausaufgaben), und wir hatten ziemlich ausgefuchste Charaktere

mit coolen Waffen und Sprengsätzen an den Schlüsseln hinten am Rücken, die jedem eine Ladung

verpassen würden, der versuchte, uns die Schlüssel zu mopsen und uns leerlaufen zu lassen.

Als ich auftauchte, erschien eine Systemstatusmeldung M1K3Y HAT

PATCHEYE PETE‘S

BETRETEN -- WILLKOMMEN, SWABBIE, HIER GIBT ES GUTE WARE

FÜR FETTE BEUTE. Alle

Spieler auf dem Monitor erstarrten, dann scharten sie sich um mich. Der Chat explodierte. Ich dachte

kurz daran, auf Sprachsteuerung umzuschalten und mir ein Headset zu nehmen, aber angesichts

dessen, wie viele Leute hier gleichzeitig zu reden versuchten, wurde mir klar, wie verwirrend das sein

würde. Texte waren viel leichter zu erfassen, und dann konnten sie mich auch nicht falsch zitieren

(hehe).

Ich hatte die Örtlichkeiten vorher mit Ange ausgekundschaftet -- es war super, mit ihr zusammen im

Spiel loszuziehen, weil wir unsere Figuren gegenseitig aufziehen konnten. Es gab da einen erhöhten

Punkt auf einem Stapel von Packungen mit Salzrationen; wenn ich mich dort raufstellte, konnte ich

aus jedem Winkel des Marktes gesehen werden.

Guten Abend und herzlichen Dank Ihnen allen fürs Erscheinen. Mein Name ist M1k3y, und ich bin

nicht der Anführer von was-auch-immer. Überall um Sie herum sind andere Xnetter, die ebenso viel

wie ich darüber zu sagen haben, warum wir hier sind. Ich benutze das Xnet, weil ich an die Freiheit

glaube und an die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. Ich benutze das Xnet, weil das

DHS meine Stadt in einen Polizeistaat verwandelt hat, in dem wir alle terrorismusverdächtig sind. Ich

benutze das Xnet, weil ich denke, dass man die Freiheit nicht verteidigen kann, indem man die Bill of

Rights zerreißt. Was ich über die Verfassung weiß, habe ich an einer Schule in Kalifornien gelernt,

und ich bin aufgewachsen in einem Land, das ich um seiner Freiheit willen liebe.

Wenn ich eine

Philosophie habe, dann diese:

daß, um diese Rechte zu sichern, Regierungen eingesetzt sein müssen, deren volle Gewalten von

der Zustimmung der Regierten herkommen; daß zu jeder Zeit, wenn irgend eine Regierungsform

zerstörend auf diese Endzwecke einwirkt, das Volk das Recht hat, jene zu ändern oder abzuschaffen,

eine neue Regierung einzusetzen, und diese auf solche Grundsätze zu gründen, und deren Gewalten in

solcher Form zu ordnen, wie es ihm zu seiner Sicherheit und seinem Glücke am zweckmäßigsten

erscheint.

Ich habe das nicht geschrieben, aber ich glaube daran. Das DHS regiert nicht mit meiner

Zustimmung.

Vielen Dank.

Ich hatte das am Tag zuvor geschrieben und immer wieder Entwürfe mit Ange ausgetauscht. Den Text

einzufügen dauerte bloß eine Sekunde, aber jeder im Spiel brauchte einen Moment, um ihn zu lesen.

Eine Menge Xnetter jubelten, wilde exaltierte Piraten-Hurras mit emporgereckten Säbeln und

Papageien, die ihnen krächzend um die Köpfe flatterten.

Nach und nach verdauten auch die Journalisten das Gelesene. Der Chat raste nur so an uns vorbei, so

schnell, dass es kaum zu lesen war; etliche Xnetter schrieben Sachen wie „Auf gehts“, „Amerika:

Wenn du es nicht liebst, dann verschwinde“, „Weg mit dem DHS“ und „Amerika raus aus San

Francisco“, alles Slogans, die in der Xnet-Blogosphäre angesagt waren.

M1k3y, ich bin Priya Rajneesh von der BBC. Sie sagen, sie sind nicht der Führer einer Bewegung,

aber würden Sie sagen, dass es eine Bewegung gibt? Nennt sie sich Xnet?

Jede Menge Antworten. Manche Leute sagten nein, es gebe keine Bewegung, andere sagten ja, es

gebe eine, und viele Leute kamen mit Vorschlägen dafür, wie sie sich nannte: Xnetter, Kleine Brüder,

Kleine Schwestern, und mein persönlicher Favorit, Vereinigte Staaten von

Amerika.

Sie liefen zu großer Form auf. Ich kümmerte mich erst mal nicht weiter, sondern überlegte mir eine

eigene Antwort. Dann tippte ich

Ich schätze, das beantwortet Ihre Frage, nicht wahr? Möglicherweise gibt eine oder auch mehrere

Bewegungen, und möglicherweise heißen sie Xnet oder auch nicht.

M1k3y, ich bin Doug Christensen von der Washington Internet Daily. Was sollte das DHS Ihrer

Meinung nach tun, um einen weiteren Anschlag auf San Francisco zu verhindern, wenn das, was sie

jetzt tun, nicht erfolgreich ist?

Weiteres Geschnatter. Viele Leute sagten, die Terroristen und die Regierung seien dasselbe -- entweder

wörtlich oder in dem Sinne, dass sie gleichermaßen böse seien. Andere behaupteten, die Regierung

wisse, wie man Terroristen fange, bevorzuge aber, es nicht zu tun, weil

„Kriegspräsidenten“

wiedergewählt würden.

Ich weiß es nicht

tippte ich schließlich.

Ich weiß es wirklich nicht. Und ich stelle mir diese Frage wirklich oft, denn ich möchte nicht

hochgejagt werden, und ich möchte auch nicht, dass meine Stadt hochgejagt wird. Aber was ich weiß,

ist dies: Wenn es der Job des DHS ist, unsere Sicherheit zu gewährleisten, dann versagt es kläglich.

All der Budenzauber, den sie hier veranstaltet haben -- nichts davon würde einen Terroristen davon

abhalten, die Brücke ein zweites Mal zu sprengen. Unsere Spuren durch die ganze Stadt verfolgen?

Unsere Freiheit beschneiden? Uns dazu bringen, uns gegenseitig zu verdächtigen, und uns

gegeneinander ausspielen? Andersdenkende als Verräter beschimpfen? Das Ziel von Terrorismus ist

es, uns in Angst zu versetzen. Das DHS versetzt mich in Angst.

Ich habe keinen Einfluss darauf, was die Terroristen mir antun, aber wenn dies ein freies Land ist,

dann sollte ich zumindest ein Mitspracherecht darüber haben, was meine eigenen Polizisten mir

antun dürfen. Ich sollte in der Lage sein, sie davon abzuhalten, mich zu terrorisieren.

Ich weiß, dass das keine gute Antwort ist. Tut mir Leid.

Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, dass das DHS Terroristen nicht aufhalten könnte? Woher

wollen Sie das wissen?

Wer sind Sie?

Ich arbeite für den Sydney Morning Herald.

Ich bin 17 Jahre alt. Und ich bin bestimmt kein Einserschüler oder so was.

Und trotzdem habe ich

es fertiggebracht, ein Internet aufzubauen, das sie nicht anzapfen können. Ich

habe Methoden

ausgetüftelt, ihre Personenverfolgungs-Techniken zu manipulieren. Ich kann unschuldige Menschen

zu Verdächtigen und schuldige Menschen in ihren Augen zu Unschuldigen machen. Ich könnte Metall

in ein Flugzeug schmuggeln oder eine Flugverbots-Liste umgehen. Das alles habe ich

herausgefunden, indem ich ins Internet geschaut und darüber nachgedacht habe.

Wenn ich das kann,

können Terroristen es auch. Man hat uns gesagt, dass man uns unsere Freiheit nimmt, um uns mehr

Sicherheit zu geben. Fühlen Sie sich sicher?

In Australien? Oh, ja doch.

Alle Piraten lachten.

Weitere Journalisten stellten Fragen. Einige waren freundlich, andere feindselig.

Wenn ich müde

wurde, reichte ich meine Tastatur an Ange weiter und ließ sie für eine Weile M1k3y sein. Ich hatte

sowieso nicht mehr das Gefühl, dass M1k3y und ich dieselbe Person waren.

M1k3y war ein

Jugendlicher, der mit internationalen Journalisten sprach und eine Bewegung inspirierte. Marcus

wurde zeitweise der Schule verwiesen, stritt sich mit seinem Dad und fragte sich, ob er gut genug sei

für seine rattenscharfe Freundin.

Gegen elf Uhr hatte ich genug. Außerdem würden meine Eltern mich bald

daheim erwarten. Ich

loggte mich aus dem Spiel aus, Ange ebenso, und dann lagen wir für einen Moment bloß da. Ich nahm

ihre Hand in meine, und sie drückte sie fest. Wir umarmten uns.

Sie küsste meinen Nacken und murmelte etwas.

„Was?“

„Ich sagte, ich liebe dich“, sagte sie. „Soll ichs dir auch noch mal als Telegramm schicken?“

„Wow.“

„Überrascht dich das so sehr?“

„Nein. Hm. Es ist bloß ... Ich wollte grade dasselbe sagen.“

„Na klar“, sagte sie und biss mir in die Nasenspitze.

„Ich hab das bloß noch nie gesagt. Und solche Dinge brauchen etwas Vorlauf.“

„Du hast es aber immer noch nicht gesagt. Glaub nicht, ich hätte das nicht gemerkt. Wir Mädchen

nehmen es mit solchen Dingen sehr genau.“

„Ich liebe dich, Ange Carvelli,“ sagte ich.

„Ich liebe dich auch, Marcus Yallow.“

Wir küssten und streichelten einander, mein Atem wurde heftiger und ihrer auch.

Da klopfte ihre

Mutter an die Tür.

„Angela, ich denke, es ist an der Zeit, dass dein Freund sich auf den Weg macht, meinst du nicht

auch?“

„Ja, Mutter“, sagte sie und schwang eine imaginäre Axt. Während ich meine Socken und Schuhe

anzog, murmelte sie: „Sie werden sagen, diese Angela, sie war so ein gutes Mädchen, wer hätte das

gedacht, immer war sie hinten im Garten und half ihrer Mutter, indem sie diese Axt schärfte.“

Ich lachte. „Du glaubst gar nicht, wie gut du es hast. Es ist undenkbar, dass meine Leute uns in

meinem Zimmer bis elf Uhr nachts allein lassen würden.“

„Viertel vor zwölf“, sagte sie mit Blick auf die Uhr.

„Mist!“, schrie ich und schnürte meine Schuhe.

„Geh“, sagte sie, „renn und sei frei! Schau in beide Richtungen, bevor du über die Straße gehst!

Schreib, wenn du Arbeit findest! Halt bloß nicht noch mal für eine Umarmung an! Wenn du nicht bei

zehn draußen bist, dann gibt’s Ärger, mein Herr. Eins. Zwei. Drei.“

Ich brachte sie zum Schweigen, indem ich aufs Bett hüpfte, auf ihr landete und sie küsste, bis sie mit

Zählen aufhörte. Zufrieden mit meinem Sieg stapfte ich mit der Xbox unterm Arm die Treppe runter.

Ihre Mom stand unten an der Treppe. Wir waren uns erst ein paar Mal begegnet.

Sie sah wie eine

ältere, größere Variante von Ange aus -- laut Ange war ihr Vater der Kleinere --

und trug Kontaktlinsen

statt Brille. Sie schien mich vorläufig als einen netten Jungen eingestuft zu

haben, und ich wusste das

zu schätzen.

„Gute Nacht, Mrs. Carvelli.“

„Gute Nacht, Mr. Yallow.“ Das war eins unserer kleinen Rituale, seit ich sie bei unserer ersten

Begegnung als Mrs. Carvelli angesprochen hatte.

Ich blieb ein wenig unbeholfen an der Tür stehen.

„Ja?“, fragte sie.

„Äh, danke, dass ich hier sein darf.“

„In unserem Haus sind Sie stets willkommen, junger Mann“, sagte sie.

„Und danke für Ange“, sagte ich dann noch und hasste es, wie platt das klang.

Aber sie lächelte breit

und umarmte mich kurz.

„Sehr gern geschehen“, sagte sie.

Während der ganzen Busfahrt heim dachte ich an die Pressekonferenz, an Ange, die sich nackt mit

mir auf ihrem Bett wälzte, und an Anges Mutter, wie sie mich lächelnd nach draußen brachte.

Meine Mom war wach geblieben, um auf mich zu warten. Sie fragte mich nach dem Film, und ich

erzählte ihr, was ich mir vorab aus der Besprechung im „Bay Guardian“

zurechtgelegt hatte.

Beim Einschlafen dachte ich nochmals an die Pressekonferenz. Ich war wirklich stolz darauf, wie es

gelaufen war. Es war sehr cool gewesen, wie all diese Superjournalisten im Spiel aufgetaucht waren,

wie sie mir zuhörten und all den Leuten, die an dasselbe glaubten wie ich. Mit einem Lächeln auf den

Lippen schlief ich ein.

Ich hätte es besser wissen müssen.

XNET-ANFÜHRER: ICH KÖNNTE METALL IN EIN FLUGZEUG

SCHMUGGELN

DAS DHS REGIERT NICHT MIT MEINER ZUSTIMMUNG

XNET-KIDS: USA RAUS AUS SAN FRANCISCO

Und das waren noch die guten Schlagzeilen. Jeder sandte mir Artikel zum Bloggen, aber das war das

Letzte, was ich jetzt tun wollte.

Irgendwie hatte ich es vergeigt. Die Presse war zu meiner Pressekonferenz gekommen und hatte den

Eindruck gewonnen, dass wir Terroristen oder Terroristennachbildungen seien.

Am schlimmsten war

die Reporterin von Fox News, die offensichtlich doch noch aufgetaucht war und die uns einen

zehnminütigen Kommentar widmete, in dem sie über unseren „verbrecherischen Verrat“ sprach. Ihr

Kommentar gipfelte in diesem Abschnitt, der in jedem Nachrichtenkanal, den ich fand, wiederholt

wurde:

„Sie sagen, sie haben keinen Namen. Ich habe einen für sie. Nennen wir diese

verdorbenen Kinder

Kal-Kaida. Sie erledigen die Arbeit der Terroristen an der Heimatfront. Wenn --

nicht falls, sondern

wenn -- Kalifornien noch einmal angegriffen wird, dann werden diese Kröten ebenso viel Schuld

daran haben wie das Haus Saud.“

Führer der Antikriegsbewegung taten uns als Randerscheinung ab. Einer sagte sogar im Fernsehen, er

glaube, dass wir eine Erfindung des DHS seien, um die Bewegung in Misskredit zu bringen.

Das DHS hielt eine eigene Pressekonferenz ab, bei der angekündigt wurde, die Sicherheitsmaßnahmen in San Francisco zu verdoppeln. Sie zeigten einen RFID-Kloner und

demonstrierten den Einsatz, wobei sie so taten, als ginge es dabei um einen Autodiebstahl, und

warnten eindringlich vor jungen Menschen, die sich verdächtig verhielten, insbesondere, wenn man

ihre Hände nicht sehen könne.

Sie meinten es ernst. Ich beendete meinen Kerouac-Aufsatz und fing einen Text über den Sommer der

Liebe an, den Sommer 1967, als die Antikriegsbewegung und die Hippies in San Francisco

zusammenkamen. Die Gründer von Ben and Jerry‘s, selbst alte Hippies, hatten ein Hippie-Museum

im Haight gegründet, und es gab noch mehr Archive und Ausstellungen überall in der Stadt.

Aber dorthin zu kommen war nicht einfach. Am Ende der Woche wurde ich bereits durchschnittlich

vier Mal täglich gefilzt. Bullen checkten meinen Ausweis und fragten mich, was ich auf der Straße zu

tun hätte, wobei sie dem Brief von Chavez über meine Suspendierung immer besondere

Aufmerksamkeit schenkten.

Ich hatte Glück. Niemand verhaftete mich. Aber die anderen im Xnet hatten nicht so viel Glück. Jeden

Abend verkündete das DHS neue Verhaftungen; „Rädelsführer“ und „Mitläufer“

des Xnet, Leute, von

denen ich noch nie gehört hatte, wurden im Fernsehen vorgeführt, zusammen mit ihren RFIDSensoren

und anderen Gerätschaften, die man bei ihnen gefunden hatte. Das DHS

behauptete, diese

Leute würden „Namen nennen“ und das Xnet „bloßstellen“; man erwarte in Kürze weitere

Verhaftungen. Der Name „M1k3y“ fiel häufig.

Dad fand das alles toll. Er und ich sahen zusammen die Nachrichten, er mit diebischer Freude, ich im

inneren Rückzug, insgeheim halb wahnsinnig werdend. „Du müsstest mal das Zeug sehen, das sie

gegen diese Kids einsetzen werden“, sagte Dad. „Ich habe es schon in Aktion gesehen. Wenn sie eine

Handvoll dieser Kids haben, dann gehen sie ihre Buddy-Listen im Messenger und die Kurzwahlen in

den Handys durch und suchen nach Namen, die immer wieder mal auftauchen, nach Mustern, und so

erwischen sie immer mehr von ihnen. Sie werden das Xnet auseinanderdröseln wie einen alten

Pullover.“

Ich sagte Anges Abendessen bei uns ab und verbrachte statt dessen noch mehr Zeit bei ihr. Anges

kleine Schwester Tina fing an, mich den „Hausgast“ zu nennen, und sagte Sachen wie „Isst der

Hausgast heute mit mir zu Abend?“ Ich mochte Tina. Sie interessierte sich eigentlich nur fürs

Ausgehen, Feiern und Jungstreffen, aber sie war witzig und völlig vernarrt in Ange. Als wir einmal

abends das Geschirr abräumten, trocknete sie ihre Hände ab und sagte beiläufig:

„Weißt du, Marcus,

du scheinst ja ein netter Typ zu sein. Meine Schwester ist total in dich verknallt, und ich mag dich

auch ganz gern. Aber ich muss dir eins sagen: Wenn du ihr das Herz brichst, dann erwisch ich dich

und stülp dir deinen eigenen Hodensack über den Kopf. Und das sieht nicht schön aus.“

Ich versicherte ihr, eher würde ich mir selbst meine Hoden übern Kopf ziehen, als Anges Herz zu

brechen, und sie nickte. „So lange das mal klar ist.“

„Deine Schwester ist ein bisschen bekloppt“, sagte ich, als wir wieder auf Anges Bett lagen und Xnet-

Blogs lasen. Viel was sonst machten wir nicht -- rumgammeln und Xnet lesen.

„Oh, hat sie die Sack-Nummer gebracht? Ich hasse es, wenn sie das macht.

Weißt du, sie findet das

Wort „Hodensack“ einfach klasse. Nimms nicht persönlich.“

Ich küsste sie, und wir lasen weiter.

„Hör mal“, sagte sie. „Die Polizei rechnet für dieses Wochenende mit vier- bis sechshundert

Verhaftungen im Rahmen des, wie sie sagen, bislang größten abgestimmten Einsatzes gegen Xnet-Dissidenten.“

Mir kam das Essen hoch.

„Wir müssen das abbrechen“, sagte ich. „Weißt du, dass es sogar Leute gibt, die jetzt noch mehr

jammen, bloß um zu zeigen, dass sie sich nicht einschüchtern lassen? Ist das nicht völlig bescheuert?“

„Ich find, es ist mutig. Wir können es doch nicht zulassen, dass die uns einschüchtern bis zur

Unterwerfung.“

„Wie bitte? Nein, Ange, nein. Wir können nicht zulassen, dass Hunderte von Leuten im Knast enden.

Du warst nicht da. Ich schon. Und es ist schlimmer, als du denkst: Es ist sogar schlimmer, als du es dir

vorstellen kannst.“

„Ach, ich habe eine ziemlich lebhafte Fantasie.“

„Hör auf damit, ja? Sei doch mal einen Moment ernsthaft. Ich mach das nicht.

Ich schicke keine Leute

ins Gefängnis. Wenn ich das tue, dann bin ich genau der Typ, für den Van mich hält.“

„Marcus, ich meine das ernst. Denkst du etwa, diese Jungs wissen nicht, dass sie möglicherweise ins

Gefängnis kommen? Hey, die glauben an die Sache. Du glaubst doch auch dran.

Du kannst ihnen

ruhig zugestehen, dass sie wissen, was sie da tun. Die brauchen dich nicht, um zu entscheiden,

welches Risiko sie eingehen können und welches nicht.“

„Es ist aber meine Verantwortung, weil sie damit aufhören, wenn ich es ihnen sage.“

„Ich dachte, du bist nicht der Anführer?“

„Bin ich auch nicht; natürlich nicht. Aber ich kann nichts dafür, dass sie sich zur Orientierung an mich

halten. Und so lange sie das tun, so lange habe ich die Verantwortung, ihnen dabei zu helfen, in

Sicherheit zu sein. Das verstehst du doch, oder?“

„Ich verstehe nur, dass du bereit bist, beim ersten Anzeichen von Ärger die Kurve zu kratzen. Und ich

glaube, du hast Angst, dass sie dahinterkommen, wer du bist. Ich glaube, du hast um dich selbst

Angst.“

„Das ist nicht fair“, sagte ich, setze mich auf und rückte ein Stück ab von ihr.

„Ach nein? Wer hatte denn fast einen Herzinfarkt, als er glaubte, seine geheime Identität sei enttarnt?“

„Das war was anderes. Jetzt gehts nicht um mich. Und das weißt du auch.

Warum also benimmst du

dich so?“

„Warum benimmst DU dich so? Warum bist DU nicht mehr bereit, der Typ zu sein, der mutig genug

war, dies alles anzufangen?“

„Das hier ist nicht mutig, sondern selbstmörderisch.“

„Billiges Schülertheater, M1k3y.“

„Nenn mich nicht so!“

„Was, M1k3y? Warum nicht, M1k3y?“

Ich zog meine Schuhe an, schnappte meine Tasche und ging zu Fuß nach Hause.

Warum ich nicht mehr jamme

Ich werde keinem von euch erzählen, was er tun soll, weil ich nicht euer Anführer bin, egal, was die

Fox-News glauben.

Aber ich werde euch erzählen, was ich vorhabe. Wenn ihr denkt, dass es das Richtige ist, dann

macht ihr es ja vielleicht auch so.

Ich jamme nicht. Diese Woche nicht. Vielleicht auch nicht nächste Woche.

Nicht, weil ich Angst

habe. Sondern weil ich klug genug bin zu wissen, dass ich in Freiheit mehr tun kann als im Knast. Die

haben rausgefunden, wie sie unsere Taktik durchkreuzen können, also müssen wir uns eine neue

Taktik ausdenken. Es ist mir im Grunde egal, welche Taktik das ist, Hauptsache, sie funktioniert. Es

ist dumm, sich schnappen zu lassen. Es ist nur Jamming, wenn ihr damit durchkommt.

Und es gibt noch einen Grund, nicht zu jammen. Wenn ihr geschnappt werdet, dann könnten sie mit

eurer Hilfe eure Freunde schnappen, deren Freunde und die Freunde ihrer Freunde. Die könnten eure

Freunde sogar hopsnehmen, wenn die gar nicht im Xnet sind, weil das DHS sich benimmt wie eine

angeschossene Wildsau und es den Typen völlig egal ist, ob sie vielleicht einen Falschen geschnappt

haben.

Ich sage euch nicht, was ihr tun sollt.

Aber das DHS ist dumm, und wir sind klug. Jammen beweist, dass sie nicht in der Lage sind,

Terrorismus zu bekämpfen, weil es beweist, dass sie nicht mal eine Horde Jugendlicher aufhalten

können. Wenn ihr geschnappt werdet, dann sieht es so aus, als ob die klüger sind als wir.

DIE SIND NICHT KLÜGER ALS WIR! Wir sind klüger als die. Lasst uns klug sein. Lasst uns Wege

finden, sie zu jammen, egal, wie viele trottelige Schläger sie in unserer Stadt auf Streife schicken.

Ich postete es und ging ins Bett.

Ich vermisste Ange.

Ange und ich sprachen vier Tage lang nicht miteinander, das Wochenende inbegriffen, und dann war

es wieder Zeit, in die Schule zu gehen. Eine Million Mal hatte ich sie fast angerufen, eintausend EMails

und Instant Messages nicht versendet.

Jetzt war ich zurück im Gesellschaftskunde-Kurs, Mrs. Andersen begrüßte mich mit wortreichsarkastischer

Höflichkeit und fragte mich zuckersüß, wie denn mein „Urlaub“ gewesen sei.

Ich setzte

mich hin und murmelte irgendwas. Dabei konnte ich Charles kichern hören.

In dieser Stunde ging es um Manifest Destiny, den Gedanken, dass Amerikaner dazu auserwählt seien,

die ganze Welt zu erobern (zumindest klang es in ihrer Darstellung so), und sie schien mir zu

versuchen, mich zu irgendwelchen Reaktionen zu provozieren, um mich wieder rauswerfen zu

können.

Ich spürte die Blicke der ganzen Klasse auf mir, und das erinnerte mich an M1k3y und die Leute, die

zu ihm aufschauten. Ich hatte es satt, dass man zu mir aufschaute. Ich vermisste Ange.

Ich brachte den Rest des Tages hinter mich, ohne mir irgendwelche Kainszeichen einzuhandeln.

Schätzungsweise sagte ich keine acht Worte.

Endlich war es vorbei, und ich sauste zur Tür, zum Tor, raus zur blöden Mission und zu meinem

dämlichen Zuhause.

Ich war kaum zum Tor raus, als jemand in mich reinrannte. Es war ein junger Obdachloser, vielleicht

mein Alter oder ein bisschen älter. Er trug einen langen, speckigen Mantel, Jeans wie Kartoffelsäcke

und verwarzte Turnschuhe, die aussahen wie einmal durch den Häcksler gelaufen. Sein langes Haar

hing ihm ins Gesicht, und ein Zottelbart hing ihm bis runter in den Kragen eines völlig verblichenen

Strickpullis.

Das alles realisierte ich, während wir nebeneinander auf dem Bürgersteig lagen und die Leute an uns

vorbeihasteten und komisch guckten. Sah so aus, als sei er in mich reingerannt, während er Valencia

runterhastete, vermutlich von der Last seines Rucksacks gebeugt, der neben ihm auf dem Gehsteig

lag, eng bedeckt mit geometrischen Kritzeleien mit Filzstift.

Er setzte sich auf die Knie und wippte vor und zurück, als ob er betrunken war oder seinen Kopf

gestoßen hatte.

„Sorry, Kumpel“, sagte er. „Hab dich nicht gesehen. Biste verletzt?“ Ich setzte mich ebenfalls auf.

Nichts fühlte sich verletzt an.

„Hm, nein, alles OK.“

Er stand auf und lächelte. Seine Zähne waren erschreckend weiß und ebenmäßig,

die hätten auch eine

Anzeige für eine kieferorthopädische Klinik zieren können. Er streckte mir seine Hand entgegen, und

sein Griff war kräftig und bestimmt.

„Tut mir echt Leid.“ Auch seine Stimme war klar und aufgeweckt. Ich hätte erwartet, dass er klang

wie einer dieser Besoffenen, die mit sich selbst sprachen, wenn sie nachts durch die Straßen der

Mission wankten, aber er klang eher wie ein gut informierter Buchhändler.

„Kein Problem“, sagte ich.

Er streckte nochmals die Hand aus.

„Zeb.“

„Marcus.“

„Ein Vergnügen, Marcus,“ sagte er. „Hoffe, ich renne mal wieder in dich rein!“

Lachend schnappte er

seinen Rucksack, machte auf dem Absatz kehrt und eilte davon.

Den Rest des Weges nach Hause lief ich wie benebelt vor mich hin. Mom saß am Küchentisch, und

wir plauderten über dies und jenes, gerade so, wie wir es immer getan hatten, bevor sich alles änderte.

Ich ging rauf in mein Zimmer und ließ mich in meinen Stuhl fallen.

Ausnahmsweise hatte ich keine

Lust, mich ins Xnet einzuloggen. Das hatte ich schon heute früh vor der Schule getan und dabei

festgestellt, dass mein Blogeintrag eine gigantische Kontroverse ausgelöst hatte zwischen Leuten, die

sich meiner Meinung anschlossen, und anderen, die ernsthaft angepisst waren davon, dass ich ihnen

sagte, sie sollten ihren Lieblingssport aufgeben.

Hier lagen noch dreitausend Projekte rum aus der Zeit, bevor das alles angefangen hatte. Ich war

dabei, eine Lochkamera aus Legos zu bauen, und ich hatte ein bisschen mit Lenkdrachen-Luftbildfotografie rumgespielt, indem ich eine alte Digitalkamera mit einem Auslöser aus Hüpfknete

getunt hatte, der sich beim Start des Drachens ausdehnte, langsam zu seiner alten Form zurückfand

und dabei die Kamera in gleichmäßigen Abständen auslöste. Außerdem war da noch ein Vakuum-Röhrenverstärker, den ich in eine prähistorische, verrostete und verbeulte Olivenöl-Dose eingebaut

hatte -- sobald das erledigt war, wollte ich eine Docking-Station für mein Handy einbauen und das

Ganze um ein Set von 5.1-Surround-Boxen aus Tunfischdosen erweitern.

Ich schaute über meine Arbeitsplatte und griff mir schließlich die Lochkamera.

Gewissenhaft Legos

ineinanderzustecken war heute genau mein Tempo.

Ich nahm meine Uhr ab, ebenso den klobigen silbernen Zwei-Finger-Ring, der einen Affen und einen

Ninja in Zweikampfbereitschaft zeigte, und ließ beides in die kleine Kiste fallen,

die ich für das ganze

Zeug benutzte, das ich jeden Tag in die Taschen und um den Hals packe, bevor ich das Haus verlasse:

Handy, Brieftasche, Schlüssel, WLAN-Finder, Kleingeld, Akkus, aufrollbare Kabel, ... ich ließ alles

ins Kistchen ploppen und merkte plötzlich, dass ich etwas in der Hand hielt, das ich nicht in meine

Tasche gesteckt hatte.

Es war ein Stück Papier, grau und weich wie Flanell, ausgefasert an den Kanten, wo es aus einem

größeren Stück Papier herausgerissen worden war. Es war übersät mit der kleinsten, sorgfältigsten

Handschrift, die ich je gesehen hatte. Ich faltete es auf und nahm es hoch. Das Geschriebene bedeckte

beide Seiten, ohne Unterbrechung von der linken oberen Ecke bis zu einer kaum lesbaren Unterschrift

rechts unten auf der anderen Seite.

Die Unterschrift lautete einfach Zeb.

Ich nahm den Zettel und begann zu lesen.

Lieber Marcus

Du kennst mich nicht, aber ich kenne dich. Die letzten drei Monate, seit die Bay Bridge hochgejagt

wurde, wurde ich auf Treasure Island gefangen gehalten. Ich war an dem Tag im Hof, an dem du mit

dem asiatischen Mädchen sprachst und in die Mangel genommen wurdest. Du warst mutig. Respekt.

Ich hatte am folgenden Tag einen Blinddarmdurchbruch und kam in die Krankenstation. Im nächsten

Bett lag ein Typ namens Darryl. Wir waren beide eine ganze Weile in Rekonvaleszenz, und als wir

irgendwann wieder gesund waren, wäre es allzu lästig geworden, uns laufen zu lassen.

Also entschieden sie, dass wir wirklich schuldig sein müssten. Sie befragten uns jeden Tag. Du kennst

ihre Befragungen, das weiß ich. Stell dir dasselbe monatelang vor. Darryl und ich waren irgendwann

Zellengenossen. Wir wussten, dass sie uns verwanzt hatten, also redeten wir nur über belangloses

Zeug. Aber nachts auf unseren Pritschen haben wir uns leise Nachrichten mit Morse-Code zugeklopft

(ich wusste es immer, dass meine Amateurfunkerei irgendwann mal zu etwas gut ist).

Zuerst waren ihre Fragen an uns derselbe Dreck wie immer -- wer war es, wie haben sie es getan.

Aber ein bisschen später haben sie dann angefangen, uns über das Xnet zu befragen. Natürlich hatten

wir davon noch nie was gehört. Aber das hielt sie nicht vom Fragen ab.

Darryl erzählte mir, dass sie ihm RFID-Kloner, Xboxen und alles mögliche Technikzeug brachten und

von ihm verlangten, dass er ihnen erzählte, wer das benutzte und wo sie lernen würden, das Zeug zu

tunen. Darryl hat mir von euren Spielen erzählt und davon, was ihr dabei alles gelernt habt.

Insbesondere hat das DHS uns über unsere Freunde ausgefragt. Wen kannten wir? Wie waren sie so?

Hatten sie politische Ansichten? Hatten sie Ärger in der Schule oder mit dem Gesetz?

Wir nennen den Knast Gitmo-an-der-Bay. Ich bin jetzt seit einer Woche draußen, und ich glaube

nicht, dass hier irgend jemand eine Ahnung hat, dass ihre Söhne und Töchter mitten in der Bay

gefangen gehalten werden. Nachts konnten wir sogar die Leute auf dem Festland lachen und feiern

hören.

Letzte Woche bin ich rausgekommen. Ich erzähl dir nicht, wie, falls das hier in die falschen Hände

gerät. Mögen andere meiner Route folgen.

Darryl hat mir erzählt, wie ich dich finde, und ich musste ihm versprechen, dir alles zu berichten, was

ich weiß. Jetzt, da ich das getan habe, bin ich nix wie weg hier. Ich werde einen Weg finden, dieses

Land zu verlassen. Scheiß auf Amerika.

Bleib stark. Die haben Angst vor dir. Tritt sie von mir. Lass dich nicht erwischen.

Zeb

Als ich mit der Nachricht fertig war, hatte ich Tränen in den Augen. Irgendwo auf meinem

Schreibtisch hatte ich ein Einwegfeuerzeug, das ich manchmal benutzte, um die Isolierung von

Kabeln abzuschmelzen, und ich kramte es hervor und hielt es an den Zettel. Ich

wusste, ich schuldete

es Zeb, ihn zu zerstören, um sicherzugehen, dass niemand sonst ihn jemals finden würde, um sie nicht

auf seine Spur zu führen, wohin immer er jetzt ging.

Ich hielt die Flamme und den Zettel, aber ich brachte es nicht über mich.

Darryl.

Über all dem Zeugs mit dem Xnet und Ange und dem DHS hatte ich fast vergessen, dass es ihn gab.

Er war zu einem Geist geworden, wie ein Jugendfreund, der jetzt weggezogen oder auf einem

Austauschprogramm war. Und diese ganze Zeit hatten sie ihn befragt, von ihm verlangt, dass er mich

verrate, das Xnet erkläre und die Jammerei. Er war also auf Treasure Island, dem verlassenen

Militärstützpunkt eine halbe Länge der zerstörten Bay Bridge entfernt. Er war all die Zeit so nah

gewesen, dass ich zu ihm hätte hinschwimmen können.

Ich legte das Feuerzeug wieder weg und las den Zettel nochmals. Bis ich damit durch war, weinte und

schluchzte ich hemmungslos. Es kam alles zurück, die Lady mit dem strengen Haarschnitt, ihre

Fragen, der Geruch von Pisse und die Steifigkeit meiner Hose, als der Urin darin langsam trocknete.

„Marcus?“

Meine Tür stand offen, und darin stand meine Mutter, einen besorgten Ausdruck im Gesicht. Wie

lange mochte sie dort schon gestanden haben?

Ich wischte mir die Tränen weg und zog die Nase hoch. „Mom“, sagte ich. „Hi.“

Sie kam zu mir ins Zimmer und nahm mich in den Arm. „Was ist los? Möchtest du drüber sprechen?“

Die Nachricht lag auf dem Tisch. „Ist das von deiner Freundin? Ist alles in Ordnung?“

Sie hatte mir ein Hintertürchen geöffnet. Ich hätte es einfach alles auf Probleme mit Ange abwälzen

können, und sie wäre aus meinem Zimmer verschwunden und hätte mich allein gelassen. Ich öffnete

den Mund, um genau das zu sagen, und dann sagte ich statt dessen:

„Ich war im Gefängnis. Als sie die Brücke gesprengt hatten. Ich war die ganze Zeit im Knast.“

Die Schluchzer, die dann kamen, klangen kein Stück wie meine Stimme. Sie klangen wie die Stimme

eines Tiers, eines Esels vielleicht oder einer großen Katze in der Nacht. Ich schluchzte, dass meine

Kehle brannte und meine Brust bebte.

Mom nahm mich in ihre Arme, genau so, wie sie es früher getan hatte, als ich ein kleiner Junge war;

und dann streichelte sie mein Haar, murmelte mir etwas ins Ohr und wiegte mich hin und her, und

langsam, ganz langsam, ließ das Schluchzen nach.

Ich holte einmal tief Luft, und Mom holte mir ein Glas Wasser. Ich setzte mich auf meine Bettkante,

und sie setzte sich auf meinen Schreibtischstuhl, und dann erzählte ich ihr alles.

Alles.

Naja, fast alles.

Kapitel 16

Dieses Kapitel ist San Franciscos Booksmith gewidmet, versteckt im legendären Haight-Ashbury-Viertel, nur ein paar Türen

hinter Ben and Jerry‘s an eben dieser Ecke Haight und Ashbury. Die Leute von Booksmith wissen genau, wie man eine

Autorenlesung veranstalten muss -- als ich in San Francisco lebte, war ich ständig dort, um unglaubliche Autoren zu hören (William Gibson war unvergesslich). Sie produzieren auch kleine Sammelkarten für jeden Autor -- ich habe zwei von meinen

eigenen Lesungen dort.

Booksmith http://thebooksmith.booksense.com 1644 Haight St. San Francisco CA 94117 USA +1 415 863 8688

uerst wirkte Mom schockiert, dann wütend, und schließlich gab sie es ganz auf und saß bloß

noch mit offenem Mund da, während ich sie durch die Vernehmungen führte, durch mein

Einpinkeln, den Sack über meinem Kopf, Darryl. Ich zeigte ihr den Zettel. Z

„Warum ...?“

Es war alles in diesem einen Wort: All die Vorwürfe, die ich mir während der Nächte machte, jeder

Moment, den es mir an Mut mangelte, der Welt zu berichten, worum es wirklich ging, warum ich in

Wirklichkeit kämpfte und was das Xnet in Wahrheit inspiriert hatte.

Ich atmete tief durch.

„Sie haben mir gesagt, ich würde ins Gefängnis gehen, wenn ich darüber rede.

Nicht nur für ein paar

Tage. Für immer. Ich ... ich hatte Angst.“

Mom saß eine lange Zeit nur bei mir und sagte kein Wort. Dann: „Und was ist mit Darryls Vater?“

Genauso gut hätte sie mir eine Stricknadel in die Brust bohren können. Darryls Vater. Er musste

glauben, dass Darryl schon lange, lange tot war.

Und war er es etwa nicht? Wenn das DHS dich widerrechtlich drei Monate lang festgehalten hat,

lassen sie dich dann überhaupt noch mal raus?

Aber Zeb war rausgekommen. Vielleicht würde Darryl auch rauskommen.

Vielleicht konnten ich und

das Xnet dabei helfen, Darryl rauszubekommen.

„Ich hab es ihm nicht erzählt.“

Jetzt fing Mom an zu weinen. Das tat sie nicht oft; es war ihre britische Ader.

Das machte ihre kleinen

hicksenden Schluchzer noch viel schwerer zu ertragen.

„Du wirst es ihm erzählen“, brachte sie hervor. „Du musst.“

„Ja.“

„Aber zuerst müssen wir es deinem Vater erzählen.“

Dad kam längst nicht mehr zu einer bestimmten Zeit nach Hause. Durch seine Beratungstätigkeit --

seine Kunden hatten jetzt reichlich Arbeit, seit das DHS sich auf der Halbinsel nach Data-Mining-Startups umsah -- und die lange Pendelei nach Berkeley kam er irgendwann zwischen sechs Uhr

abends und Mitternacht nach Hause.

Heute abend rief Mom ihn an und sagte, er möge „auf der Stelle“ heimkommen.

Er entgegnete etwas,

und sie wiederholte bloß „auf der Stelle“.

Als er ankam, hatten wir uns im Wohnzimmer hingesetzt und den Zettel zwischen uns auf den

Kaffeetisch gelegt.

Beim zweiten Mal fiel das Erzählen leichter. Das Geheimnis war nicht mehr so drückend. Ich schönte

nichts, und ich verheimlichte nichts. Ich redete mir alles von der Seele.

Ich hatte die Phrase schon gehört, aber nie zuvor begriffen, was sie eigentlich bedeutete. Das

Geheimnis für mich zu behalten hatte mich beschmutzt, meinen Geist verdorben.

Es hatte mich

ängstlich und beschämt gemacht. Es hatte mich zu all dem gemacht, was Ange über mich gesagt hatte.

Dad saß die ganze Zeit steif wie ein Amboss da, sein Gesicht wie aus Stein gemeißelt. Als ich ihm den

Zettel reichte, las er ihn zwei Mal und legte ihn dann sorgfältig beiseite.

Er schüttelte den Kopf, stand auf und ging zur Haustür.

„Wohin gehst du?“, fragte Mom besorgt.

„Ich muss mal um den Block“, war alles, was er mit brechender Stimme hervorbrachte.

Wir sahen einander unsicher an, Mom und ich, und warteten auf seine Rückkehr.

Ich versuchte mir

vorzustellen, was in seinem Kopf vorgehen mochte. Nach den Attentaten war er ein so anderer

Mensch geworden, und ich wusste von Mom, dass das, was ihn geändert hatte, die Tage waren,

während derer er mich für tot gehalten hatte. Er war zu der Ansicht gelangt, dass die Terroristen

seinen Sohn beinahe getötet hatten, und das hatte ihn verrückt gemacht.

Verrückt genug, um alles zu tun, was das DHS von ihm verlangte: sich einzureihen wie ein braves

kleines Lamm, sich kontrollieren zu lassen, sich antreiben zu lassen.

Und nun wusste er, dass es das DHS war, das mich gefangen gehalten hatte, dasselbe DHS, das San

Franciscos Kinder in Gitmo-an-der-Bay als Geiseln hielt. Es war auch völlig logisch, jetzt, da ich

drüber nachdachte. Natürlich musste es Treasure Island sein, wo man mich gefangen gehalten hatte.

Was sonst war zehn Minuten Bootsfahrt von San Francisco entfernt?

Als Dad zurückkam, sah er so zorniger aus als jemals zuvor im Leben.

„Du hättest es mir erzählen müssen!“, polterte er.

Mom stellte sich zwischen ihn und mich. „Du beschuldigst den Falschen“, sagte sie. „Es war doch

nicht Marcus, der für das Kidnapping und die Einschüchterung verantwortlich

war.“

Er schüttelte den Kopf und stampfte. „Ich beschuldige nicht Marcus. Ich weiß nur zu genau, wer hier

schuld ist. Ich. Ich und das dumme DHS. Zieht eure Schuhe an und holt eure Mäntel.“

„Wohin gehen wir?“

„Zuerst zu Darryls Vater. Und dann besuchen wir Barbara Stratford.“

Der Name Barbara Stratford sagte mir irgendwas, aber mir fiel nicht ein, was.

Mochte sein, dass sie

eine alte Freundin meiner Eltern war, aber ich konnte sie nicht einordnen.

Erst mal waren wir jetzt zu Darryls Vater unterwegs. Ich hatte mich nie sehr wohl gefühlt in der

Gegenwart des alten Mannes, der Funker bei der Navy gewesen war und seinen Haushalt straff wie

auf dem Schiff organisierte. Er hatte Darryl schon Morsecode beigebracht, als der noch ein Kind war,

und das hatte ich ziemlich cool gefunden. Das war übrigens einer der Gründe dafür, dass ich wusste,

ich konnte Zebs Nachricht trauen. Aber auf jedes coole Ding wie Morsecode kam bei Darryls Vater

irgendeine schwachsinnige militärische Disziplinnummer aus anscheinend reinem Selbstzweck -- zum

Beispiel bestand er auf perfektes Bettenbauen und auf zwei Rasuren pro Tag.

Das trieb Darryl

ziemlich auf die Palme.

Darryls Mutter hatte das auch nicht so dufte gefunden und war zu ihrer Familie nach Minnesota

zurückgegangen, als Darryl zehn war; er verbrachte seine Sommer- und Weihnachtsferien dort.

Ich saß hinten im Auto und konnte den Hinterkopf meines Vaters betrachten, während er fuhr. Seine

Muskeln im Nacken waren angespannt und waren in steter Bewegung, weil er mit seinen Kiefern

mahlte.

Mom behielt ihre Hand auf seinem Arm, aber es war niemand da, der mich tröstete. Wenn ich doch

bloß Ange anrufen könnte. Oder Jolu. Oder Van. Naja, vielleicht, wenn dieser Tag rum war.

„Er muss seinen Sohn innerlich schon beerdigt haben“, sagte Dad, während wir uns auf den

Haarnadelkurven hinauf nach Twin Peaks dem Häuschen näherten, in dem Darryl und sein Vater

lebten. Es war neblig um Twin Peaks, wie so oft bei Nacht in San Francisco, und das

Scheinwerferlicht wurde zu uns zurückreflektiert. In jeder Kurve sah ich die Täler der Stadt tief unter

uns, Schüsseln voller glitzernder Lichter, die sich im Nebel bewegten.

„Ist es das?“

„Ja“, sagte ich, „das ist es.“ Ich war nun monatelang nicht bei Darryl gewesen, aber ich hatte in all

den Jahren genug Zeit hier verbracht, um sein Haus auf Anhieb zu erkennen.

Wir drei standen einen ausgedehnten Moment lang ums Auto herum, um zu sehen, wer gehen und an

der Tür klingeln würde. Zu meiner eigenen Überraschung war ich es.

Ich klingelte, und wir warten in angespanntem Schweigen eine Minute lang.

Dann klingelte ich

erneut. Der Wagen von Darryls Vater stand in der Auffahrt, und wir hatten im Wohnzimmer ein Licht

brennen sehen. Gerade wollte ich ein drittes Mal klingeln, als die Tür geöffnet wurde.

„Marcus?“ Ich erkannte Darryls Vater kaum wieder. Unrasiert, in einem Hausmantel und barfuß, mit

langen Zehennägeln und roten Augen. Er hatte Gewicht zugelegt, und unter dem kräftigen

Soldatenkinn war ein weiches Doppelkinn zu erkennen. Sein dünnes Haar war strähnig und

ungepflegt.

„Mr. Glover“, sagte ich. Meine Eltern schoben sich hinter mir zur Tür herein.

„Hallo, Ron“, sagte meine Mutter.

„Ron“, sagte mein Vater.

„Ihr auch? Was ist los?“

„Können wir reinkommen?“

Sein Wohnzimmer sah aus wie eins jener Zimmer, die man in den Nachrichtenmeldungen über

verwahrloste Jugendliche sieht, die einen Monat eingeschlossen sind, bevor sie von den Nachbarn

gerettet werden: Schachteln für Tiefkühlkost, leere Bierdosen und Saftflaschen, schmutzige

Müslischüsseln und stapelweise Zeitungen. Ein Hauch von Katzenpisse hing in der Luft, und Müll

knirschte unter unseren Füßen. Selbst ohne die Note von Katzenpisse wäre der Geruch unglaublich

gewesen, wie in einem Bahnhofsklo.

Die Couch war mit einem schmuddeligen Laken und ein paar fettig glänzenden Kissen bedeckt, und

die Polster waren eingedrückt wie nach vielen Nächten Schlaf.

Wir standen alle für einen langen, schweigsamen Moment da, während dessen Verlegenheit alle

anderen Gefühle überlagerte. Darryls Vater sah aus, als wolle er auf der Stelle sterben.

Langsam räumte er dann die Laken vom Sofa, räumte die Stapel schmutzigen Geschirrs von einigen

der Sofas und trug sie in die Küche, wo er sie, dem Geräusch nach zu urteilen, auf den Boden fallen

ließ.

Vorsichtig setzten wir uns auf die Plätze, die er freigeräumt hatte, dann kam er zurück und setzte sich

ebenfalls.

„Es tut mir Leid“, sagte er undeutlich. „Ich kann euch wirklich keinen Kaffee anbieten. Ich rechne für

morgen mit der Lebensmittellieferung, deshalb bin ich ein bisschen knapp ...“

„Ron“, sagte mein Vater. „Hör uns bitte zu. Wir haben dir etwas zu erzählen, und

es wird nicht leicht

sein, es anzuhören.“

Er saß wie eine Statue da, während ich berichtete. Dann starrte er auf den Zettel, las ihn

augenscheinlich, ohne ihn zu begreifen, und las ihn noch einmal. Dann gab er ihn mir zurück.

Er zitterte.

„Er ...“

„Darryl lebt“, sagte ich. „Darryl lebt, und er wird auf Treasure Island als Gefangener festgehalten.“ Er

presste seine Faust in seinen Mund und gab ein furchterregendes Stöhnen von sich.

„Wir haben eine Freundin“, sagte mein Vater. „Sie schreibt für den ‚Bay Guardian‘. Eine investigative

Reporterin.“

Daher also kannte ich den Namen. Die kostenlose Wochenzeitung „Guardian“

verlor häufiger ihre

Reporter an die größeren Tageszeitungen und ans Internet, aber Barbara Stratford war dort schon seit

Ewigkeiten. Ich hatte eine vage Erinnerung an ein Abendessen mit ihr, als ich ein Kind war.

„Wir gehen jetzt zu ihr“, sagte meine Mutter. „Wirst du mit uns kommen, Ron?

Wirst du ihr Darryls

Geschichte erzählen?“

Er schlug die Hände vors Gesicht und atmete schwer. Dad versuchte ihm die Hand auf die Schulter zu

legen, aber Mr. Glover schüttelte sie vehement ab.

„Ich muss mich auf Vordermann bringen“, sagte er. „Gebt mir eine Minute.“

Mr. Glover kam als veränderter Mensch wieder die Treppe herunter. Er hatte sich rasiert und sein

Haar zurückgegelt, und er hatte eine makellose Militär-Ausgehuniform mit einer Reihe Abzeichen auf

der Brust angezogen. Am Fuß der Treppe blieb er stehen und wies auf die Uniform.

„Ich habe momentan nicht allzu viele saubere Sachen, die vorzeigbar sind. Und das hier schien mir

angemessen. Ihr wisst schon, falls sie Fotos machen möchte.“

Er und Dad saßen vorn und ich auf dem Rücksitz hinter ihm. Aus der Nähe roch er ein wenig nach

Bier, als ob es durch seine Poren käme.

Als wir in Barbara Stratfords Einfahrt bogen, war es bereits Mitternacht. Sie lebte außerhalb der Stadt,

unten in Mountain View, und während wir über die 101 sausten, sprach keiner von uns ein Wort. Die

Hightech-Gebäude längs des Highways flitzten an uns vorbei.

Das war eine ganz andere Bay Area als die, in der ich lebte, eher wie das kleinstädtische Amerika, das

ich manchmal im Fernsehen sah. Jede Menge Autobahnen und segmentierte Ansammlungen

identischer Häuser; Städte, in denen kein einziger Obdachloser seinen Einkaufswagen den Bürgersteig

entlang schob -- hier gab es nicht einmal Bürgersteige!

Mom hatte Barbara Stratford angerufen, während wir darauf warteten, dass Mr.

Glover wieder

runterkam. Die Journalistin hatte schon geschlafen, aber Mom war so erregt gewesen, dass sie völlig

vergessen hatte, sich britisch zu benehmen und peinlich berührt zu sein, sie geweckt zu haben; statt

dessen hatte sie ihr nachdrücklich erzählt, dass sie etwas zu besprechen habe und dass es persönlich

sein müsse.

Als wir zu Barbara Stratfords Haus hochrollten, war meine erste Assoziation Brady Bunch -- ein

geducktes Ranch-Haus mit Ziegelverblendung und ordentlichem, vollkommen quadratischem Rasen.

Die Verblendung hatte ein abstraktes Kachelmuster, und dahinter ragte eine altmodische UHF-TVAntenne

hervor. Wir gingen ums Haus herum zum Eingang und sahen, dass drinnen bereits Licht

brannte.

Die Schreiberin öffnete die Tür, bevor wir auch nur eine Chance hatten, den Klingelknopf zu drücken.

Sie war etwa so alt wie meine Eltern, mit scharf profilierter Nase und klugen Augen mit vielen

Lachfältchen. Sie trug Jeans, die hip genug waren, um auch in einer der Boutiquen auf Valencia Street

durchzugehen, und eine weite indische Baumwollbluse, die ihr bis über die

Oberschenkel hing. Ihre

kleinen runden Brillengläser blitzten im Licht ihres Korridors.

Sie schenkte uns die Andeutung eines Lächelns.

„Wie ich sehe, seid ihr mit der ganzen Sippe angereist.“

Mom nickte. „Du wirst gleich verstehen, warum“, sagte sie.

Mr. Glover trat hinter Dad hervor.

„Und die Navy habt ihr auch angefordert?“

„Alles zu seiner Zeit.“

Wir wurden ihr vorgestellt. Sie hatte einen festen Händedruck und langgliedrige Finger.

Ihr Heim war japanisch-minimalistisch eingerichtet mit nur wenigen wohlproportionierten, niedrigen

Möbelstücken, großen Tongefäßen mit Bambus, dessen Wedel bis zur Decke ragten, und etwas, das

aussah wie großes, verrostetes Bauteil eines Dieselaggregats auf einem polierten Marmorsockel. Ich

entschied mich dafür, es zu mögen. Die Fußböden waren altes Holz, gesandet und gebeizt, aber nicht

versiegelt, so dass man Risse und Vertiefungen unter dem Firnis sehen konnte.

Das mochte ich

wirklich sehr, insbesondere, als ich auf Socken darüberlief.

„Ich habe Kaffee aufgesetzt“, sagte sie. „Wer möchte welchen?“ Wir hoben alle die Hände. Ich blickte

meine Eltern herausfordernd an.

„Okay“, sagte sie.

Sie verschwand in einem anderen Raum und kam kurz darauf mit einem groben Bambustablett

zurück, auf dem eine Zwei-Liter-Thermoskanne und sechs Tassen in sehr präziser Formgebung, aber

grobschlächtiger Dekoration standen. Die mochte ich auch.

„Nun denn“, sagte sie, nachdem sie eingeschenkt und verteilt hatte. „Es ist sehr schön, euch alle mal

wieder zu sehen. Marcus, als ich dich letztes Mal gesehen habe, warst du ungefähr sieben Jahre alt.

Und wenn ich mich recht erinnere, warst du damals sehr begeistert von deinen neuen Videospielen,

die du mir gezeigt hast.“

Ich erinnerte mich daran überhaupt nicht, aber es klang genau nach dem, wofür ich mich mit sieben

begeistert hatte. Musste wohl meine Sega Dreamcast gewesen sein.

Sie holte ein Tonbandgerät, einen gelben Block und einen Kugelschreiber und drehte den Stift auf.

„Ich bin bereit, anzuhören, was immer ihr mir zu erzählen habt, und ich kann euch versprechen, dass

ich alles, was ich höre, vertraulich behandeln werde. Aber ich kann nicht versprechen, dass ich das,

was ich höre, irgendwie verwenden werde oder dass es veröffentlicht werden wird.“ Die Art, wie sie

das sagte, machte mir klar, dass diese Lady meiner Mom, die sie aus dem Bett geklingelt hatte, einen

sehr großen Dienst erwies, Freundinnen hin oder her. Berühmte investigative Reporterin musste

manchmal ein ganz schöner Scheißjob sein. Wahrscheinlich waren eine Million Leute heiß drauf, dass

sie sich ihrer Fälle annahm.

Mom nickte mir zu. Obwohl ich die Story in dieser Nacht schon drei Mal erzählt hatte, ging sie mir

dieses Mal nicht so leicht über die Lippen. Das hier war was anderes, als es meinen Eltern zu

erzählen. Es war auch was anderes, als es Darryls Vater zu erzählen. Das hier, das würde dem Spiel

eine völlig neue Wendung geben.

Ich fing langsam an und beobachtete Barbara dabei, wie sie sich Notizen machte.

Ich trank eine ganze

Tasse Kaffee nur während der Erklärung, was ARG war und wie ich zum Spielen aus der Schule

rauskam. Mom, Dad und Mr. Glover hörten dabei besonders aufmerksam zu. Ich schenkte mir eine

zweite Tasse ein und trank sie über dem Bericht unserer Festnahme aus. Als ich mit der kompletten

Geschichte durch war, hatte ich die Kanne leer gemacht und hatte Druck auf der Blase wie ein

Rennpferd.

Ihr Badezimmer war genauso puristisch wie das Wohnzimmer, und es gab braune Öko-Seife, die wie

reiner Schlamm roch. Ich kam wieder zurück und sah die Augen aller

Erwachsenen auf mir ruhen.

Dann erzählte Mr. Glover seine Geschichte. Er konnte nichts darüber berichten, was passiert war, aber

er erzählte, dass er ein Veteran sei und sein Sohn ein guter Junge. Er sprach darüber, wie er sich

gefühlt hatte, als er annehmen musste, dass sein Sohn tot war, und wie seine Ex-Frau einen

Zusammenbruch erlitten hatte und in die Klinik kam. Er weinte ein wenig und schämte sich nicht

dafür, wie die Tränen über sein zerfurchtes Gesicht liefen und den Kragen seiner Ausgehuniform

benetzten.

Als alles gesagt war, verschwand Barbara in einem anderen Zimmer und kam mit einer Flasche

irischem Whiskey zurück. „Ein 15-jähriger Bushmills, im Rum-Fass gelagert“, sagte sie, während sie

vier kleine Gläser hinstellte. Keins für mich. „Dieser hier wird seit zehn Jahren nicht mehr verkauft.

Ich glaube, dies ist wohl ein angemessener Moment, ihn anzubrechen.“

Sie goss allen ein kleines Gläschen ein, hob ihres, nippte daran und leerte es zur Hälfte. Die anderen

taten es ihr nach. Sie tranken nochmals und leerten die Gläser. Sie goss ihnen neu ein.

„Also“, begann sie. „Im Moment kann ich euch folgendes sagen: Ich glaube euch. Nicht nur, weil ich

dich kenne, Lillian. Die Story klingt schlüssig und fügt sich in einige andere

Gerüchte ein, die mir

zugetragen wurden. Aber es wird nicht reichen, mich allein auf euer Wort zu verlassen. Ich werde

jeden einzelnen Aspekt dieser Sache recherchieren müssen und jedes kleine Teilchen eures Lebens

und eurer Geschichte. Ich muss wissen, ob es irgend etwas gibt, das ihr mir noch nicht erzählt habt

und das dazu dienen könnte, euch zu diskreditieren, nachdem diese Sache ans Licht kommt. Ich

brauche alles. Es könnte Wochen dauern, bevor ich etwas veröffentlichen kann.

Ihr müsst auch an eure Sicherheit denken und an die Sicherheit dieses Darryl.

Wenn er wirklich eine

‚Unperson‘ ist, dann könnte jeder Druck, den wir auf das DHS ausüben, dazu führen, dass sie ihn sehr

weit weg bringen, zum Beispiel nach Syrien. Sie könnten auch etwas noch viel Schlimmeres tun.“ Sie

ließ das so in der Luft hängen. Ich wusste, dass sie meinte, sie könnten ihn töten.

„Ich werde jetzt diese Nachricht einscannen. Und ich brauche Fotos von euch beiden, jetzt gleich und

später. Wir können noch einen Fotografen rumschicken, aber ich will alles heute Nacht schon

möglichst sorgfältig dokumentieren.“

Ich ging mit in ihr Büro, um zu scannen. Ich hatte einen schicken Kleincomputer erwartet, der zur

Einrichtung passte, aber tatsächlich war ihr kombiniertes Schlaf- und Arbeitszimmer gerammelt voll

mit High-End-Rechnern, großen Flachbildschirmen und einem Monster-Scanner, mit dem man eine

ganze Zeitungsseite auf einmal einlesen konnte. Und mit all dem ging sie sehr souverän um. Mit

einiger Befriedigung registrierte ich, dass sie mit ParanoidLinux arbeitete. Diese Lady nahm ihren Job

ernst.

Die Computerlüfter sorgten schon für sehr effektive Geräuschunterdrückung, dennoch schloss ich die

Tür und trat nah an sie heran.

„Barbara?“

„Ja?“

„Was Sie vorhin gesagt haben, über Dinge, die geeignet wären, mich zu diskreditieren ...“

„Ja?“

„Was ich Ihnen erzähle: Man kann Sie doch nicht zwingen, das jemandem weiterzuerzählen?“

„Theoretisch schon. Aber sagen wir so: Ich bin schon zwei Mal ins Gefängnis gegangen, statt einen

Informanten preiszugeben.“

„OK, OK. Gut. Wow. Knast. Wow. OK.“ Ich atmete tief ein. „Sie haben doch schon vom Xnet und

von M1k3y gehört?“

„Ja, und?“

„Ich bin M1k3y.“

„Oh“, sagte sie. Sie hantierte am Scanner und drehte den Zettel um, um auch die Rückseite

einzulesen. Sie scannte mit irgendeiner unglaublich hohen Auflösung, 10.000

dpi oder noch mehr, und

am Schirm sah der Scan aus wie der Ausdruck eines Rastertunnelmikroskops.

„Nun, das wirft ein anderes Licht auf die Sache.“

„Ja“, sagte ich. „So siehts wohl aus.“

„Und deine Eltern wissen nichts davon.“

„Nichts. Und ich bin nicht sicher, ob sies wissen sollten.“

„Das ist etwas, das du selbst entscheiden musst. Ich muss drüber nachdenken.

Kannst du mich im

Büro besuchen? Ich würde gern mit dir darüber sprechen, was genau das alles bedeutet.“

„Haben Sie eine Xbox Universal? Ich würde einen Installer mitbringen.“

„Ja, ich bin sicher, das lässt sich arrangieren. Wenn du kommst, dann sag am Empfang, dass du Mr.

Brown bist und mich sprechen möchtest. Dort wissen sie, was das bedeutet.

Deine Ankunft wird

nirgends registriert, und die Aufzeichnungen dieses Tages aus den Überwachungskameras werden

automatisch gelöscht und die Kameras ausgeschaltet, bis du wieder gehst.“

„Wow,“ sagte ich. „Sie denken wie ich.“

Sie lächelte und knuffte mich in die Schulter. „Mein Junge, ich bin schon verdammt lange in diesem

Spiel. Und bislang habe ich es geschafft, mehr Zeit in Freiheit als hinter Gittern

zu verbringen.

Paranoia ist meine Freundin.“

Am nächsten Tag hing ich wie ein Zombie in der Schule rum. Ich hatte nur noch drei Stunden Schlaf

bekommen, und nicht mal drei Tassen Koffeinschlamm beim Türken hatten mein Gehirn auf Touren

bringen können. Das Problem mit Koffein ist, dass man sich zu leicht dran gewöhnt und dann immer

höhere Dosen braucht, nur um sein Level zu halten.

Ich hatte in der Nacht darüber gegrübelt, was ich zu tun hatte. Und es war so, wie durch ein Labyrinth

mit lauter verzweigten kleinen Gängen zu rennen, die alle gleich aussahen und alle in der gleichen

Sackgasse endeten. Wenn ich zu Barbara ging, war es aus für mich. Darauf lief es hinaus, ich konnte

es drehen und wenden, wie ich wollte.

Als der Schultag vorbei war, wollte ich bloß noch heim und ins Bett kriechen.

Aber ich hatte eine

Verabredung beim „Bay Guardian“ unten am Wasser. Ich hielt meinen Blick auf meine Füße gerichtet,

als ich aus dem Tor rauswankte, und als ich in die 24. Straße abbog, lief plötzlich ein zweites Paar

Füße neben meinen her. Ich erkannte die Schuhe und blieb stehen.

„Ange?“

Sie sah so aus, wie ich mich fühlte. Übernächtigt, mit Waschbäraugen und einem

traurigen Zug um

die Mundwinkel.

„Hi du,“ sagte sie. „Überraschung. Ich habe mir selbst schulfrei gegeben. Konnte mich sowieso nicht

mehr konzentrieren.“

„Äh.“

„Halt den Mund und umarm mich, du Idiot.“

Tat ich sofort. Mann, war das gut. Besser als gut. Ich fühlte mich, als hätte ich einen Teil meiner selbst

amputiert, und jetzt hätte man ihn wieder angeflickt.

„Ich liebe dich, Marcus Yallow.“

„Ich liebe dich, Angela Carvelli.“

„OK“, unterbrach sie. „Ich mochte deinen Blogeintrag darüber, warum du nicht mehr jammst. Kann

ich respektieren. Und wie weit bist du mit deiner Suche nach einer Methode, sie zu jammen, ohne

dich erwischen zu lassen?“

„Ich gehe grade zu einer Verabredung mit einer investigativen Journalistin, die eine Story darüber

drucken will, wie ich in den Knast gekommen bin, wie ich das Xnet ins Leben gerufen habe und wie

Darryl vom DHS widerrechtlich in einem Geheimknast auf Treasure Island gefangen gehalten wird.“

„Oh.“ Sie blickte sich kurz um. „Hättest du dir nicht auch was ... Ehrgeiziges ausdenken können?“

„Kommst du mit?“

„Ich komm mit, ja. Und wenns dir nichts ausmacht, könntest du mir auf dem Weg dahin auch schon

mal alles im Detail erklären.“

Nach all den wiederholten Erzählungen fiel mir diese am leichtesten; während wir zur Potrero Avenue

und runter zur 15. Straße liefen, hielt sie meine Hand und drückte sie häufig.

Wir nahmen zu den Büroräumen des „Bay Guardian“ hoch immer zwei Treppenstufen auf einmal.

Mein Herz wummerte. Ich kam am Empfangstresen an und sagte dem gelangweilten Mädchen

dahinter: „Ich bin hier mit Barbara Stratford verabredet. Mein Name ist Mr.

Green.“

„Ich nehme an, Sie meinen Mr. Brown?“

„Ja.“ Ich errötete. „Mr Brown.“

Sie machte irgendwas an ihrem Computer und sagte dann: „Nehmen Sie Platz.

Barbara wird in einer

Minute bei Ihnen sein. Kann ich Ihnen irgend etwas anbieten?“

„Kaffee“, sagten wir wie aus einem Mund. Noch ein Grund, Ange zu lieben: Wir waren von derselben

Droge abhängig.

Die Rezeptionistin -- eine hübsche Latina, kaum älter als wir, in Gap-Klamotten so alt, dass sie schon

wieder retro-schick waren -- nickte, ging hinaus und kam mit zwei Bechern zurück, die mit dem Logo

der Zeitung bedruckt waren.

Wir schlürften still vor uns hin und beobachteten das Kommen und Gehen von Besuchern und

Reportern. Endlich kam Barbara auf uns zu. Sie trug ziemlich genau das Gleiche wie in der Nacht

zuvor. Stand ihr gut. Sie hob eine Augenbraue, als sie sah, dass ich jemanden mitgebracht hatte.

„Hallo“, sagte ich. „Äh, das ist ...“

„Ms. Brown“, warf Ange ein und streckte ihr die Hand entgegen. Ach klar, unsere Identitäten sollten

ja geheim bleiben. „Ich arbeite mit Mr. Green zusammen.“ Sie stupste mich mit dem Ellenbogen an.

„Gehen wir also“, sagte Barbara und führte uns in einen Konferenzraum mit langen Glaswänden,

deren Jalousien geschlossen waren. Sie legte ein Tablett voller Whole-Foods-Biokekse, einen

Digitalrecorder und wieder einen gelben Block auf den Tisch.

„Möchtest du, dass ich das hier auch aufzeichne?“, fragte sie.

Hatte mir darüber echt noch keine Gedanken gemacht. Mir war klar, dass es nützlich sein könnte,

wenn ich nachträglich dementieren wollte, was Barbara gedruckt haben würde.

Trotzdem: Wenn ich

mich nicht drauf verlassen konnte, dass sie meine Aussagen korrekt behandelte, dann war ich sowieso

geliefert.

„Nein, ist schon okay“, sagte ich.

„Nun gut, dann los. Junge Dame, mein Name ist Barbara Stratford, und ich bin eine investigative

Reporterin. Ich vermute, dass Sie wissen, warum ich hier bin, und es würde mich interessieren zu

erfahren, warum Sie hier sind.“

„Ich arbeite mit Marcus im Xnet. Müssen Sie meinen Namen wissen?“

„Jetzt noch nicht unbedingt“, sagte Barbara. „Sie können anonym bleiben, wenn Sie möchten.

Marcus, ich hatte dich gebeten, mir diesen Teil der Geschichte zu erzählen, weil ich wissen muss, wie

sie mit der Geschichte über deinen Freund Darryl und den Zettel, den du mir gezeigt hast,

zusammenpasst. Ich könnte mir vorstellen, dass sie eine gute Dreingabe wäre: Ich könnte sie als den

Ursprung des Xnet darstellen. ‚Sie machten sich einen Feind, den sie nie vergessen werden‘, etwas in

dieser Art. Aber ehrlich gesagt würde ich diese Story lieber nicht erzählen, wenn es sich irgendwie

vermeiden lässt.

Ich hätte viel lieber eine hübsche, saubere Geschichte über das Geheimgefängnis vor unserer Haustür,

ohne darauf eingehen zu müssen, inwiefern die Gefangenen dort die Sorte Leute sind, die, kaum

draußen, sofort eine Untergrundbewegung ins Leben rufen, um die Regierung zu destabilisieren. Ich

bin sicher, das wirst du verstehen.“

Allerdings. Wenn das Xnet ein Teil der Story war, würden manche Leute sagen, seht ihr, solche Typen

muss man wegsperren, sonst starten sie einen Aufruhr.

„Es ist Ihre Show“, sagte ich. „Ich denke, Sie müssen der Welt von Darryl erzählen. Und wenn Sie

das tun, dann wird es dem DHS zeigen, dass ich an die Öffentlichkeit gegangen bin, und dann sind sie

wieder hinter mir her. Vielleicht finden sie dann auch raus, dass ich mit dem Xnet zu tun habe, und

stellen eine Verbindung zu M1k3y her. Schätze mal, was ich damit sagen will, ist, sobald Sie über

Darryl schreiben, ist es für mich so oder so vorbei. Damit hab ich meinen Frieden gemacht.“

„Ob du nun als Schaf oder als Lamm gehängt wirst ...“, sagte sie. „Gut, das wäre geklärt. Ich möchte,

dass ihr beide mir möglichst alles über die Entstehung und den Betrieb des Xnet erzählt, und dann

möchte ich eine Vorführung. Wofür benutzt ihr es? Wer benutzt es sonst noch?

Wie hat es sich

verbreitet? Wer hat die Software geschrieben? Alles.“

„Das wird ne Weile dauern“, sagte Ange.

„Ich habe eine Weile Zeit“, entgegnete Barbara. Sie trank einen Schluck Kaffee und aß einen Keks.

„Dies könnte sich zur wichtigsten Geschichte über den Krieg gegen den Terror entwickeln. Es könnte

die Geschichte werden, die die Regierung stürzt. Und so eine Story hat alle

denkbare Sorgfalt

verdient.“

Kapitel 17

Dieses Kapitel ist Waterstone‘s gewidmet, der landesweiten britischen Buchhandelskette. Waterstone‘s ist zwar eine Kette von Läden, aber jeder einzelne hat die Ausstrahlung einer großartigen unabhängigen Buchhandlung mit ausgeprägtem

Charakter, phantastischem Sortiment (vor allem bei Hörbüchern!) und fachkundigem Personal.

Waterstones http://www.waterstones.com

lso erzählten wir es ihr. Und es machte mir sogar Spaß. Leuten beizubringen, wie sie eine

bestimmte Technologie benutzen können, ist immer spannend. Es ist so cool, den Leuten dabei

zuzugucken, wie sie versuchen, aus all der Technik um sie herum das Beste für sich selbst

rauszuholen. Ange war auch klasse -- wir waren ein Spitzen-Team. Wir wechselten uns dabei ab, zu

erklären, wie das alles funktionierte. Wie zu erwarten, war Barbara ziemlich gut mit solchen Sachen.

A

Wir erfuhren, dass sie über die Krypto-Kriege berichtet hatte, jene Epoche in den frühen Neunzigern,

als Bürgerrechtsgruppen wie die Electronic Frontier Foundation für das Recht jedes Amerikaners

gekämpft hatten, starke Verschlüsselung benutzen zu dürfen. Ich hatte schon ein

bisschen was über

diese Phase gehört, aber Barbara erklärte sie auf eine Art, dass ich Gänsehaut bekam.

Man kann es sich heute nicht mehr vorstellen, aber es gab mal eine Zeit, als die Regierung

Kryptografie als Munition eingestuft und den Export und die Verwendung aus Gründen der nationalen

Sicherheit generell verboten hatte. Verstanden? Wir hatten mal illegale Mathematik in diesem Land.

Die National Security Agency war die eigentliche Strippenzieherin bei diesem Verbot. Sie hatte einen

Verschlüsselungsstandard, den sie für sicher genug hielt für die Benutzung durch Banken und ihre

Kunden, aber nicht so sicher, dass die Mafia damit ihre Buchhaltung geheim halten könnte. Der

Standard, DES-56, galt als praktisch nicht zu knacken. Dann baute einer der Co-Gründer der EFF, ein

Millionär, für 250.000 Dollar einen DES-56-Cracker, der einen solchen Schlüssel in zwei Stunden

knacken konnte.

Doch die NSA argumentierte weiterhin, dass man amerikanische Bürger davon abhalten können

müsse, Geheimnisse zu haben, die der NSA unzugänglich blieben. Dann holte die EFF zum

vernichtenden Schlag aus. 1995 vertrat sie einen Berkeley-Mathematikstudenten namens Dan

Bernstein vor Gericht. Bernstein hatte eine Verschlüsselungs-Anleitung geschrieben, die

Computercode enthielt, der geeignet war, Schlüssel zu erstellen, die stärker als DES-56 waren.

Millionen Male stärker. Aus Sicht der NSA war dieser Artikel eine Waffe und durfte deshalb nicht

veröffentlicht werden.

Mag sein, dass es schwer ist, einem Richter begreiflich zu machen, was Kryptografie ist und was sie

bedeutet, aber es stellte sich heraus, dass der typische Berufungsrichter nicht allzu ehrgeizig ist,

Studenten vorzuschreiben, welche Art von Artikeln sie schreiben dürfen und welche nicht. Die

Krypto-Kriege endeten mit einem Sieg der Guten, als der 9th Circuit Appellate Division Court urteilte,

Computercode sei eine Form des Ausdrucks, die vom First Amendment geschützt werde („Der

Kongress soll kein Gesetz erlassen, das die Redefreiheit einschränkt“). Wenn du schon jemals was im

Internet eingekauft hast, eine geheime Nachricht verschickt oder deine Kontoauszüge online

angeguckt, dann hast du Verschlüsselung verwendet, die die EFF legalisiert hat.

Auch gut zu wissen:

Die NSA ist nicht unendlich klug. Alles, was die knacken können, können Terroristen und Mafiosi

genauso.

Barbara war eine von den Reportern gewesen, die ihren Ruf auf die Berichterstattung über diesen Fall

gründeten. Sie hatte sich darin verbissen, über die San Franciscoer Bürgerrechtsbewegung zu

schreiben, und die Gemeinsamkeiten zwischen dem Kampf um die Verfassung in der echten Welt und

dem Kampf im Cyberspace erkannt.

Daher begriff sie es. Ich glaube nicht, dass ich meinen Eltern all das Zeug hätte erklären können, aber

mit Barbara war es ganz leicht. Sie stellte kluge Fragen über unsere kryptografischen Protokolle und

die Sicherheitsmaßnahmen, auf die ich manchmal selbst keine Antwort wusste, und wies auf

Schwachstellen in unserem Verfahren hin.

Wir stöpselten die Xbox ein und gingen online. Vom Besprechungszimmer aus waren vier offene

Funknetze sichtbar, und ich richtete es so ein, dass wir in unregelmäßigen Abständen zwischen ihnen

wechselten. Das begriff sie auch -- sobald du erst mal im Xnet drin warst, war es genau so wie eine

normale Internetverbindung, außer dass einige Sachen etwas langsamer liefen und dass alles anonym

und nicht zu verfolgen war.

„Und jetzt?“, fragte ich, als wir die Box runterfuhren. Ich hatte mich heiser geredet und ein grässlich

übersäuertes Gefühl von all dem Kaffee. Außerdem drückte Ange die ganze Zeit

unterm Tisch meine

Hand in einer Art und Weise, dass ich nur noch mit ihr weglaufen und ein privates Fleckchen finden

und unsere unvollendete erste Nacht zu Ende bringen wollte.

„Jetzt betreibe ich Journalismus. Ihr geht, und ich recherchiere all die Dinge, die ihr mir erzählt habt,

und versuche sie möglichst genau zu verifizieren. Ich werde euch zeigen, was ich veröffentlichen

werde, und ich werde euch wissen lassen, wann es veröffentlicht wird. Es wäre mir sehr lieb, wenn ihr

ab jetzt mit niemandem mehr über die Sache redet, denn ich möchte diesen Scoop und ich möchte

sicherstellen, dass ich die Story in trockenen Tüchern habe, bevor sie vor lauter Pressespekulationen

und Beeinflussung durch das DHS verwässert wird.

Ich werde das DHS anrufen und um eine Stellungnahme bitten müssen, bevor wir in Druck gehen,

aber ich werde das so tun, dass es euch in jeder nur denkbaren Weise schützt. Ich werde euch

selbstverständlich auch darüber im Voraus informieren.

Aber eines muss ich jetzt noch sagen: Das ist nun nicht mehr eure Geschichte.

Es ist meine. Ihr wart

sehr großzügig, sie mir zu überlassen, und ich werde versuchen, mich dafür erkenntlich zu erweisen;

aber ihr habt kein Recht, irgendetwas zu streichen, zu ändern oder mich aufzuhalten. Versteht ihr

das?“

So genau hatte ich noch nicht darüber nachgedacht, aber jetzt, wo sies sagte, war es nur allzu

offensichtlich. Es bedeutete, dass ich eine Rakete gestartet hatte, die ich jetzt nicht mehr zurückrufen

konnte. Sie würde an dem Ziel landen, auf das sie abgefeuert wurde, oder sie würde vom Kurs

abweichen, aber sie war jetzt in der Luft und konnte nicht mehr von mir beeinflusst werden.

Irgendwann in der nächsten Zukunft würde ich aufhören, Marcus zu sein; dann würde ich eine Person

des öffentlichen Interesses werden. Ich wäre der Typ, der das DHS verpfiffen hatte.

Ich wäre ein Toter auf Abruf.

Ange musste an etwas Ähnliches gedacht haben, denn ihre Gesichtsfarbe changierte jetzt zwischen

Weiß und Grün.

„Jetzt aber nichts wie raus hier“, sagte sie.

Anges Mutter und Schwester waren wieder unterwegs, was die Entscheidung erleichterte, wo wir den

Abend verbringen sollten. Die Zeit fürs Abendessen war schon vorbei, aber meine Eltern wussten,

dass ich mit Barbara verabredet war, und würden nicht sauer sein, wenn ich spät heimkäme.

Als wir bei ihr ankamen, hatte ich keinerlei Ambitionen, die Xbox einzustöpseln.

Für heute hatte ich

mehr als genug Xnet gehabt. Alles, woran ich denken konnte, war Ange, Ange, Ange. Leben ohne

Ange. Wissen, dass Ange wütend war auf mich. Ange, die womöglich nie mehr mit mir reden würde.

Ange, die mich nie wieder küssen würde.

Sie hatte dasselbe gedacht. Ich konnte es in ihren Augen sehen, als wir die Tür zu ihrem Zimmer

schlossen und einander anschauten. Ich hatte Hunger nach ihr, die Sorte Hunger nach tagelangem

Fasten. Wie man sich nach einem Glas Wasser sehnt, wenn man gerade drei Stunden nonstop Fußball

gespielt hat.

Und doch noch ganz anders. Das war mehr. Es war etwas, das ich noch nie gefühlt hatte. Ich wollte

sie am Stück essen, mit Haut und Haaren verschlingen.

Bis zu diesem Moment war sie in unserer Beziehung die Sexuelle gewesen. Ich hatte es ihr

überlassen, das Tempo vorzugeben und zu kontrollieren. Ich empfand es als unglaublich erotisch, sie

nach mir greifen, sie mein Shirt ausziehen, sie mein Gesicht an das ihre heranziehen zu lassen.

Aber heute Nacht konnte ich mich nicht zurückhalten. Und ich wollte mich nicht zurückhalten.

Mit dem Klicken der Tür hinter uns griff ich nach dem Saum ihres T-Shirts und zog; ließ ihr kaum die

Zeit, die Arme zu heben, während ich es ihr über den Kopf zerrte. Dann riss ich mir mein Shirt über

den Kopf und hörte das Knistern der Baumwolle, als die Nähte platzten.

Ihre Augen leuchteten, ihr Mund war offen, ihr Atem schnell und flach. Meiner ebenfalls, und mein

Atem und mein Herz und mein Blut pochten, nein, brüllten in meinen Ohren.

Dem Rest unserer Kleidung widmete ich mich mit demselben Eifer, warf ihn zu den Haufen

schmutziger und sauberer Wäsche auf dem Boden. Überall auf dem Bett lagen Bücher und Zettel

verstreut, die ich einfach beiseite fegte. Wir landeten auf dem ungemachten Bett, Arme umeinander

geschlungen, so fest, als ob wir einander durchdringen wollten. Sie stöhnte in meinen Mund, und ich

gab den Ton zurück; ich fühlte ihre Stimme in meinen Stimmbändern vibrieren, ein Gefühl intimer als

alles, was ich jemals gefühlt hatte.

Sie machte sich los und langte hinüber zu ihrem Nachttisch, zog die Schublade auf und warf einen

weißen Kulturbeutel vor mir aufs Bett. Ich schaute hinein: Kondome -- Trojans, ein Dutzend

spermizide, noch verschweißt. Ich lächelte sie an, sie lächelte zurück, und ich öffnete die Schachtel.

Wie es sein würde, darüber hatte ich seit Jahren nachgedacht. Hundert Mal am Tag hatte ich es mir

vorgestellt. Es hatte Tage gegeben, da hatte ich praktisch an nichts anderes gedacht.

Und es war kein Stück so, wie ich es erwartet hatte. Manches daran war besser.

Manches war viel

schlimmer. Während es andauerte, empfand ich es als eine Ewigkeit. Und hinterher hatte ich das

Gefühl, es habe nur einen einzigen Augenblick lang gedauert.

Hinterher fühlte ich mich wie zuvor. Und doch anders. Irgend etwas war anders geworden zwischen

uns.

Es war ziemlich schräg. Verschämt zogen wir uns wieder an, stapften durchs Zimmer, vermieden es,

dem Blick des Anderen zu begegnen. Ich wickelte das Kondom in ein Kleenex aus einer Schachtel

neben dem Bett, trug es ins Bad, umwickelte es mit Klopapier und steckte es tief unten in den

Mülleimer.

Als ich zurückkam, saß Ange auf dem Bett und spielte mit ihrer Xbox. Ich setzte mich zaghaft neben

sie und nahm sie bei der Hand. Sie wandte mir das Gesicht zu und lächelte. Wir waren beide

ausgelaugt und zitterten.

„Danke“, sagte ich.

Sie sagte kein Wort und drehte mir wieder den Kopf zu. Sie lächelte übers ganze Gesicht, während ihr

dicke Tränen über die Wangen liefen.

Ich umarmte sie, und sie klammerte sich fest an mich. „Du bist ein guter Mensch, Marcus Yallow“,

flüsterte sie. „Danke.“

Ich wusste darauf nichts zu entgegnen, aber ich erwiderte ihre Umklammerung.

Sie weinte nun nicht

mehr, aber sie lächelte noch.

Sie wies auf meine Xbox auf dem Boden neben dem Bett. Ich verstand den Wink, nahm sie hoch,

stöpselte sie ein und loggte mich ein.

Immer dasselbe: Berge von E-Mail. Die neuen Einträge der Blogs, die ich las, trudelten ein. Und

Spam. Oh Mann, bekam ich Spam. Meine schwedische Mailadresse war schon mehrfach von

Spammern gehijackt worden, um sie als Antwortadresse für hundertmillionenfach versandte

Werbemails zu missbrauchen, und deshalb bekam ich automatische Rückläufer und auch wütende

Antworten. Keine Ahnung, wer dahintersteckte -- ob nun das DHS, um meine Mailbox zu fluten, oder

auch nur Leute, die sich einen Spaß erlaubten. Immerhin hatte die Piratenpartei ziemlich gute Filter,

und sie gaben jedem, der wollte, 500 Gigabyte Speicherplatz für Mails, also stand nicht zu befürchten,

dass mein Postfach demnächst erstickte.

Ich hämmerte auf die Löschtaste und filterte alles raus. Für alles Zeug, das mit meinem öffentlichen

Schlüssel verschlüsselt war, hatte ich ein separates Postfach, weil das mit einiger Wahrscheinlichkeit

mit dem Xnet zu tun hatte und vertraulich war. Bisher waren die Spammer noch nicht

dahintergekommen, dass die Verwendung öffentlicher Schlüssel ihrem Müll einen seriöseren Anstrich

geben würde; das funktionierte also noch ganz gut.

Ich hatte ein paar Dutzend verschlüsselte Nachrichten von Leuten in meinem Netz des Vertrauens. Ich

überflog sie -- Links zu Videos und Fotos mit neuen Übergriffen des DHS, Horrorgeschichten übers

Entkommen um Haaresbreite, Kommentare zu meinen Blog-Texten. Das Übliche.

Dann kam eine, die nur mit meinem öffentlichen Schlüssel verschlüsselt war.

Das bedeutete, dass

niemand außer mir die Nachricht lesen konnte, aber ich hatte keine Ahnung, wer sie geschrieben

hatte. Als Absender stand da „Masha“ -- das konnte ein Nick sein oder auch ein Realname, ich wusste

es nicht.

M1k3y

Du kennst mich nicht, aber ich kenne dich.

Ich wurde an dem Tag festgenommen, an dem die Brücke hochging. Sie befragten mich und kamen

zu dem Ergebnis, dass ich unschuldig sei. Sie haben mir einen Job angeboten: Ich sollte ihnen helfen,

die Terroristen zu jagen, die meine Nachbarn getötet hatten.

Damals klang das wie eine gute Idee. Ich habe erst später gemerkt, dass mein eigentlicher Job

darin besteht, Kids auszuspionieren, die sich dagegen wehren, dass ihre Stadt in einen Polizeistaat

verwandelt wird.

Ich habe das Xnet am Tag seiner Entstehung infiltriert. Ich bin in deinem Netz des Vertrauens.

Wenn ich meine Identität preisgeben wollte, könnte ich dir eine Mail von einer Adresse schicken, der

du vertraust. Drei Adressen, um genau zu sein. Ich bin so weit drin in deinem Netzwerk, wie das

überhaupt nur einer 17-Jährigen möglich ist. Einige der Mails, die du bekommen hast, enthielten

sorgfältig ausgewählte Fehlinformationen von mir und meinen Auftraggebern.

Sie wissen noch nicht, wer du bist, aber sie kommen dir näher. Sie drehen immer mehr Leute auf

ihre Seite um. Sie grasen die sozialen Netzwerke ab und machen Kids mithilfe von Drohungen zu

Informanten. Mittlerweile arbeiten mehrere hundert Leute im Xnet für das DHS.

Ich habe ihre

Namen, Nicks und Schlüssel. Die privaten und die öffentlichen.

Kurz nach dem Start des Xnets haben wir begonnen, ParanoidLinux zu hacken. Bisher haben wir

nur kleine, unbedeutende Lücken aufgetan, aber der eigentliche Hack steht unmittelbar bevor. Und

sobald wir den haben, bist du tot.

Ich glaube, es dürfte klar sein, dass ich in Gitmo-an-der-Bay alt und grau werde, wenn meine

Auftraggeber herausfinden, dass ich das hier tippe.

Selbst wenn sie ParanoidLinux nicht knacken: Es sind schon verseuchte Distros im Umlauf. Bei

denen stimmen die Prüfsummen nicht, aber wer außer dir und mir schaut sich schon die Prüfsummen

an? Eine Menge Kids sind schon tot, sie wissen es nur noch nicht.

Das Einzige, worauf meine Auftraggeber jetzt noch warten, ist der beste Zeitpunkt, dich hochgehen

zu lassen, damit die Aufmerksamkeit der Medien am größten ist. Und das wird eher früher als später

sein, glaub mir.

Vielleicht fragst du dich jetzt, warum ich dir das erzähle.

Ich frage es mich übrigens auch.

So viel steht jedenfalls fest: Ich habe mich anheuern lassen, um Terroristen zu bekämpfen. Statt

dessen schnüffle ich Amerikaner aus, die an Dinge glauben, die das DHS nicht mag. Keine Leute, die

Brücken sprengen wollen, sondern Demonstranten. Ich kann so nicht weitermachen.

Du aber auch nicht, ob du es schon weißt oder nicht. Wie gesagt: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis

du in Ketten auf Treasure Island landest. Es ist nicht mehr „ob“, sondern

„wann“.

Deshalb bin ich hier durch. Unten in Los Angeles sind ein paar Leute, die sagen, sie können mir

Sicherheit bieten, wenn ich raus will.

Ich will raus.

Und wenn du willst, nehme ich dich mit. Lieber ein Kämpfer als ein Märtyrer. Wenn du mit mir

kommen willst, können wir austüfteln, wie wir gemeinsam siegen können. Ich bin auch so schlau wie

du, glaub mir.

Was meinst du?

Hier ist mein öffentlicher Schlüssel.

Masha

Bist du ängstlich und allein, hilft nur rennen oder schrei‘n.

Schon mal gehört? Das ist zwar nicht sonderlich hilfreich, aber zumindest leicht zu befolgen. Ich

sprang vom Bett und lief hin und her. Mein Herz wummerte, und mein Blut sang in einer grausamen

Parodie dessen, was ich empfunden hatte, als wir heimkamen. Das hier war keine sexuelle Erregung,

es war nackte Angst.

„Was?“, fragte Ange. „Was ist?“

Ich zeigte nur auf den Monitor auf meiner Seite des Betts. Sie rollte rüber, schnappte sich meine

Tastatur und fuhr mit dem Finger übers Touchpad. Sie las schweigend.

Ich lief weiter herum.

„Das müssen Lügen sein“, sagte sie. „Das DHS spielt Psychospielchen mit dir.“

Ich sah sie an. Sie biss auf ihre Lippe und sah nicht aus, als ob sie es selbst glaubte.

„Meinst du?“

„Klar. Sie können dich nicht erwischen, also versuchen sie es jetzt übers Xnet.“

„Na sicher.“

Ich setzte mich wieder aufs Bett. Ich atmete wieder hektisch.

„Entspann dich“, sagte sie. „Es sind nur Psychospielchen. Hier.“ Sie hatte meine Tastatur noch nie

übernommen, aber jetzt war eine neue Intimität zwischen uns. Sie klickte auf

„Antworten“ und

schrieb:

Netter Versuch.

Sie schrieb jetzt auch als M1k3y. Wir waren auf eine andere Art zusammen als zuvor.

„Signier das. Mal sehen, was sie sagt.“

Ich wusste nicht, ob das die beste Idee war, aber ich hatte keine bessere. Ich signierte und

verschlüsselte es mit meinem privaten und Mashas öffentlichem Schlüssel, den sie mitgeschickt hatte.

Die Antwort kam postwendend.

Ich hatte mir schon gedacht, dass du so was sagen würdest.

Hier kommt ein Hack, an den du noch nicht gedacht hast. Ich kann Video

anonym über DNS

tunneln. Hier sind ein paar Links zu Clips, die du dir anschauen solltest, bevor du über mich urteilst.

Diese Leute zeichnen sich ständig gegenseitig auf, um sich gegen Hinterhältigkeiten abzusichern.

Man kann die völlig einfach dabei ausschnüffeln, wie sie sich gegenseitig ausschnüffeln.

Masha

Im Anhang war Quellcode für ein kleines Programm, das genau das zu tun schien, was Masha

behauptete: Videodaten über das Domain-Name-Service-Protokoll saugen.

Erlaubt mir an dieser Stelle eine kleine Abschweifung, um das zu erklären.

Letzten Endes ist jedes

Internet-Protokoll nur eine Abfolge von Text, der in einer vorgegebenen Reihenfolge hin- und

hergeschickt wird. Es ist ein bisschen so wie mit einem Laster, in den man einen PKW verlädt, in

dessen Kofferraum man ein Motorrad packt, auf das man dann ein Fahrrad schnallt, an dem man ein

paar Inline-Skates befestigt. Mit dem Unterschied, dass man hier wieder den Truck an den Inlinern

festbinden könnte.

Nehmen wir etwa das Simple Mail Transport Protocol, oder SMTP, das dazu benutzt wird, E-Mails zu

versenden.

Hier ist eine Beispiel-Konversation zwischen mir und meinem Mailserver, wenn

ich eine Nachricht an

mich selbst sende:

HELO littlebrother.com.se

250 mail.pirateparty.org.se

Hallo mail.pirateparty.org.se, schön, dich zu sehen.

MAIL FROM:m1k3y@littlebrother.com.se

250 2.1.0 m1k3y@littlebrother.com.se... Absender ok RCPT TO:m1k3y@littlebrother.com.se

250 2.1.5 m1k3y@littlebrother.com.se... Empfänger ok DATA

354 Nachricht eintippen, beenden mit „.“ in einer eigenen Zeile Bist du ängstlich und allein, hilft nur rennen oder schrei‘n

.

250 2.0.0 k5SMW0xQ006174 Nachricht zum Versand akzeptiert QUIT

221 2.0.0 mail.pirateparty.org.se beendet die Verbindung Verbindung durch entfernten Teilnehmer beendet.

Die Grammatik dieser Konversation wurde 1982 von Jon Postel definiert, einem der heroischen

Gründerväter des Internets, der damals, in der Steinzeit, die wichtigsten Server im Netz unter seinem

Schreibtisch an der University of Southern California stehen hatte.

Jetzt mal angenommen, du klinkst einen Mail-Server in eine Instant-Messaging-Session ein. Du

könntest eine IM mit dem Inhalt „HELO littlebrother.com.se“ an den Server senden, und er würde

antworten mit „250 mail.pirateparty.org.se Hallo mail.pirateparty.org.se, schön, dich zu sehen.“ Mit

anderen Worten: Du hättest dieselbe Konversation via Messenger wie über SMTP. Mit den geeigneten

Anpassungen könnte der gesamte Mailserver-Verkehr innerhalb eines Chats ablaufen. Oder innerhalb

einer Web-Session. Oder in einem beliebigen anderen Protokoll.

Das nennt man „Tunneling“: Du schleust SMTP durch einen Chat-“Tunnel“.

Und wenn du es gern

ganz abgedreht hättest, könntest du den Chat noch mal durch SMTP tunneln --

ein Tunnel im Tunnel.

Tatsächlich ist jedes Internet-Protokoll für solch ein Vorgehen nutzbar. Das ist cool, weil es bedeutet,

dass du in einem Netzwerk mit reinem WWW-Zugang deine Mails darüber tunneln kannst; du kannst

dein Lieblings-P2P drüber tunneln; und du könntest sogar das Xnet drüber tunneln, das ja seinerseits

bereits einen Tunnel für Dutzende Protokolle darstellt.

Domain Name Service ist ein interessantes, steinaltes Internet-Protokoll aus dem Jahr 1983. Es

beschreibt die Art und Weise, wie dein Computer den Namen eines anderen Computers (zum Beispiel

pirateparty.org.se) in die IP-Adresse auflöst, unter der sich Computer in Wirklichkeit im Netzwerk

gegenseitig finden, zum Beispiel 204.11.50.136. Das funktioniert normalerweise wie geschmiert,

obwohl das System Millionen beweglicher Teile umfasst -- jeder Internet-Provider unterhält einen

DNS-Server, genau wie die meisten Regierungen und jede Menge privater Anwender. Diese DNSKisten

unterhalten sich ununterbrochen alle miteinander, stellen einander Anfragen und beantworten

sie; und völlig egal, wie abseitig der Name ist, den du aufrufen willst, das System wird ihn in eine

Nummer auflösen können.

Vor DNS gab es die HOSTS-Datei. Ob ihrs glaubt oder nicht: Das war ein einzelnes Dokument, das

den Namen und die Adresse von jedem einzelnen Computer im Internet enthielt.

Jeder Computer

hatte eine Kopie davon. Die Datei wurde irgendwann zu umfangreich, um sie noch handhaben zu

können, deshalb wurde DNS erfunden, und es lebte auf einem Server unter Jon Postels Schreibtisch.

Wenn die Putzkolonne den Stecker rauszog, dann verlor das gesamte Internet seine Fähigkeit, sich

selbst zu finden. Ehrlich.

Heute ist an DNS vor allem schick, dass es überall ist. Jedes Netzwerk hat einen eigenen DNS-Server,

und all diese Server sind so konfiguriert, dass sie miteinander und mit allen möglichen Leuten überall

im Internet Verbindung aufnahmen können.

Masha nun hatte einen Weg gefunden, ein Videostream-System über DNS zu tunneln. Sie teilte das

Video in Milliarden von Einzelteilen auf und versteckte jedes einzelne in einer normalen Nachricht an

einen DNS-Server. Indem ich ihren Code nutzte, konnte ich das Video in unglaublichem Tempo von

all diesen überall im Internet verteilten DNS-Servern wieder zusammenpuzzeln.

Das musste in den

Netzwerk-Histogrammen bizarr aussehen -- als ob ich sämtliche Computer-Adressen der ganzen Welt

nachschlagen würde.

Aber es hatte zwei Vorteile, die mir auf Anhieb einleuchteten: Ich bekam das Video in rasantem

Tempo auf den Schirm -- kaum hatte ich auf den ersten Link geklickt, hatte ich schon

bildschirmfüllende, absolut ruckelfreie Bewegtbilder --, und ich hatte keine Ahnung, wo die Filme

gehostet waren. Es war vollkommen anonym.

Den Inhalt des Videos nahm ich zuerst gar nicht zur Kenntnis. Ich war einfach zu überwältigt davon,

wie clever dieser Hack war. Videos über DNS streamen? Das war so klug und abseitig, es war

regelrecht pervers.

Aber allmählich begriff ich, was ich da sah.

Es war ein Besprechungstisch in einem kleinen Raum mit einem Spiegel an einer Wand. Ich kannte

diesen Raum. In diesem Raum hatte ich gesessen, als mich Frau Strenger Haarschnitt dazu brachte,

mein Passwort laut auszusprechen. Um den Tisch herum standen fünf komfortable Stühle, auf denen

es sich fünf Personen, alle in DHS-Uniformen, gemütlich gemacht hatten. Ich erkannte Generalmajor

Graeme Sutherland, den DHS-Kommandeur für die Bay Area, sowie Strenger Haarschnitt. Die

anderen waren mir unbekannt. Sie alle betrachteten einen Videomonitor am Ende des Tischs, auf dem

ein unendlich viel vertrauteres Gesicht zu sehen war.

Kurt Rooney war landesweit bekannt als der Chefstratege des Präsidenten, der Mann, der der Partei

ihre dritte Amtszeit in Folge gesichert hatte und jetzt stramm auf die vierte zusteuerte. Man nannte ihn

auch „Ruppig“, und ich hatte mal eine Reportage darüber gesehen, an welch kurzen Zügeln er seine

Mitarbeiter hielt: Er rief sie ständig an, schickte Instant Messages, beobachtete jede ihrer

Bewegungen, kontrollierte jeden Schritt. Er war alt, hatte ein zerfurchtes Gesicht, blassgraue Augen,

eine flache Nase mit breit ausgestellten Nasenlöchern und dünne Lippen -- ein Mann, der ständig so

aussah, als hätte er gerade einen sehr strengen Geruch in der Nase.

Er war der Mann auf dem Monitor. Er redete, und jeder im Raum war auf den Monitor fixiert,

versuchte hektisch mitzutippen und dabei schlau auszusehen.

„... sagen, dass sie auf die Behörden wütend sind, aber wir müssen dem Land begreiflich machen,

dass sie Terroristen für alles verantwortlich machen müssen, nicht die Regierung. Verstehen Sie mich?

Die Nation liebt diese Stadt nicht. Aus ihrer Sicht ist es ein Sodom und Gomorra aus Schwuchteln und

Atheisten, die es verdient haben, in der Hölle zu schmoren. Der einzige Grund dafür, dass sich das

Land dafür interessiert, was man in San Francisco denkt, ist der glückliche Umstand, dass sie da von

irgendwelchen islamischen Terroristen zur Hölle gebombt worden sind.

Diese Xnet-Kinder könnten allmählich nützlich für unsere Zwecke werden. Je radikaler sie werden,

desto eher begreift der Rest des Landes, dass die Bedrohungen überall lauern.“

Seine Zuhörer beendeten das Tippen.

„Ich denke, wir können das kontrollieren“, sagte Frau Strenger Harschnitt.

„Unsere Leute im Xnet

haben mittlerweile eine Menge Einfluss. Die Mandschurischen Blogger betreiben jeder bis zu fünfzig

Blogs, fluten die Chat-Kanäle und verlinken sich gegenseitig. Dabei übernehmen sie die meiste Zeit

bloß die Parteilinie, die dieser M1k3y vorgibt, aber sie haben auch schon

bewiesen, dass sie radikale

Aktionen provozieren können, auch wenn M1k3y gerade auf die Bremse tritt.“

Generalmajor Sutherland nickte. „Unser Plan war es, sie noch bis etwa einen Monat vor den

Midterms im Untergrund zu lassen.“ Vermutlich meinte er die Wahlen in der Mitte der

Legislaturperiode, nicht meine Prüfungen. „Soweit war das jedenfalls der ursprüngliche Plan. Aber es

klingt so, als ob ...“

„Für die Midterms haben wir andere Planungen“, sagte Rooney. „Es steht noch nichts Genaues fest,

aber Sie alle sollten lieber für den Monat vorher keine Reisen mehr planen.

Lassen Sie das Xnet jetzt

von der Leine, so schnell sie können. So lange die moderat sind, sind sie ein Risiko. Sorgen Sie dafür,

dass sie radikal sind.“

Das Video brach ab.

Ange und ich saßen auf der Bettkante und starrten den Bildschirm an. Ange langte nach vorn und

startete das Video neu. Wir schauten es noch mal an, und beim zweiten Mal war es noch schlimmer.

Ich schob die Tastatur beiseite und stand auf.

„Ich habs so dermaßen satt, Angst haben zu müssen“, sagte ich. „Komm, wir bringen das hier zu

Barbara und lassen sie es veröffentlichen. Stellen wir es alles online. Und dann sollen sie kommen

und mich abholen. Zumindest weiß ich dann sicher, was mit mir passiert. Dann hab ich wenigstens

wieder ein kleines bisschen Gewissheit in meinem Leben.“

Ange umarmte und streichelte mich beruhigend. „Ich weiß, Baby, ich weiß. Das alles ist furchtbar.

Aber du siehst immer nur das Schlechte und vergisst dabei das Gute. Du hast eine Bewegung ins

Leben gerufen. Du hast die Idioten im Weißen Haus und die Betrüger in DHSUniform überflügelt.

Und du hast dich selbst in eine Position gebracht, in der du dafür verantwortlich sein könntest, diese

ganze verdammte DHS-Nummer ans Licht zu bringen.

Natürlich sind sie hinter dir her. Ist doch völlig logisch. Hast du das je auch nur einen Moment lang

bezweifelt? Ich wusste das die ganze Zeit. Aber denk dran, Marcus, die wissen nicht, wer du bist. Stell

dir das doch mal vor: All die vielen Leute, so viel Geld, Waffen und Spione, und du, ein

siebzehnjähriger Schüler, du tanzt ihnen immer noch auf der Nase rum. Die wissen nichts von

Barbara. Die wissen nichts von Zeb. Du hast sie auf den Straßen von San Francisco gejammt und sie

vor den Augen der ganzen Welt gedemütigt. Also hör auf zu jammern, ja? Du bist der Sieger.“

„Trotzdem sind sie hinter mir her. Du siehst es doch. Und sie werden mich für den Rest meines

Lebens wegsperren. Vielleicht nicht mal in den Knast. Ich werde einfach verschwinden, so wie

Darryl. Vielleicht noch schlimmer, vielleicht nach Syrien. Warum sollten sie mich in Amerika lassen?

Ich bin ein Risiko, solange ich in den USA bin.“

Sie setzte sich neben mir aufs Bett.

„Ja“, sagte sie. „Genau das.“

„Genau das.“

„Und du weißt auch, was du also tun musst, oder?“

„Was?“

Sie blickte bedeutungsvoll auf meine Tastatur. Ich konnte sehen, dass ihr Tränen die Wangen

herabliefen. „Nein! Du bist wohl nicht bei Trost. Glaubst du wirklich, ich würde mit irgendeiner

durchgeknallten Internet-Tante wegrennen? Mit einer Spionin?“

„Hast du ne bessere Idee?“

Ich kickte einen ihrer Wäschestapel in die Gegend. „Meinetwegen. Na supi. Ich werde noch mal mit

ihr reden.“

„Rede mit ihr“, sagte Ange. „Schreib ihr, dass du mit deiner Freundin verschwinden willst.“

„Was?“

„Halt die Klappe, du Depp. Du denkst, du bist in Gefahr? Ja, aber ich doch genauso, Marcus.

Mitgefangen, mitgehangen. Wenn du gehst, gehe ich mit.“

Wir setzten uns zusammen schweigend aufs Bett.

„Es sei denn, du willst mich nicht“, sagte sie schließlich mit kläglicher Stimme.

„Machst du Witze?“

„Seh ich so aus, als würde ich Witze machen?“

„Ohne dich würde ich für kein Geld der Welt freiwillig gehen, Ange. Ich hätte es nie gewagt, dich zu

fragen; aber du glaubst nicht, was es für mich bedeutet, dass du es anbietest.“

Sie lächelte und schubste mir meine Tastatur rüber.

„Mail dieser Masha-Kröte. Mal schauen, was die Braut für uns tun kann.“

Ich mailte ihr, verschlüsselte die Nachricht und wartete auf ihre Antwort. Ange tätschelte mich ein

bisschen, ich küsste sie und wir knutschten ein bisschen. Das Wissen um die Gefahr und unsere

Verabredung, zusammen zu verschwinden -- all das ließ mich die Peinlichkeiten am Sex vergessen

und machte mich spitz wie Hölle.

Wir waren wieder halb nackt, als Mashas Mail eintrudelte.

Ihr seid zu zweit? Oh Gott, als ob es nicht schon schwierig genug wäre.

Ich kann mich nicht los machen, außer für ein bisschen Feindaufklärung nach einem großen Xnet-Event. Verstanden? Meine Hintermänner beobachten mich auf Schritt und Tritt, aber sie lassen mich

von der Leine, wenn irgendwas Großes mit Xnettern passiert. Dann werde ich vor Ort eingesetzt.

Also müsst ihr was Großes anleiern. Da werde ich hingeschickt, und dann hole ich uns beide raus.

Uns drei meinetwegen.

Aber mach schnell, ja? Ich kann dir nicht oft mailen, kapiert? Die beobachten mich. Und sie

kommen dir immer näher. Du hast nicht mehr viel Zeit. Wochen? Vielleicht nur noch Tage.

Ich brauch dich, um selbst rauszukommen. Deshalb tu ich das alles, nur falls du dich wunderst. Ich

kann nicht auf eigene Faust verschwinden. Ich brauch ne fette Xnet-Blendgranate. Das ist dein Job.

Lass mich nicht im Stich, M1k3y, oder wir sind beide tot. Und deine Freundin auch.

Masha

Das Klingeln meines Telefons ließ uns beide hochschrecken. Es war meine Mom, die wissen wollte,

wann ich heimkommen würde. Ich sagte ihr, ich sei schon unterwegs. Sie erwähnte Barbara mit

keinem Wort -- wir hatten vereinbart, nichts davon am Telefon zu erwähnen. Das war die Idee meines

Dads gewesen. Der konnte genauso paranoid sein wie ich.

„Ich muss jetzt los“, sagte ich.

„Unsere Eltern werden ...“

„Ich weiß. Ich hab doch gesehen, was mit meinen Eltern los war, als sie dachten,

ich sei tot. Und

wenn sie wissen, dass ich ein Flüchtling bin, wird das nicht viel besser sein.

Aber lieber ein Flüchtling

als ein Gefangener. So seh ich das. Und überhaupt: Sobald wir weg sind, kann Barbara alles

veröffentlichen, ohne uns damit in zusätzliche Gefahr zu bringen.“

Wir küssten uns an ihrer Zimmertür. Nicht eine dieser heißen, lässigen Nummern wie sonst, wenn wir

uns verabschiedeten. Ein süßer Kuss diesmal. Ein langsamer Kuss. Ein Lebewohl-Kuss.

Fahrten in der BART haben was Introspektives. Wenn der Zug hin- und herruckelt und du versuchst,

keinen Blickkontakt zu den anderen Fahrgästen herzustellen; wenn du versuchst, nicht all die Plakate

für kosmetische Chirurgie, Kautionsvermittler und AIDS-Tests zu lesen; wenn du die Graffiti zu

ignorieren versuchst und dir all das Zeug im Teppich lieber nicht zu genau anguckst -- in diesen

Momenten wird dein Geist wirklich gründlich durchgerüttelt und -geschüttelt.

Du ruckelst also hin und her, und dein Gehirn spult all die Dinge ab, die du bislang übersehen hast,

zeigt dir all die Filme deines Lebens, in denen du nicht der Held warst, sondern ein Trottel und ein

Versager.

In solchen Momenten entwickelt dein Gehirn Theorien wie diese: „Wenn das

DHS M1k3y fangen

wollte, wäre es dann nicht das Geschickteste, ihn aus seiner Deckung zu locken?

Ihn zu einer

Panikreaktion in Form eines riesigen öffentlichen Xnet-Events zu veranlassen?

Wäre das nicht das

Risiko wert, ein kompromittierendes Filmchen an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen?“ Dein

Gehirn bombardiert dich zwangsläufig mit solchem Zeug, selbst wenn die Zugfahrt nur zwei oder drei

Stationen lang dauert. Wenn du dann aussteigst und losläufst, dann nimmt auch dein Blutkreislauf

wieder Fahrt auf, und manchmal hilft dir dein Gehirn auch wieder aus deinem Dilemma heraus.

Manchmal liefert dir dein Gehirn nicht nur Probleme, sondern auch die passenden Lösungen.

Kapitel 18

Dieses Kapitel ist Vancouvers mehrsprachigem Sophia Books gewidmet, einem vielseitigen, spannenden Laden voll mit

dem Besten, das die merkwürdige, aufregende Popkultur vieler Länder zu bieten hat. Sophia war um die Ecke meines

Hotels, als ich nach Van kam, um eine Rede an der Simon Fraser University zu halten, und die Leute bei Sophia baten

mich im Voraus per Mail darum, bei ihnen reinzuschauen und ihren Bestand zu signieren, wenn ich schon mal in der Nähe

sei. Als ich dort ankam, entdeckte ich eine wahre Fundgrube von Werken, die ich nie zuvor gesehen hatte, in einer

verwirrenden Vielzahl von Sprachen, von Comic-Romanen bis hin zu dicken akademischen Abhandlungen, unter der Obhut

von netten, ungemein lustigen Mitarbeitern, die ihre Jobs so offensichtlich genossen, dass das auf jeden Kunden abfärbte,

der den Laden betrat.

Sophia Books http://www.sophiabooks.com/ 450 West Hastings St., Vancouver, BC Canada V6B1L1 +1 604 684 0484

s gab mal ne Zeit, da war es meine absolute Lieblingsbeschäftigung, einen Umhang anzulegen

und in Hotels rumzuhängen, um so zu tun, als sei ich ein unsichtbarer Vampir, der von jedermann

angestarrt wurde. E

Das ist kompliziert, aber nicht halb so bizarr, wie es klingt. Die Live-Action-Rollenspielszene

verbindet die besten Seiten von „Dungeons & Dragons“ mit Drama Club und Science-Fiction-Conventions.

Es ist mir klar, dass das für euch nicht ganz so anziehend klingt wie für mich, als ich vierzehn war.

Die besten Spiele waren die in den Pfadfinderlagern außerhalb der Stadt: Hundert Teenager, Jungs

und Mädchen, die sich mit dem Freitagabend-Verkehr abplagten, Geschichten tauschten, auf

Handheld-Konsolen spielten und stundenlang auf den Putz hauten. Und sich dann im Gras vor einer

Gruppe älterer Männer und Frauen in knallharten selbstgemachten Rüstungen

aufstellten, Rüstungen

mit Dellen und Kratzern, wie sie früher ausgesehen haben mussten, nicht so wie die Rüstungen im

Kino, sondern so wie Soldatenuniformen nach einem Monat im Feld.

Diese Leute wurden pro forma dafür bezahlt, die Spiele zu leiten, aber solche Jobs bekamst du nur,

wenn du die Sorte Mensch warst, der das auch für lau machen würde. Wir waren auf Basis der

Fragebögen, die wir im Vorfeld ausgefüllt hatten, in Gruppen eingeteilt worden, und nun wurden wir

unseren Teams zugeordnet, ganz wie bei der Seitenverteilung beim Baseball.

Dann bekamen wir unsere Briefings. Die waren so ähnlich wie die Briefings, die Spione in Filmen

bekommen: Hier ist deine Identität, hier ist dein Auftrag, und das hier sind die Geheimnisse, die du

über die Gruppe weißt.

Danach war Essenszeit: Feuer prasselte, Fleisch brutzelte am Spieß, in der Pfanne zischte das Tofu

(das hier ist Nordkalifornien, hier ist die Veggie-Option nicht bloß optional), und die Tischsitten

konnte man beim besten Willen nur als Zecherei bezeichnen.

Die eifrigsten Kids schalteten jetzt bereits auf ihren Rollenspiel-Charakter um.

In meinem ersten Spiel

war ich ein Zauberer. Ich hatte eine Tasche voller Bohnensäckchen, die Zaubersprüche darstellten --

wenn ich einen warf, musste ich den Namen des Zaubers rufen, den ich

anwenden wollte (Feuerball,

magisches Geschoss, Lichtkegel), und der Spieler, das „Monster“, auf den ich warf, musste

hintenüber kippen, wenn ich traf. Oder auch nicht -- manchmal mussten wir einen Schiedsrichter

rufen, der dann vermittelte, aber die meiste Zeit waren wir ziemlich gut im Fairplay. Erbsenzähler

mochte keiner leiden.

Bis zur Schlafenszeit waren wir alle voll in unseren Rollen drin. Mit vierzehn wusste ich zwar noch

nicht sicher, wie so ein Zauberer klingen musste, aber ich hatte meine Anregungen aus Filmen und

Büchern. Ich sprach in langsamen, gemessenen Sätzen, wahrte einen angemessen mystischen

Gesichtsausdruck und dachte mystische Gedanken.

Die Aufgabe war knifflig: Es ging darum, eine heilige Reliquie wiederzubeschaffen, die von einem

Menschenfresser gestohlen worden war, der die Leute des Landes seinem Willen unterjochte. Aber im

Grunde war das nicht so wichtig. Wichtig war für mich, dass ich eine private Mission hatte, nämlich

einen bestimmten Typ Kobold zu fangen und zu meinem Vertrauten zu machen, und dass ich einen

geheimen Gegenspieler hatte, einen anderen Spieler im Team, der früher, als ich ein Kind war, an

einem Angriff teilgenommen hatte, bei dem meine Familie umgebracht wurde,

und der nicht wusste,

dass ich zurückkommen würde, um Rache zu nehmen. Und natürlich war irgendwo noch ein anderer

Spieler, der ähnlichen Zorn gegen mich hegte, sodass ich bei all der angenehmen Kameradschaft im

Team immer auch darauf achten musste, ob jemand versuchte, mir ein Messer in den Rücken zu

rammen oder Gift ins Essen zu streuen.

Die nächsten zwei Tage lang spielten wir die Sache aus. Teile des Wochenendes waren wie

Versteckspielen, andere waren wie Survivaltraining in der Wildnis, und wieder andere waren wie

Kreuzworträtsellösen. Die Spielleiter hatten ihren Job toll gemacht. Und es entwickelten sich echte

Freundschaften mit den anderen Leuten in der eigenen Mission. Darryl war das Opfer meines ersten

Mordes, und ich kniete mich echt rein, obwohl er mein Kumpel war. Netter Kerl; wirklich schade,

dass ich ihn töten musste.

Ich erwischte ihn mit einem Feuerball, während er die Beute checkte, nachdem wir eine Horde von

Orks plattgemacht hatten, indem wir mit jedem Ork eine Runde Schere-Stein-Papier spielten, um

auszumachen, wer den Kampf gewinnen würde. Das ist viel spannender, als es klingt.

Das war wie Sommerfreizeit für Drama-Fans. Wir quatschten in unseren Zelten

bis tief in die Nacht,

betrachteten die Sterne, sprangen in den Fluss, wenn uns heiß wurde, und erschlugen Stechmücken.

Wir wurden beste Freunde -- oder Feinde fürs Leben.

Ich weiß nicht, warum Charles‘ Eltern ihren Sohn zum LARPen geschickt hatten. Er war nicht die Art

Junge, die dieses Zeug wirklich genoss. Er war eher die Sorte, die Fliegen ihre Flügel ausriss. Na ja,

vielleicht auch nicht. Aber er war echt nicht der Typ, in Verkleidung im Wald rumzurennen. Er

muffelte die ganze Zeit bloß rum, hatte für alles und jeden bloß Verachtung übrig und versuchte uns

davon zu überzeugen, dass das alles lange nicht so toll war, wie wir glaubten.

Bestimmt habt ihr

solche Menschen schon getroffen: Menschen, deren selbst gestellte Aufgabe es ist, allen anderen

jeglichen Spaß zu verderben.

Charles‘ zweites Problem war, dass er simulierte Gefechte einfach nicht begreifen konnte. Wenn man

erst mal anfängt, im Wald rumzurennen und ausgefeilte halbmilitärische Spiele zu spielen, dann geht

es ganz schnell, bis dein Adrenalinspiegel so hoch ist, dass du bereit bist, jemandem in echt an die

Gurgel zu gehen. Und in diesem Zustand ist es wirklich keine gute Idee, ein Schwert, eine Keule,

Lanze oder ein anderes Utensil zur Hand zu haben. Aus diesem Grund ist es in

solchen Spielen jedem

Teilnehmer absolut strikt verboten, einen anderen zu schlagen. Stattdessen sind, wenn du jemandem

nahe genug zum Kämpfen kommst, einige flotte Runden Schere-Stein-Papier angesagt, unter

Berücksichtigung deiner jeweiligen Erfahrung und Bewaffnung und deines Gesundheitszustands. Die

Schiedsrichter schlichten Streitereien. Das ist ziemlich zivilisiert und ein bisschen bizarr. Da rennst du

jemandem durch den Wald hinterher, holst ihn ein, fletschst die Zähne, und dann setzt du dich mit ihm

hin auf ein kleines Spielchen. Aber es funktioniert, und es sorgt dafür, dass alles sicher und spaßig

bleibt.

Charles konnte das partout nicht begreifen. Ich glaube schon, dass er verstanden hatte, dass die Regel

„kein Kontakt“ lautete, aber er war zugleich in der Lage, zu entscheiden, dass die Regel egal war und

dass er ihr nicht gehorchen wollte. Die Schiedsrichter mussten ihn deshalb ein paar Mal an diesem

Wochenende zur Ordnung rufen, und immer versprach er, sich dran zu halten, und immer ignorierte er

die Regeln aufs Neue. Er war schon damals einer von den Größeren, und es machte ihm Spaß, dich

am Ende einer Jagd „versehentlich“ zu tackeln. Und wenn du auf dem felsigen Waldboden landest, ist

Tackling kein Vergnügen.

Ich hatte grade Darryl auf einer Waldlichtung ordentlich gequält, wo er auf Schatzsuche war, und wir

lachten zusammen über meine enorme Heimtücke. Er wollte grade Monstern gehen -- getötete Spieler

konnten zu Monstern werden, und das bedeutete, dass mit fortschreitender Spieldauer immer mehr

Monster hinter dir her waren, so dass jeder weiterspielen musste und die Schlachten immer

ausschweifender wurden.

In diesem Moment kam Charles hinter mir aus dem Unterholz hervor und tackelte mich; er stieß mich

so hart zu Boden, dass mir einen Moment lang die Luft wegblieb. „Hab dich!“, brüllte er. Bis dahin

hatte ich ihn nur entfernt gekannt, und allzu viel von ihm gehalten hatte ich noch nie; aber jetzt war

ich bereit zu töten. Langsam erhob ich mich und schaute ihn an mit seinem Grinsen und der

stolzgeschwellten Brust. „Du bist so was von tot“, sagte er. „Ich hab dich astrein erwischt.“

Ich grinste, und dabei fühlte sich etwas in meinem Gesicht falsch und wund an.

Ich berührte meine

Oberlippe. Sie war blutig. Meine Nase blutete, und meine Lippe war aufgeplatzt, als ich nach seinem

Angriff mit dem Gesicht zuerst auf einer Wurzel gelandet war.

Ich wischte das Blut an meinem Hosenbein ab und lächelte. Ich gab mir den

Anschein, das alles

unheimlich lustig zu finden, lachte ein bisschen und ging auf ihn zu.

Charles ließ sich nicht überlisten. Er war schon am Zurückweichen und versuchte, im Gebüsch zu

verschwinden. Darryl schnitt ihm den einen Fluchtweg ab. Ich übernahm den anderen. Plötzlich

drehte er sich um und rannte. Darryls Fußangel ließ ihn die Schwalbe machen.

Wir stürzten uns

gerade auf ihn, als wir eine Schiedsrichterpfeife hörten.

Der Schiedsrichter hatte nicht gesehen, wie Charles mich foulte, aber er hatte ihn am Wochenende

beim Spielen beobachtet. So sandte er Charles zum Camp-Eingang zurück und erklärte ihm, dass er

aus dem Spiel war. Charles beschwerte sich lautstark, aber zu unserer Genugtuung wollte der

Unparteiische nichts davon wissen. Als Charles fort war, hielt er auch uns eine Standpauke und sagte,

unsere Vergeltung sei um nichts mehr gerechtfertigt gewesen als der Angriff von Charles.

Damit war es okay. Als die Spiele an diesem Abend zu Ende waren, nahmen wir alle in den

Lagerunterkünften eine heiße Dusche. Darryl und ich stahlen Charles‘

Klamotten und sein Handtuch.

Wir knoteten alles zusammen und warfen die Bündel ins Pissoir. Eine Menge Jungs waren nur zu

glücklich, uns beim Einweichen helfen zu dürfen -- Charles war bei seinen

Rempeleien ziemlich

enthusiastisch gewesen.

Ich wünschte, ich hätte ihn sehen können in dem Moment, als er aus der Dusche kam und seine

Kleidung entdeckte. Muss eine schwierige Entscheidung sein: Rennst du nackt durchs Camp, oder

dröselst du die fest verknoteten, zugepissten Klamotten auseinander und ziehst sie an?

Er wählte Nacktheit. Ich hätte wahrscheinlich dasselbe gewählt. Wir stellten uns in einer langen Reihe

zwischen den Duschen und den Baracken auf, wo das Gepäck lagerte, und applaudierten ihm. Ich

stand am Anfang der Reihe und klatschte am lautesten.

Diese Wochenendlager gab es nur drei oder vier Mal im Jahr, was bei Darryl und mir -- und vielen

anderen LARPern -- zu ernsthaften Entzugserscheinungen führte. Zum Glück gab es noch die

Wretched-Daylight-Spiele in den Hotels der Stadt. Wretched Daylight ist ein anderes LARP mit

rivalisierenden Vampir-Clans und Vampirjägern, und es hat seine eigenen raffinierten Regeln. Man

bekommt Spielkarten zur Bewältigung der Kämpfe, so dass jedes Geplänkel eine kleine Runde eines

Strategie-Kartenspiels umfasst. Vampire können unsichtbar werden, indem sie sich ihren Mantel über

den Kopf ziehen und die Arme vor der Brust verschränken; dann müssen alle anderen Mitspieler so

tun, als ob sie diesen Vampir nicht sehen, und ihre Unterhaltung über ihre Pläne und so weiter

fortsetzen. Einen wirklich guten Spieler erkennt man daran, dass er ehrlich genug ist, seine

Geheimnisse vor einem „unsichtbaren“ Rivalen auszuplaudern und dabei so zu tun, als sei dieser gar

nicht im Raum.

Jeden Monat fand eine Handvoll großer Wretched-Daylight-Spiele statt. Die Organisatoren der Spiele

hatten einen guten Draht zu den Hotels der Stadt und ließen sie jeweils wissen, dass sie freitagnachts

zehn bis dahin unbelegte Zimmer buchen und mit Spielern füllen würden. Die Spieler würden dann

im Hotel herumstreifen und in den Korridoren, am Pool und so halbwegs unauffällig Wretched

Daylight spielen, sie würden im Hotelrestaurant essen und für die Nutzung des Hotel-WLANs

bezahlen. Freitagnachmittags war Meldeschluss; dann mailten die Organisatoren uns an, und wir

gingen nach der Schule direkt zu dem jeweiligen Hotel, brachten unsere Schlafsäcke mit, schliefen

übers Wochenende jeweils zu sechst oder acht in einem Zimmer, ernährten uns von Junk-Food und

spielten bis drei Uhr früh. Es war ein nettes, sauberes Vergnügen, gegen das unsere Eltern nichts

einzuwenden hatten.

Organisator war ein bekannter Bildungs-Förderverein, der Schreib-Workshops, Theaterkurse und

dergleichen mehr für Jugendliche anbot. Er veranstaltete die Spiele schon seit zehn Jahren, ohne dass

es je einen Zwischenfall gegeben hätte. Alles war streng alkohol- und drogenfrei, um die

Organisatoren nicht irgendwelchen Vorwürfen der Verführung Minderjähriger auszusetzen. Je nach

Wochenende kamen zwischen zehn und hundert Spieler zusammen, und für den Preis weniger

Kinokarten hatten wir zweieinhalb Tage lang mächtig Spaß.

Doch eines Tages gelang es ihnen, einen Block von Zimmern im Monaco zu buchen, einem Hotel im

Tenderloin, das sich an kunstbeflissene ältere Touristen richtete -- einem dieser Orte, an denen in

jedem Zimmer ein Goldfischglas stand und die Empfangshalle voll war mit wundervollen alten

Menschen in feiner Kleidung, die ihre Ergebnisse plastischer Chirurgie zur Schau stellten.

Normalerweise pflegten uns die Irdischen -- unser Wort für Nicht-Spieler --

einfach zu ignorieren, sie

hielten uns wohl für junge Hallodris. Aber an jenem Wochenende war zufällig der Herausgeber eines

italienischen Reisemagazins im Hotel, und der entwickelte Interesse an der Sache. Er trieb mich in die

Enge, als ich in der Halle herumlungerte in der Hoffnung, den Clan-Führer meiner Rivalen zu sehen,

um mich auf ihn zu stürzen und sein Blut zu schlürfen. Ich stand mit über der Brust verschränkten

Armen, also unsichtbar, an die Wand gelehnt herum, als er sich näherte und mich in holprigem

Englisch fragte, was meine Freunde und ich denn an diesem Wochenende hier so trieben.

Ich versuchte ihn loszuwerden, aber er ließ nicht locker. Also dachte ich, ich könne mir ja einfach was

ausdenken, damit er endlich verschwände.

Ich ahnte nicht, dass er meine Story drucken würde. Und ich ahnte noch viel weniger, dass es von der

amerikanischen Journaille aufgegriffen werden würde.

„Wir sind hier, weil unser Prinz gestorben ist, deshalb mussten wir auf der Suche nach einem neuen

Herrscher hierher kommen.“

„Ein Prinz?“

„Ja“, sagte ich und gewann Gefallen an der Sache. „Wir sind das Alte Volk. Wir sind im 16.

Jahrhundert nach Amerika eingewandert, und seither lebte unsere königliche Familie ununterbrochen

in der Wildnis von Pennsylvania. Wir leben unter einfachen Bedingungen im Wald, und wir benutzen

keinerlei moderne Technik. Doch der Prinz war der Letzte seiner Abstammungslinie, und er ist vorige

Woche gestorben. Eine furchtbare auszehrende Krankheit hat ihn von uns genommen. Die jungen

Männer meines Clans sind aufgebrochen, die Nachkommen seines Großonkels zu finden, der zur Zeit

meines Großvaters davongegangen war, um sich den modernen Menschen anzuschließen. Man sagt,

er habe sich fortgepflanzt, und wir werden den Letzten seiner Linie finden und zurück in seine

rechtmäßige Heimat bringen.“

Ich las damals eine Menge Fantasy-Romane. Solches Zeug flog mir nur so zu.

„Wir fanden eine Frau, die um jene Abkömmlinge wusste. Sie sagte uns, einer von ihnen sei in diesem

Hotel anzutreffen, und so sind wir gekommen, ihn zu finden. Jedoch hat ein rivalisierender Clan

unsere Spur hierher verfolgt, um uns davon abzuhalten, unseren Prinzen heimzubringen, um uns in

Schwäche und leicht beherrschbar zu halten. Daher ist es überlebensnotwendig, dass wir unter uns

bleiben. Wir reden nur mit dem Neuen Volk, wenn es sich nicht vermeiden lässt.

Jetzt mit Ihnen zu

sprechen bereitet mir großes Unbehagen.“

Er beobachtete mich abschätzend. Ich hatte meine Arme nicht mehr gekreuzt, daher war ich für

rivalisierende Vampire jetzt sichtbar; und eine von ihnen hatte sich heimlich an uns herangeschlichen.

Ich drehte mich im letzten Moment um und sah sie mit ausgebreiteten Armen

und zischelnd auf uns

zukommen, eine Vampirin im ganz großen Stil.

Ich breitete meine Arme weit aus und zischelte zurück, dann verschwand ich durch die

Empfangshalle, wobei ich über ein Ledersofa sprang und mich an einer Topfpflanze

vorbeischlängelte, die Vampirin immer hinter mir her. Einen Fluchtplan durchs Treppenhaus ins

Fitnessstudio im Untergeschoss hatte ich vorher schon ausgetüftelt, und dort schüttelte ich sie ab.

Den Journalisten sah ich an diesem Wochenende nicht mehr, aber ich erzählte die Story einigen

anderen LARPern weiter, die sie weiter ausschmückten und keine Gelegenheit ausließen, sie

wiederum weiterzutragen.

Das italienische Magazin hatte eine Mitarbeiterin, die ihre Magisterarbeit über technikfeindliche

Amish-Gemeinschaften im ländlichen Pennsylvania geschrieben hatte, und sie fand uns unglaublich

interessant. Auf der Grundlage der Notizen und Interview-Aufzeichnungen ihres Chefs aus San

Francisco schrieb sie eine faszinierende, herzzerreißende Geschichte über diese merkwürdigen

jugendlichen Kult-Angehörigen, die auf der Suche nach ihrem „Prinzen“ kreuz und quer durch

Amerika reisten. Verdammt, die Leute drucken heutzutage wirklich alles.

Aber die Sache war die, dass Geschichten wie diese aufgegriffen und weiterverbreitet werden. Zuerst

waren es italienische Blogger, dann ein paar amerikanische Blogger. Leute überall im Land

berichteten über „Sichtungen“ von Angehörigen des Alten Volkes, wobei ich bis heute nicht weiß, ob

das ausgedacht war oder ob andere dasselbe Spiel spielten.

So arbeitete sich die Story durch die Medien-Nahrungskette bis hoch zur „New York Times“, die

leider einen ungesunden Appetit für Faktenrecherche hat. Der Reporter, den sie auf die Sache

ansetzten, führte sie schließlich auf das Monaco Hotel zurück, wo man ihn an die LARPOrganisatoren

verwies, die ihm dann lachend die ganze Geschichte erzählten.

Nun ja -- ab da war LARPing sehr viel weniger cool. Wir wurden bekannt als die größten Schummler

der Nation, als durchgeknallte pathologische Lügner. Die Presseleute, die wir unbeabsichtigt dazu

gebracht hatten, die Story des Alten Volkes zu covern, waren nun erpicht drauf, sich selbst wieder in

besseres Licht zu rücken, indem sie berichteten, wie unfassbar merkwürdig wir LARPer doch waren;

und an diesem Punkt ließ Charles jeden in der Schule wissen, dass Darryl und ich die größten LARPWeicheier

der Stadt seien.

Das war kein gutes Jahr. Ein paar aus der Gang störten sich nicht dran, wir aber

schon. Die Hänselei

war gnadenlos. Und Charles immer vornweg. Ich fand Plastik-Gebisse in meiner Tasche; Kids, die

mir in der Aula begegneten, machten „bleh, bleh“ wie ein Comic-Vampir oder sprachen in meiner

Gegenwart mit aufgesetztem transsylvanischem Akzent.

Wenig später stiegen wir auf ARG um. In mancherlei Hinsicht war das noch lustiger, und vor allem

war es sehr viel weniger abseitig. Aber manchmal vermisste ich doch meinen Umhang und diese

Wochenenden im Hotel.

Das Gegenteil von esprit d‘escalier ist, wenn alle Peinlichkeiten deines Lebens zurückkommen und

dich verfolgen, auch wenn sie schon längst verjährt sind. Ich erinnerte mich an jede einzelne

Dummheit, die ich je gesagt oder getan hatte, und zwar bis ins kleinste Detail.

Und jedes Mal, wenn

ich mich niedergeschlagen fühlte, fing ich ganz von selbst an, mich an ähnliche Situationen zu

erinnern -- eine Hitparade von Erniedrigungen paradierte eine nach der anderen an meinem inneren

Auge vorbei.

Während ich versuchte, mich auf Masha und meinen drohenden Untergang zu konzentrieren,

verfolgte mich der Vorfall mit dem Alten Volk penetrant. Es war damals ein ganz ähnliches krankes

Gefühl der Verlorenheit gewesen, als immer mehr Medien die Story aufgriffen und das Risiko stieg,

dass jemand herausfand, dass ich es war, der dem blöden italienischen Herausgeber, diesem Typ in

seinen Designerjeans mit den schiefen Nähten, dem gestärkten Hemd ohne Kragen und der riesigen

metallgefassten Brille, die Geschichte angedreht hatte.

Es gibt eine Alternative dazu, dich in deinen Fehlern zu suhlen. Du kannst aus ihnen lernen.

Jedenfalls ist das eine gute Theorie. Vielleicht besteht ja auch der Grund dafür, dass dein

Unterbewusstsein all diese elenden Gespenster reanimiert, darin, dass sie irgendeinen Abschluss

finden müssen, bevor sie in Frieden im Erniedrigungsjenseits ruhen können.

Mein Unterbewusstsein

traktierte mich mit Gespenstern in der Hoffnung, dass ich etwas tun würde, damit sie in Frieden

würden ruhen können.

Auf dem ganzen Weg heim wälzte ich diese Erinnerung und den Gedanken, wie ich mit „Masha“

umgehen sollte für den Fall, dass sie mir eine Falle stellte. Ich musste irgendeine Rückversicherung

haben.

Und als ich mein Haus erreichte -- und die melancholischen Umarmungen von Mom und Dad, die dort

auf mich warteten --, da hatte ich sie.

Der Trick bestand darin, das Ganze so zu timen, dass es schnell genug passierte, um dem DHS keine

Vorbereitungszeit zu geben, aber mit genug Vorlauf, dass das Xnet Zeit haben würde, massenhaft zu

erscheinen.

Der Trick bestand darin, es so zu arrangieren, dass zu viele von uns auf einem Haufen waren, um uns

alle festzunehmen, und es dennoch irgendwo zu machen, wo es von der Presse und den Erwachsenen

zur Kenntnis genommen wurde, damit das DHS uns nicht wieder einfach

begasen konnte.

Der Trick bestand darin, dass es etwas so Medientaugliches sein musste wie die Levitation des

Pentagon. Der Trick bestand darin, den Anlass für eine richtig fette Massenkundgebung zu

inszenieren, so wie damals die 3000 Berkeley-Studenten, die sich weigerten, einen der Ihren in einem

Polizeiauto abtransportieren zu lassen.

Und der Trick bestand darin, die Presse vor Ort sein zu lassen, bereit zu berichten, was die Polizei tat,

ebenso wie 1968 in Chicago.

Es musste ein wirklich guter Trick sein.

Am folgenden Tag verschwand ich mit Hilfe meiner üblichen Techniken eine Stunde früher aus der

Schule; es war mir egal, ob das womöglich irgendeinen neuartigen DHS-Checker auslöste, der zu

einer Benachrichtigung meiner Eltern führen würde.

So oder so: Ob ich Ärger in der Schule bekam, würde nach dem morgigen Tag das kleinste Problem

meiner Eltern sein.

Ich traf mich mit Ange bei ihr. Sie hatte noch früher aus der Schule verschwinden müssen, aber sie

hatte ihre Regel vorgeschoben und sich benommen, als würde sie gleich umkippen, und dann hatten

sie sie heimgeschickt.

Wir fingen an, die Sache im Xnet zu verbreiten. Wir sandten E-Mails an vertrauenswürdige Freunde

und Instant Messages an unsere Buddy-Listen. Wir zogen über die Planken und durch die Straßen von

Clockwork Plunder und erzählten es unseren Teamgefährten. Jedem genug Information zukommen zu

lassen, dass er auch sicher erschien, ohne das DHS in unsere Karten schauen zu lassen, war knifflig,

aber ich war mir sicher, die richtige Balance gefunden zu haben: MORGEN VAMPMOB

Wenn du ein Grufti bist, dann putz dich raus. Wenn du kein Grufti bist, dann finde einen und leih

dir seine Klamotten. Vampir ist angesagt.

Das Spiel beginnt Punkt acht. PUNKT ACHT. Seid da und seid bereit, euch in Teams einteilen zu

lassen. Das Spiel dauert 30 Minuten, ihr habt also genug Zeit, noch rechtzeitig in die Schule zu

kommen.

Die Location erfahrt ihr morgen früh. Mailt eure öffentlichen Schlüssel an m1k3y@littlebrother.pirateparty.org.se, und ruft für das Update um sieben Uhr eure Mails ab. Wenn

euch das zu früh ist, dann bleibt die ganze Nacht wach. So machen wir es jedenfalls.

Das wird das Lustigste, was ihr in diesem Jahr erleben werdet, versprochen.

Habt Vertrauen.

M1k3y

Dann schickte ich eine kurze Notiz an Masha.

Morgen

M1k3y

Eine Minute später mailte sie zurück:

Dacht ich mir so. VampMob also. Du bist schnell. Setz einen roten Hut auf.

Und bring leichtes

Gepäck.

Was nimmt man mit auf die Flucht? Ich hatte schon genug schwere Säcke auf genug Pfadfinderlagern

rumgeschleppt, um zu wissen, dass jedes Gramm extra bei jedem Schritt mit der geballten Macht der

Schwerkraft in deine Schultern schneidet. Es ist nicht bloß ein Gramm -- es ist ein Gramm, das du eine

Million Schritte weit trägst. Es ist eine Tonne.

„Stimmt“, sagte Ange. „Clever. Und mehr als drei Sätze Klamotten nehmen wir auch nicht mit.

Notfalls waschen wir das Zeug im Handwaschbecken aus. Lieber ein Fleck auf dem T-Shirt als einen

Koffer, der zu groß und zu schwer ist, um unter einen Flugzeugsitz zu passen.“

Sie hatte eine robuste Nylon-Kuriertasche rausgekramt, deren Riemen sie über die Schulter und

zwischen ihren Brüsten hindurchführte (was mich ein klein wenig ins Schwitzen brachte) und die

dann diagonal auf ihrem Rücken saß. Die Tasche war innen geräumig, und sie hatte sie auf dem Bett

abgestellt. Jetzt stapelte sie Kleidungsstücke daneben auf.

„Ich schätze mal, drei T-Shirts, eine lange und eine kurze Hose, drei Sätze Unterwäsche, drei Paar

Socken und ein Pulli müssen reichen.“

Sie leerte ihre Sporttasche aus und suchte ihre Toilettenartikel zusammen. „Ich muss dran denken,

morgen früh meine Zahnbürste einzustecken, bevor ich Richtung Civic Center losgehe.“

Ihr beim Packen zuzuschauen war beeindruckend. Sie war dabei völlig abgebrüht. Und es war

verrückt -- es machte mir klar, dass ich am nächsten Tag weggehen würde.

Vielleicht für lange.

Vielleicht für immer.

„Soll ich meine Xbox mitnehmen?“, fragte sie. „Ich hab eine Tonne Zeug auf der Festplatte, Notizen,

Entwürfe und Mails. Ich möchte nicht, dass das in falsche Hände gerät.“

„Das ist alles verschlüsselt“, erwiderte ich. „Das ist bei ParanoidXbox Standard.

Lass die Xbox hier,

in L.A. wird es reichlich von den Dingern geben. Richte dir bloß einen Piratenpartei-Account ein, und

mail dir selbst ein Image von deiner Festplatte. Wenn ich heimkomme, mach ich das auch noch.“

Das tat sie und schickte die Mail auf den Weg. Es würde ein paar Stunden dauern, bis all die Daten

sich durch das WLAN ihrer Nachbarn gezwängt und ihren Weg nach Schweden gefunden hatten.

Dann schloss sie die Klappe der Tasche und zog die Kompressionsriemen an.

Jetzt hatte sie etwas

Fußballgroßes auf ihrem Rücken hängen, und ich starrte es bewundernd an.

Damit unter der Schulter

konnte sie die Straße runterlaufen, und niemand würde zwei Mal hinschauen --

sie würde so aussehen,

als sei sie auf dem Weg zur Schule.

„Ach, eins noch“, sagte sie, ging zu ihrem Nachttisch und holte die Kondome raus. Sie holte die

Gummipäckchen aus der Schachtel, öffnete die Tasche und stopfte sie hinein, dann gab sie mir einen

Klaps auf den Po.

„Und jetzt?“, fragte ich.

„Jetzt gehen wir zu dir und kümmern uns um deinen Kram. Außerdem wirds langsam Zeit, dass ich

deine Eltern kennen lerne, oder?“

Sie ließ die Tasche inmitten der Klamottenstapel und des Krimskrams auf dem Fußboden liegen. Sie

war bereit, das alles hinter sich zu lassen, fortzugehen, nur um bei mir zu sein.

Nur um der Sache zu

dienen. Das machte auch mir Mut.

Mom war schon daheim, als ich ankam. Sie hatte ihren Laptop offen auf dem Küchentisch stehen und

beantwortete Mails, während sie über Headset mit irgendeinem armen Yorkshireman sprach, der mit

seiner Familie Hilfe dabei benötigte, sich an das Leben in Louisiana zu gewöhnen.

Ich trat durch die Tür und Ange hinterher, grinsend wie wahnsinnig, aber zugleich meine Hand so fest

drückend, dass ich spüren konnte, wie ihre Knochen aufeinanderschabten. Ich wusste nicht, worüber

sie sich solche Sorgen machte. War ja nicht so, dass sie nach dem heutigen Tag noch mal allzu viel

Zeit mit meinen Eltern würde verbringen müssen, selbst wenn es schlecht lief.

Mom beendete das Gespräch mit dem Yorkshireman, als wir hereinkamen.

„Hallo, Marcus“, sagte sie und gab mir einen Kuss auf die Wange. „Und wer ist das?“

„Mom, darf ich dir Ange vorstellen? Ange, das ist meine Mom, Lillian.“

Mom stand auf und nahm Ange in die Arme.

„Es ist sehr schön, dich kennen zu lernen, Liebes“, sagte sie und musterte sie von Kopf bis Fuß. Ange

sah ziemlich vorzeigbar aus, fand ich. Sie zog sich anständig und dezent an, und man konnte ihr

ansehen, dass sie ein heller Kopf war.

„Eine Freude, Sie kennen zu lernen, Mrs. Yallow“, sagte sie. Sie klang sehr souverän und

selbstbewusst. Viel mehr als ich, als ich ihre Mom zum ersten Mal traf.

„Sag doch Lillian, meine Liebe.“ Mom achtete erkennbar auf jedes Detail.

„Bleibst du zum Essen?“

„Sehr gern“, sagte sie.

„Isst du Fleisch?“ Mom hat sich ans Leben in Kalifornien echt gut angepasst.

„Ich esse alles, das mich nicht zuerst isst.“

„Sie ist süchtig nach scharfer Sauce“, sagte ich. „Du kannst ihr auch alte Reifen anbieten, und Ange

wird sie essen, solange sie sie nur in Salsa ertränken kann.“

Ange knuffte mich zärtlich in die Schulter.

„Ich hatte Thai ordern wollen“, sagte Mom. „Dann bestelle ich noch ein paar von ihren Fünf-Chili-Gerichten dazu.“

Ange dankte ihr höflich, und Mom wuselte in der Küche rum, stellte uns Saftgläser und einen Teller

Kekse hin und fragte uns drei Mal, ob wir Tee haben wollten. Ich wurde allmählich hibbelig.

„Danke, Mom“, sagte ich. „Aber wir würden erst mal für einen Moment zu mir raufgehen wollen.“

Moms Augen verengten sich einen Moment lang, aber dann lächelte sie wieder.

„Na sicher“, sagte

sie. „Dein Vater wird in einer Stunde daheim sein, wir essen dann alle zusammen.“

Mein Vampirzeug hatte ich im hintersten Winkel des Kleiderschranks verstaut.

Ich ließ Ange

durchgucken, während ich meine Klamotten durchflöhte. Ich musste ja bloß bis L.A. kommen. Da

gab es Geschäfte für all die Bekleidung, die ich dann noch brauchte. Ich musste bloß drei, vier

Lieblings-T-Shirts und eine Lieblings-Jeans zusammensuchen, einen Deo-Roller und eine Rolle

Zahnseide.

„Geld!“, sagte ich dann.

„Oh ja“, sagte sie. „Ich wollte mein Konto beim Geldomaten auf dem Weg nach Hause leerräumen.

Ich hab vielleicht fünfhundert zusammengespart.“

„Echt?“

„Wofür sollte ichs denn ausgeben? Seit dem Xnet hab ich ja noch nicht mal mehr Provider-Gebühren.“

„Ich glaube, ich hab so was um dreihundert.“

„Na guck. Heb das morgen auf dem Weg zum Civic Center ab.“ Ich hatte eine große Schultasche, die

ich dazu benutzte, größere Mengen Ausrüstung durch die Stadt zu schleppen.

Die war unauffälliger

als mein Campinggepäck. Ange ging gnadenlos durch meine Stapel durch und dampfte sie auf ihre

Lieblingsstücke ein.

Als alles gepackt und unterm Bett verstaut war, setzten wir uns hin.

„Wir müssen morgen richtig früh aufstehen“, sagte sie.

„Oh ja, großer Tag.“

Unser Plan sah vor, dass wir morgen früh Nachrichten mit diversen falschen VampMob-Locations

versenden würden, um die Leute an mehrere stille Orte im Umkreis von ein paar Gehminuten um das

Civic Center zu schicken. Wir wollten noch eine Sprühschablone ausschneiden, mit der wir gegen

fünf Uhr morgens einfach VAMPMOB CIVIC CENTER ->-> an diesen Plätzen auf die Straße sprühen

würden. Auf diese Weise wollten wir vermeiden, dass das DHS das Civic Center abriegelte, bevor wir

einträfen. Ich hatte den Mail-Bot so eingestellt, dass die Nachrichten um sieben Uhr rausgingen -- ich

musste nur die Xbox eingeschaltet lassen, wenn ich ging.

„Wie lange ...“ Sie brach ab.

„Das hab ich mich auch schon gefragt“, sagte ich. „Schätze mal, das könnte eine ganze Weile dauern.

Aber wer weiß? Wenn Barbaras Artikel erscheint“ -- ich hatte auch eine Mail für sie in der Pipeline --

„und all das, vielleicht sind wir in zwei Wochen Helden.“

„Vielleicht.“ Sie seufzte.

Ich legte meinen Arm um sie. Ihre Schultern bebten.

„Ich habe Angst“, sagte ich. „Ich glaube, es wäre wahnsinnig, keine Angst zu haben.“

„Ja“, sagte sie. „Ja.“

Mom rief uns zum Essen. Dad schüttelte Anges Hand. Er sah unrasiert und besorgt aus, so wie er

immer aussah, seit wir zu Barbara gefahren waren, aber das Treffen mit Ange brachte ein bisschen

was von dem alten Dad zum Vorschein. Sie küsste ihn auf die Wange, und er bestand darauf, dass sie

ihn Drew nennen möge.

Das Abendessen war wirklich ein Erfolg. Das Eis war gebrochen, als Ange ihren Zerstäuber mit der

scharfen Sauce hervorholte, ihr Essen damit behandelte und die Sache mit den Scoville-Einheiten

erklärte. Dad probierte eine Gabelvoll von ihrem Teller und flitzte dann in die Küche, um einen oder

zwei Liter Milch zu trinken. Ob ihr es glaubt oder nicht, Mom kostete danach trotzdem und sah dabei

so aus, als genieße sie es rundum. Mom, so stellte sich heraus, war ein unentdecktes Wunderkind des

scharfen Essens, ein Naturtalent.

Bevor sie ging, drückte Ange meiner Mutter den Zerstäuber in die Hand. „Ich habe noch einen

daheim“, sagte sie. Ich hatte gesehen, wie sie ihn eingepackt hatte. „Und ich denke, du bist die Art

Frau, die so einen haben sollte.“

Kapitel 19

Dieses Kapitel ist dem MIT Press Bookshop gewidmet, einem Laden, den ich bei jedem meiner Trips nach Boston in den

letzten zehn Jahren besucht habe. Das MIT ist natürlich eine der legendären Keimzellen globaler Nerd-Kultur, und die

Buchhandlung auf dem Campus wird allen Erwartungen gerecht, die ich mitbrachte, als ich sie zum ersten Mal betrat.

Neben den wunderbaren Werken, die bei MIT Press erscheinen, bietet der Laden auch eine Rundreise durch die

aufregendsten High-Tech-Publikationen der Welt, von Hacker-Blättchen wie 2600 bis zu dicken akademischen Anthologien

über Videospiel-Design. Dies ist einer der Läden, in denen ich um Lieferung meiner Einkäufe bitten muss, weil sie nicht in den Koffer passen.

MIT Press Bookstore http://web.mit.edu/bookstore/www/ Building E38, 77

Massachusetts Ave., Cambridge, MA USA

02139-4307 +1 617 253 5249

ies ist die E-Mail, die um sieben Uhr am nächsten Morgen rausging, während Ange und ich

VAMPMOB CIVIC CENTER ->-> an strategischen Punkten der Stadt auf den Asphalt sprühten. D

REGELN FÜR VAMPMOB

Du bist Mitglied eines Clans von Tageslicht-Vampiren. Du hast das Geheimnis entdeckt, wie man

das grässliche Sonnenlicht überlebt. Das Geheimnis ist Kannibalismus: Das Blut eines anderen

Vampirs kann dir die Kraft geben, unter den Lebenden zu wandeln.

Um im Spiel zu bleiben, musst du so viele andere Vampire beißen wie möglich. Wenn eine Minute

ohne einen Biss verstreicht, bist du raus. Wenn du raus bist, dreh dein Shirt um und werde

Schiedsrichter -- beobachte zwei oder drei Vamps, um zu sehen, ob sie ihre Bisse landen können.

Um einen anderen Vamp zu beißen, musst du fünf Mal „Beißen!“ sagen, bevor er es tut. Also rennst

du auf einen Vampir zu, suchst Blickkontakt und schreist „Beißen Beißen Beißen Beißen Beißen!“,

und wenn du es schaffst, bevor der andere es schafft, dann lebst du, und der andere zerfällt zu Staub.

Du und die anderen Vampire, die du an deinem Treffpunkt vorfindest, seid ein Team. Sie sind dein

Clan. Ihr Blut hat für dich keinen Nährwert.

Du kannst „unsichtbar“ werden, indem du stehen bleibst und die Arme über der Brust

verschränkst. Du kannst keine unsichtbaren Vampire beißen, und sie können dich nicht beißen.

Dieses Spiel wird nach dem Ehrenprinzip gespielt. Sinn ist es, Spaß zu haben und mal wieder

deinen Vamp unter die Leute zu bringen, und nicht, zu gewinnen.

Es gibt ein Endspiel, das durch Mundpropaganda eingeläutet wird, wenn sich Gewinner

abzeichnen. Die Spielleiter werden eine Flüsterkampagne unter den Spielern starten, wenn die Zeit

dafür reif ist. Verbreite die Parole, so schnell du kannst, und achte auf das Zeichen.

M1k3y

Beißen Beißen Beißen Beißen Beißen!

Wir hatten gehofft, dass vielleicht hundert Leute bereit sein würden, VampMob zu spielen. Jeder von

uns hatte etwa zweihundert Einladungen rausgeschickt. Aber als ich um vier Uhr aufsprang und zur

Xbox griff, waren 400 Antworten eingetroffen. VIERHUNDERT.

Ich fütterte den Bot mit den Adressen und stahl mich aus dem Haus. Ich stieg die Stufen hinab,

lauschte noch kurz, wie mein Vater schnarchte und meine Mom sich im Bett hin-und herwälzte. Dann

verschloss ich die Tür hinter mir.

Morgens um Viertel nach Vier war es in Potrero Hill so still wie auf dem Land.

Ich hörte einige

entfernte Verkehrsgeräusche, und einmal fuhr ein Auto an mir vorbei. An einem Geldautomaten hielt

ich an und hob 320 Dollar in Zwanzigern ab, rollte sie zusammen, wickelte ein Gummiband drum und

stopfte die Rolle in eine Reißverschlusstasche an der Hüfte meiner Vampirhose.

Ich trug wieder meinen Umhang, ein Rüschenhemd und eine Smokinghose, die so umgearbeitet war,

dass sie genug Taschen für all meinen Kleinkram hatte. Dazu noch spitze Stiefel mit silbernen

Totenköpfen auf den Schnallen, und mein Haar hatte ich zu einer schwarzen Pusteblume aufgestylt.

Ange wollte das weiße Makeup mitbringen und hatte versprochen, mir Eyeliner und schwarzen

Nagellack zu machen. Warum auch nicht? Wann würde ich denn das nächste Mal Gelegenheit haben,

mich auf diese Weise zu verkleiden?

Ich traf Ange vor ihrem Haus. Sie hatte ebenfalls ihre Tasche umgehängt, trug Netzstrümpfe, ein

gekräuseltes Gothic-Lolitakleidchen, weiße Schminke im Gesicht, ausgefeiltes Kabuki-Augenmakeup, und an ihren Fingern und am Hals prangte Silberschmuck.

„Du siehst TOLL aus!“, sagten wir wie aus einem Mund, dann lachten wir still und machten uns

durch die Straßen davon, Sprühdosen in unseren Taschen.

Während ich das Civic Center betrachtete, überlegte ich, wie es wohl dort aussehen würde, wenn es

von 400 VampMobbern heimgesucht wurde. Ich erwartete sie ihn zehn Minuten außen vor der City

Hall. Schon jetzt wimmelte es auf der großen Plaza von Pendlern, die fein säuberliche Bögen um die

dort bettelnden Obdachlosen machten.

Ich habe das Civic Center schon immer gehasst. Es ist eine Ansammlung von Hochzeitstorten-Bauwerken: Gerichtsgebäude, Museen und öffentliche Gebäude wie die City Hall. Die Bürgersteige

sind breit, die Gebäude sind weiß. Irgendwie schaffen sie es, dass der Komplex auf Fotos für die

Reiseführer von San Francisco wie das Epcot Center aussieht, futuristisch und streng.

Aber aus der Nähe ist es schmuddelig und eklig. Auf allen Bänken schlafen Obdachlose. Das Viertel

ist spätestens abends um Sechs leer, Betrunkene und Junkies ausgenommen; denn da es dort nur eine

einzige Sorte Gebäude gibt, gibt es überhaupt keinen Grund, nach Sonnenuntergang noch

rumzuhängen. Es ist eher ein Einkaufszentrum als ein Wohnviertel, aber die einzigen Geschäfte dort

sind Kautionsvermittler und Spirituosenläden, also Angebote für die Familien der Ganoven, die hier

vor Gericht stehen, und die Penner, die hier ihre nächtliche Wohnstätte haben.

So richtig verstand ich das alles, als ich ein Interview mit einer erstaunlichen alten Stadtplanerin las,

einer Frau namens Jane Jacobs, die mir als erste wirklich begreiflich machen konnte, warum es falsch

war, die Städte mit Autobahnen zu zerteilen, alle Armen in Wohnungsprojekte zu stecken und streng

gesetzlich zu regeln, wer was wann wo tun durfte.

Jacobs erklärte, dass wirkliche Städte organisch sind und eine Menge Vielfalt aufweisen -- Reich und

Arm, Weiß und Braun, Anglo und Mex, Einzelhandel und Wohnen und sogar Industrie. Solch ein

Viertel wird von allen Arten von Menschen zu sämtlichen Tages- und Nachtstunden besucht, deshalb

siedeln sich dort Geschäfte an, die jeden denkbaren Bedarf decken, und du hast dort rund um die Uhr

Leute, die ganz von selbst über die Straßen wachen.

Ihr kennt das sicherlich. Spaziert mal durch einen älteren Teil eurer Stadt, und

ihr werdet merken, dass

er voll mit den coolsten Geschäften ist, mit Typen in Anzügen oder edelschlampig, gehobenen

Restaurants und schicken Cafés, vielleicht einem kleinen Kino, mit liebevoll gestrichenen Häusern.

Sicher wirds da auch einen Starbucks geben, aber eben auch einen hübschen kleinen Obst- und

Gemüse-Markt und eine Floristin, die dreihundert Jahre alt zu sein scheint und sorgfältig an den

Blumen in ihren Fenstern schnipselt. Das ist das Gegenteil von geplantem Raum wie etwa einem

Einkaufszentrum. Es fühlt sich eher an wie ein verwilderter Garten oder ein Wald: als wäre es

gewachsen.

Man könnte nicht weiter davon entfernt sein als im Civic Center. Ich las dieses Interview mit Jacobs,

in dem sie über das wundervolle alte Viertel sprach, das sie dafür abgerissen hatten. Es war genau

diese Sorte Viertel gewesen, diese Art Ort, die einfach geschah -- ohne explizite Erlaubnis, ohne Sinn

und Verstand.

Jacobs erzählte, sie habe vorhergesagt, dass das Civic Center binnen weniger Jahre eines der

schlimmsten Viertel der Stadt werden würde, eine Geisterstadt bei Nacht, ein Ort, an dem nur ein paar

klapprige Läden für Säuferbedarf und schäbige Motels eine Existenzgrundlage

finden würden. Sie

erweckte im Interview nicht den Eindruck, als freue sie sich darüber, von der Realität bestätigt

worden zu sein; viel eher klang es, als spreche sie über einen toten Freund, als sie beschrieb, was aus

dem Civic Center geworden war.

Aber jetzt war Rushhour, und das Civic Center war denkbar belebt. Die dortige BART ist zugleich ein

Knotenpunkt mehrerer Straßenbahnlinien, und wenn du von einer zur anderen wechseln musst, tust du

es hier. Morgens um acht kamen Tausende Leute die Treppen hoch, liefen die Treppen runter, stiegen

in Taxis und Busse ein und aus. Bei den DHS-Checkpoints an den diversen öffentlichen Gebäuden

knubbelten sie sich, um aggressive Bettler machten sie große Bögen. Alle rochen sie nach ihren

Shampoos und Deos, frisch geduscht und in der Rüstung ihrer Bürokluft, mit Laptoptaschen und

Aktentaschen. Morgens um acht war das Civic Center der Nabel der Geschäftswelt.

Und jetzt kamen die Vampire. Ein paar Dutzend aus Richtung Van Ness, ein paar Dutzend von Market

Street. Noch mehr von der anderen Seite von Market. Sie glitten an den Gebäuden entlang mit weißer

Gesichtsfarbe und schwarzem Eyeliner, schwarzen Klamotten, Lederjacken, enorm schweren Stiefeln

und fingerlosen Netzhandschuhen.

Sie begannen die Plaza zu füllen. Einige der Geschäftsleute warfen ihnen kurze Blicke zu und

wandten sich dann wieder ab; wollten wohl diese Irren nicht in ihre persönliche Realität eindringen

lassen, in der es nur darum ging, durch welchen Mist sie sich in den kommenden acht Stunden wieder

zu wühlen hatten. Die Vamps stromerten rum, unsicher, wann das Spiel losgehen würde. Sie

sammelten sich in großen Gruppen, wie ein umgekehrter Ölteppich, alles Schwarz sammelte sich an

einem Fleck. Viele von ihnen trugen altmodische Hüte, Melonen, Museumsstücke. Und viele der

Mädchen hatten sich in grausig-eleganten Lolitakostümen und enormen Plateausohlen aufgebrezelt.

Ich versuchte ihre Zahl zu schätzen. 200. Fünf Minuten später waren wir bei 300, 400. Und es kamen

immer noch welche. Die Vampire hatten Freunde mitgebracht.

Jemand packte mich am Po. Ich wirbelte herum und sah Ange, die sich vor Lachen schüttelte.

„Sieh dir das an, Mann, sieh dir die alle an!“, staunte sie. Der Platz war jetzt doppelt so bevölkert wie

noch vor wenigen Minuten. Ich wusste nicht, wie viele Xnetter es insgesamt gab, aber mindestens

1000 von ihnen waren gerade bei meiner kleinen Party erschienen. Allmächtiger.

Die DHS- und SFPD-Bullen setzten sich in Bewegung, sprachen in ihre

Funkgeräte und gruppierten

sich. Ich hörte von fern eine Sirene.

„Na gut“, sagte ich und schüttelte Ange am Arm. „Okay, los gehts.“ Wir verschwanden beide in der

Menge, und sobald wir unseren ersten Vamp trafen, sagten wir beide laut

„Beißen Beißen Beißen

Beißen Beißen!“ Mein Opfer war ein fassungsloses, süßes Mädchen, das sich Spinnweben auf die

Arme gemalt hatte und dem das Mascara bereits die Wangen herablief. Sie sagte

„Mist“ und zog sich

zurück, als sie erkannte, dass ich sie erwischt hatte.

Der Ruf „Beißen Beißen Beißen Beißen Beißen!“ hatte die Vampire in der Nähe in Bewegung

versetzt. Einige stürzten sich gleich auf die anderen, andere suchten nach Deckung. Für diese Minute

hatte ich mein Opfer, deshalb schlich ich mich davon, Irdische als Deckung benutzend. Überall um

mich herum nun „Beißen Beißen Beißen Beißen Beißen!“, Rufe, Gelächter, Flüche.

Das Geräusch verbreitete sich wie ein Virus in der Menge. Alle Vampire wussten jetzt, dass das Spiel

im Gange war, und die, die sich zu Grüppchen versammelt hatten, fielen jetzt wie die Fliegen. Sie

lachten, schimpften und wechselten ihren Standort, um Neuankömmlingen mitzuteilen, dass das Spiel

lief. Und neue Vamps kamen immer noch sekündlich dazu.

8:16. Es war Zeit für mich, wieder einen zu erwischen. Ich duckte mich und wuselte zwischen den

Beinen der Normalos durch, die unterwegs zu den Treppen zur BART waren. Sie schreckten erstaunt

zurück und versuchten mir auszuweichen. Meine Blicke waren völlig fixiert auf ein Paar schwarzer

Plateaustiefel mit stählernen Drachen auf den Zehenkappen, deshalb war ich nicht drauf vorbereitet,

einem anderen Vampir plötzlich Auge in Auge gegenüberzustehen -- einem Typen von vielleicht 15

oder 16 Jahren, der das Haar glatt zurückgegelt hatte und eine Marilyn-Manson-PVC-Jacke trug, dazu

Halsketten mit falschen Stoßzähnen, in die komplizierte Symbole eingraviert waren.

„Beißen Beißen Beißen ...“, begann er, als einer der Irdischen über ihn stolperte und sie sich beide

langmachten. Ich sprang rüber zu ihm und rief „Beißen Beißen Beißen Beißen Beißen!“, bevor er sich

wieder losmachen konnte.

Immer mehr Vampire kamen dazu. Die Anzüge wurden allmählich echt nervös.

Das Spiel schwappte

nun über den Bürgersteig in Van Ness rein und breitete sich Richtung Market Street aus. Autofahrer

hupten, und die Straßenbahnen ließen wütendes Klingeln vernehmen. Ich hörte weitere Sirenen, aber

mittlerweile war der Verkehr in alle Richtungen zum Erliegen gekommen.

Es war verdammt glorreich.

Beißen Beißen Beißen Beißen Beißen!

Der Ruf kam jetzt von überall her. Es waren so viele Vampire, und sie spielten so leidenschaftlich,

dass es ein monströses Getöse war. Ich riskierte es, aufzustehen und mich umzuschauen, und

erkannte, dass ich mich mitten in einer gewaltigen Menge von Vamps befand, die sich in alle

Richtungen erstreckte, so weit mein Blick reichte.

Beißen Beißen Beißen Beißen Beißen!

Das hier war sogar noch besser als das Konzert in Dolores Park. Dort war es wütendes Rocken

gewesen, aber hier -- nun, hier war es einfach nur Spaß. Es war wie wieder auf den Spielplatz gehen,

wie diese ausufernden Abklatschen-Spiele in sonnigen Mittagspausen, wenn Hunderte Kinder

hintereinander her rannten. Die Erwachsenen und die Autos verliehen dem Ganzen nur noch etwas

Extra-Spaß.

Ja, genau das war es: Spaß. Wir waren mittlerweile alle nur noch am Lachen.

Aber die Bullen machten jetzt mächtig mobil. Ich hörte Hubschrauber. Nun konnte es jeden Moment

vorbei sein. Zeit für das Endspiel.

Ich schnappte mir einen Vamp.

„Endspiel: Wenn die Bullen uns auffordern, uns zu zerstreuen, dann tu so, als

hätten sie dich mit Gas

erwischt. Weitersagen. Was hab ich gerade gesagt?“

Der Vamp war ein Mädchen, so klein, dass ich erst dachte, sie müsse sehr jung sein, aber nach ihrem

Gesicht und dem Grinsen zu urteilen, doch schon 17 oder 18. „Boah, das ist derbe“, sagte sie.

„Was hab ich gesagt?“

„Endspiel: Wenn die Bullen uns auffordern, uns zu zerstreuen, tu so, als hätten sie dich mit Gas

erwischt. Weitersagen. Was hab ich gerade gesagt?“

„Stimmt“, sagte ich. „Weitersagen.“

Sie verschwand in der Menge. Ich schnappte mir einen anderen Vampir und gab die Parole aus. Er

verschwand, um sie weiterzusagen.

Irgendwo in der Menge, das wusste ich, war Ange dabei, dasselbe zu tun.

Irgendwo in der Menge

könnten auch Maulwürfe sein, falsche Xnetter, aber was sollten sie mit diesem Wissen schon

anfangen? War ja nicht so, dass die Polizei die Wahl hatte. Die mussten uns dazu auffordern, uns zu

zerstreuen. Soviel war garantiert.

Ich musste zu Ange kommen. Wir hatten geplant, uns an der Gründerstatue auf der Plaza zu treffen,

aber dorthin zu gelangen würde schwierig werden. Die Menge bewegte sich nicht mehr bloß, sondern

sie wogte, so wie damals der Mob auf dem Weg runter zur BART am Tag, als die Bomben

hochgingen. Ich mühte mich ab, mir einen Weg zu bahnen, als die Lautsprecher unter dem

Hubschrauber eingeschaltet wurden.

„HIER SPRICHT DIE HEIMATSCHUTZBEHÖRDE. SIE WERDEN DAZU

AUFGEFORDERT,

SICH SOFORT VON HIER ZU ENTFERNEN.“

Um mich herum fielen Hunderte Vampire zu Boden, griffen sich an die Kehle, rieben ihre Augen,

schnappten nach Luft. So zu tun, als ob man begast würde, war einfach -- wir hatten reichlich

Gelegenheit gehabt, die Videos aus Mission Dolores Park zu studieren, als das Partyvolk unter

Pfefferspray-Wolken zu Boden ging.

„ENTFERNEN SIE SICH SOFORT VON HIER.“ Ich fiel zu Boden, aber mit Rücksicht auf meine

Tasche, und griff nach hinten zu der roten Baseball-Mütze, die zusammengefaltet im Hosenbund

steckte. Ich presste sie auf den Kopf, dann griff ich mir an die Kehle und gab ekelhaft würgende

Geräusche von mir.

Die Einzigen, die jetzt noch standen, waren die Irdischen, all die Angestellten, die bloß versucht

hatten, zu ihren Jobs zu kommen. Ich blickte mich nach ihnen um, so gut es beim Würgen und

Hecheln ging.

„HIER SPRICHT DIE HEIMATSCHUTZBEHÖRDE. SIE WERDEN DAZU

AUFGEFORDERT,

SICH SOFORT VON HIER ZU ENTFERNEN. ENTFERNEN SIE SICH

SOFORT VON HIER.“

Die Stimme Gottes schmerzte in meinen Eingeweiden. Ich spürte sie in meinen Backenzähnen, in den

Oberschenkeln und in meinem Rückgrat.

Die Angestellten bekamen Angst. Sie bewegten sich, so schnell sie konnten, aber nicht in eine

bestimmte Richtung. Egal wo du standest, die Helikopter schienen unmittelbar über dir zu sein. Die

Bullen drangen jetzt in die Menge vor, und sie hatten ihre Helme aufgesetzt.

Einige trugen Schilde.

Einige trugen Gasmasken. Ich keuchte noch mehr.

Dann fingen die Angestellten an zu rennen. Wahrscheinlich wäre ich auch gerannt. Ich sah, wie ein

Typ sich sein 500-Dollar-Jackett vom Körper riss und es sich ums Gesicht wickelte, bevor er südwärts

Richtung Mission losrannte, nur um zu stolpern und längs hinzuschlagen. Seine Flüche mengten sich

unter die Erstickungsgeräusche.

Das war nicht vorgesehen -- das Keuchen hätte die Leute doch nur nervös machen und verwirren

sollen, aber nicht zu einer panischen Stampede veranlassen.

Jetzt waren auch Schreie zu hören, Schreie, die ich nur zu gut von jener Nacht

im Park kannte. Das

waren die Schreie von Leuten, die außer sich waren vor Angst und die sich gegenseitig anrempelten in

ihren verzweifelten Versuchen, wegzukommen von hier.

Und dann gingen die Luftschutzsirenen los.

Ich hatte diese Geräusche seit den Bomben nicht mehr gehört, aber ich würde sie nie wieder

vergessen. Sie schnitten glatt durch mich hindurch, gingen mir direkt in die Eier und verwandelten

meine Beine in Wackelpudding. In meiner Panik wollte ich nur noch wegrennen.

Ich mühte mich auf

die Füße, rote Mütze auf dem Kopf, und dachte nur an das Eine: Ange. Ange und die Gründerstatue.

Jetzt waren alle auf den Beinen, rannten überallhin, schrien. Ich schubste Leute aus dem Weg, hielt

meine Tasche und meine Mütze fest und drängte in Richtung Gründerstatue.

Masha suchte nach mir,

ich suchte nach Ange. Ange war da draußen.

Ich schubste und fluchte. Rempelte jemanden mit dem Ellbogen an. Irgend jemand trat mir so hart auf

den Fuß, dass ich etwas knacksen spürte, und ich rammte ihn, dass er stürzte. Er versuchte

aufzustehen, und ein anderer trat auf ihn. Ich rempelte und rammte weiter.

Dann streckte ich den Arm aus, um den Nächsten zu schubsen, da griffen kräftige Arme mein

Handgelenk und meinen Ellbogen in einer flüssigen Bewegung und zogen mir

den Arm hinter meinen

Rücken. Es fühlte sich an, als ob meine Schulter aus ihrem Gelenk gedreht würde, und sofort beugte

ich mich nach vorn -- brüllend vor Schmerz, was aber im Lärm der Masse, dem Wummern der

Helikopter und dem Sirenengeheul kaum hörbar war.

Die starken Hände hinter mir brachten mich wieder zum Stehen und steuerten mich wie eine

Marionette. Der Griff war so perfekt, dass ich nicht mal dran denken konnte, mich herauszuwinden.

Ich konnte nicht an den Lärm, nicht an den Hubschrauber und auch nicht an Ange denken. Alles,

woran ich denken konnte, war, mich dorthin zu bewegen, wo diese Person hinter mir mich haben

wollte. Dann wurde ich umgedreht und sah der Person ins Gesicht.

Es war ein Mädchen mit kantigem Nagetiergesicht, halb verborgen hinter einer riesigen Sonnenbrille.

Über den Gläsern stand ein Schopf strahlend pinkfarbener Haare in alle Richtungen ab.

„Du!“, sagte ich. Ich kannte sie. Sie hatte ein Foto von mir gemacht und gedroht, mich damit beim

Schwänzerblog zu verpfeifen. Das war fünf Minuten vor den Sirenen gewesen.

Das war sie gewesen,

rücksichtslos und gerissen. Wir waren beide von diesem Platz im Tenderloin weggerannt, als hinter

uns die Huperei begonnen hatte, und wir waren beide von den Bullen

aufgegriffen worden. Ich hatte mich feindselig benommen, und sie hatten entschieden, dass ich ein Feind sei.

Sie -- Masha -- wurde ihre Verbündete.

„Hallo, M1k3y“, zischte sie mir ins Ohr, so nah wie eine Liebhaberin. Ein Zittern kroch mir den

Nacken hoch. Sie ließ meinen Arm los, und ich schüttelte ihn.

„O Gott“, sagte ich. „Du!“

„Ja, ich. Das Gas kommt in zirka zwei Minuten runter. Zeit, unsern Arsch zu retten.“

„Ange -- meine Freundin -- ist bei der Gründerstatue.“

Masha blickte über die Menge. „Keine Chance“, sagte sie. „Wenn wir versuchen, dahin zu kommen,

sind wir geliefert. Das Gas kommt in zwei Minuten runter, falls dus beim ersten Mal nicht gehört

hast.“

Ich blieb stehen. „Ohne Ange gehe ich nicht“, sagte ich.

Sie zuckte die Achseln. „Wie du willst“, rief sie mir ins Ohr. „Es ist deine Beerdigung.“

Sie fing an, sich durch die Menge zu drängen, weg, nach Norden, Richtung Downtown. Ich drängte

weiter zur Gründerstatue. Einen Augenblick später war mein Arm wieder in dem grässlichen

Haltegriff, und ich wurde herumgestoßen und vorwärtsgetrieben.

„Du weißt zuviel, Schwachkopf. Du hast mein Gesicht gesehen. Du kommst mit mir.“

Ich brüllte sie an, zappelte, bis ich dachte, gleich müsse mein Arm brechen, aber sie trieb mich weiter.

Mein verletzter Fuß peinigte mich bei jedem Schritt, und meine Schulter fühlte sich an wie kurz vorm

Abbrechen.

Indem sie mich als ihren Rammbock benutzte, kamen wir in der Menge ganz gut voran. Das Jaulen

der Helikopter veränderte sich, und sie schubste mich noch fester. „RENN!“, schrie sie. „Jetzt kommt

das Gas!“

Der Lärm der Menge änderte sich ebenfalls. Die erstickten Geräusche und das Brüllen wurden sehr

viel lauter. Ich hatte dieses Anschwellen des Lärms schon mal gehört. Wir waren wieder im Park. Das

Gas regnete herab. Ich hielt die Luft an und RANNTE.

Wir schoben uns aus der Masse heraus, und sie ließ meinen Arm los. Ich humpelte, so schnell ich

konnte, auf den Bürgersteig, während die Menge sich mehr und mehr zerstreute.

Wir liefen auf eine

Gruppe von DHS-Bullen mit Schutzschilden, Helmen und Masken zu. Als wir näher kamen,

versuchten sie uns den Weg zu versperren, aber Masha hielt eine Marke hoch, und sie wichen zurück,

als sei sie Obi Wan Kenobi, wenn er sagt, „Das sind nicht die Droiden, die ihr sucht“.

„Du gottverdammtes Miststück“, sagte ich, als wir Market Street raufhetzten.

„Wir müssen

zurückgehen, um Ange zu holen.“

Sie spitzte die Lippen und schüttelte den Kopf. „Tut mir echt Leid für dich, Kumpel. Ich hab meinen

Freund jetzt schon Monate nicht gesehen. Der denkt wahrscheinlich, ich bin tot.

Kriegsschicksale.

Wenn wir für deine Ange zurückgehen, sind wir tot. Wenn wir weiterlaufen, haben wir eine Chance.

Und wenn wir eine Chance haben, hat sie auch eine. Diese Kids kommen nicht alle nach Gitmo. Die

werden wohl ein paar Hundert zum Befragen dabehalten und den Rest heimschicken.“

Wir liefen weiter Market Street hoch und kamen jetzt an den Strip-Lokalen vorbei, wo auch die

Penner und Junkies ihre kleinen Lager aufgeschlagen hatten, die wie offene Klohäuschen stanken.

Masha führte mich zu einer Nische im verschlossenen Eingang einer dieser Striptease-Höhlen. Sie

zog ihre Jacke aus und wendete sie -- das Futter war ein gedämpftes Streifenmuster, und durch die

umgedrehten Nähte fiel die Jacke jetzt auch anders. Aus der Tasche zog sie eine Wollmütze hervor,

die sie so über ihr Haar zog, dass es eine kecke seitliche Ausbuchtung ergab.

Dann holte sie ein paar

Abschmink-Tücher heraus und bearbeitete ihr Gesicht und die Fingernägel.

Einen Moment später war

sie eine andere Frau.

„Kleidung wechseln“, sagte sie. „Jetzt du. Schuhe aus, Jacke aus, Mütze aus.“

Ich verstand, was sie

meinte. Die Bullen würden ziemlich sorgfältig nach jedem Ausschau halten, der aussah, als könnte er

beim VampMob dabeigewesen sein. Die Mütze warf ich gleich weg -- diese Sorte Caps hatte ich eh

nie leiden können. Dann stopfte ich die Jacke in meine Tasche und holte ein Langarmshirt mit Rosa-Luxemburg-Aufdruck heraus, das ich über mein schwarzes T-Shirt zog. Ich ließ Masha mein Makeup

und den Nagellack abwischen, und ruckzuck war ich sauber.

„Schalt dein Handy aus“, sagte sie. „Irgendwelche RFIDs dabei?“ Ich hatte meinen Studentenausweis,

meine Geldautomatenkarte und den Fast Pass. Alles wanderte in einen silbernen Beutel, den sie mir

hinhielt und den ich als strahlendichten Faraday-Beutel erkannte. Aber als sies in ihre Tasche steckte,

dämmerte mir, dass ich ihr gerade meine gesamte Identifikation anvertraut hatte.

Wenn sie nun auf der

gegnerischen Seite war?

Allmählich wurde mir auch die Tragweite dessen bewusst, was gerade passiert war. Ich hatte mir

ausgemalt, dass Ange in diesem Moment bei mir sein würde. Mit Ange wären wir zwei gegen eine.

Ange würde mir helfen, zu merken, ob irgendwas faul war. Ob Masha nicht die

war, als die sie sich

ausgab.

„Steck diese Kiesel in deine Schuhe, bevor du sie wieder anziehst.“

„Nicht nötig. Ich hab mir den Fuß verstaucht. Kein Schritterkennungsprogramm wird mich jetzt

erkennen.“

Sie nickte einmal, zwei Profis unter sich, und schleuderte ihre Tasche über. Ich schnappte mir meine,

und weiter gings. Gesamtzeit für den Wechsel war weniger als eine Minute gewesen, und wir sahen

aus und liefen wie zwei andere Menschen.

Sie schaute auf die Uhr und schüttelte den Kopf. „Komm schon“, sagte sie, „wir müssen zu unserem

Treffpunkt. Komm aber ja nicht auf die Idee, wegzurennen. Du hast jetzt die Wahl zwischen mir und

dem Knast. Die werden ein paar Tage brauchen, um die Aufzeichnungen vom Mob zu analysieren,

aber wenn sie damit durch sind, wandert jedes Gesicht in eine Datenbank. Unser Verschwinden wird

bemerkt werden. Wir sind jetzt beide gesuchte Kriminelle.“

Am nächsten Block bogen wir von Market Street ab und liefen Richtung Tenderloin zurück. Diese

Ecke kannte ich. Hier war es, wo wir das offene WLAN gesucht hatten, an diesem Tag, als wir

Harajuku Fun Madness spielten.

„Wohin gehen wir?“, fragte ich.

„Wir trampen. Halt die Klappe, ich muss mich konzentrieren.“ Wir hatten Tempo drauf, und Schweiß

floss mir übers Gesicht, den Rücken runter, durch die Po-Ritze und über die Schenkel. Mein Fuß tat

heftig weh, und die Straßen von San Francisco rauschten an mir vorbei, vielleicht zum letzten Mal für

immer.

Es machte die Sache auch nicht besser, dass wir ständig bergauf stampften, dorthin, wo das schäbige

Tenderloin den Luxusimmobilien von Nob Hill weicht. Ich atmete in abgerissenen Japsern. Sie lotste

uns zumeist durch schmale Gässchen und benutzte die großen Straßen nur, um von einem

Schleichpfad zum nächsten zu gelangen.

Als wir gerade in so ein Gässchen, Sabin Place, einbogen, trat jemand hinter uns und sagte: „Bleibt

stehen, wo ihr seid.“ Die Stimme quoll über von bösartiger Fröhlichkeit. Wir blieben stehen und

drehten uns um.

Am Anfang des Weges stand Charles, gekleidet in ein halbherziges VampMob-Outfit aus schwarzem

T-Shirt und Jeans plus weißer Gesichtsbemalung. „Hallo, Marcus“, sagte er.

„Wohin des Wegs?“ Er

grinste ein breites, nasses Grinsen. „Wer ist deine Freundin?“

„Was willst du, Charles?“

„Ach, weißt du, ich hab in diesem Verräter-Xnet rumgehangen seit dem Tag, an dem ich gesehen

habe, wie du in der Schule DVDs verteilt hast. Als ich von diesem VampMob hörte, dachte ich, ich

geh mal hin und schau mich um, ob ich dich sehe und was du da treibst. Und weißt du, was ich

gesehen habe?“

Ich sagte nichts. Er hatte sein Handy auf uns gerichtet und zeichnete auf.

Wahrscheinlich würde er

gleich 911 wählen. Neben mir war Masha steif geworden wie ein Brett.

„Ich habe gesehen, wie du das verdammte Ding ANGEFÜHRT hast. Und ich hab es aufgezeichnet,

Marcus. Jetzt rufe ich die Polizei an, und wir werden hier auf sie warten. Und dann wirst du für ne

verdammt lange Zeit im allerfinstersten Knast verschwinden.“

Masha trat nach vorn.

„Bleib stehen, Schlampe“, sagte er. „Ich hab gesehen, wie du ihm bei der Flucht geholfen hast. Ich

habe alles gesehen ...“

Sie machte noch einen Schritt vorwärts und entriss ihm das Handy, während sie gleichzeitig mit ihrer

anderen Hand nach hinten griff, eine Brieftasche holte und sie aufklappte.

„DHS, Schwachkopf“, sagte sie. „Ich bin beim DHS. Und ich hab diesen Blödmann zu seinen

Auftraggebern laufen lassen, um zu sehen, wohin er geht. Wollte ich zumindest.

Jetzt hast dus

vergeigt. Wir haben einen Namen für so was. Wir nennen das ‚Behinderung der Nationalen

Sicherheit‘. Du wirst den Begriff in Zukunft noch ziemlich oft hören.“

Charles wich einen Schritt zurück, die Hände nach vorn gestreckt. Er war unter seinem Makeup noch

blasser geworden. „Was? Nein! Ich meine ... ich wusste das nicht! Ich wollte doch nur HELFEN!“

„Das Allerletzte, was wir brauchen, ist ein Trupp Schüler-G-Men, die uns

‚helfen‘, Kumpel. Das

kannst du dem Richter erzählen.“

Er wich weiter zurück, aber Masha war schnell. Sie packte sein Handgelenk und zwang ihn in

denselben Judo-Griff, in dem sie mich am Civic Center gehalten hatte. Ihre Hand verschwand wieder

hinten in den Taschen und kam diesmal mit einem Streifen Plastik wieder hervor, Plastikhandschellen,

die sie ratzfatz um seine Handgelenke wickelte.

Das war das Letzte, was ich sah, bevor ich losrannte.

Ich schaffte es bis zum anderen Ende der Gasse; dann holte sie mich ein, tackelte mich von hinten und

warf mich zu Boden. Ich hatte nicht sehr schnell rennen können mit meinem lädierten Fuß und der

schweren Tasche. Ich landete hart auf dem Gesicht und schrammte meine Wange am rauen Asphalt

auf.

„Oh Gott“, sagte sie, „du bist so ein gottverdammter Idiot. Du hast das doch nicht wirklich geglaubt,

oder?“

Mein Herz wummerte in der Brust. Sie lag auf mir drauf und ließ mich jetzt langsam wieder

aufstehen.

„Muss ich dich fesseln, Marcus?“

Ich kam wieder auf die Beine. Alles tat mir weh. Ich wollte nur noch sterben.

„Komm jetzt“, sagte sie. „Es ist nicht mehr weit.“

„Es“ entpuppte sich als Umzugslaster auf einer Nebenstraße in Nob Hill, ein Achtachser in der Größe

der allgegenwärtigen DHS-Trucks, die immer noch, antennenüberladen, an San Franciscos

Straßenecken auftauchten.

Dieser hier trug jedoch die Aufschrift „Drei Jungs und ein Laster -- Umzüge“, und die drei Jungs

waren deutlich zu sehen, wie sie bei einem großen Appartementhaus mit grünem Vordach ein- und

ausgingen. Vorsichtig trugen sie verpackte Möbel und säuberlich beschriftete Kartons zum Laster,

brachten sie einzeln hinein und verstauten sie sorgfältig.

Masha ließ uns noch einmal um den Block laufen, weil sie offensichtlich mit etwas unzufrieden war;

bei der nächsten Runde stellte sie Blickkontakt zu dem Mann her, der den Laster beaufsichtigte,

einem älteren Farbigen mit Nierengurt und robusten Handschuhen. Er hatte ein freundliches Gesicht

und lächelte uns zu, als sie uns schnell, aber beiläufig die drei Stufen zum Truck hoch und in seine

Tiefen hineinführte. „Unter dem großen Tisch“, sagte er. „Wir haben euch da ein bisschen Platz

gelassen.“

Der Truck war schon mehr als zur Hälfte voll, aber es gab einen schmalen Gang rund um einen

riesigen Tisch, über den eine Quiltdecke geworfen war und dessen Beine mit Blisterfolie eingewickelt

waren.

Masha zog mich unter den Tisch. Es war schwül, still und staubig da unten, und ich unterdrückte ein

Niesen, als wir uns zwischen den Kartons zusammenkauerten. Der Platz war so knapp, dass wir

aufeinander hingen. Ich glaube nicht, dass Ange da auch noch drunter gepasst hätte.

„Du Miststück“, sagte ich zu Masha.

„Halts Maul. Du solltest mir lieber die Stiefel lecken aus Dankbarkeit. In einer Woche, höchstens

zwei, wärst du im Knast gewesen. Nicht Gitmo-an-der-Bay. Eher Syrien. Ich glaube, da haben sie die

hingeschickt, die sie wirklich verschwinden lassen wollten.“

Ich legte den Kopf auf die Knie und versuchte tief zu atmen.

„Was hat dich überhaupt auf die Schwachsinnsidee gebracht, dem DHS den

Krieg zu erklären?“ Ich

erzählte es ihr. Ich erzählte ihr von meiner Festnahme, und ich erzählte ihr von Darryl.

Sie befingerte ihre Taschen und zog ein Handy raus. Es war das von Charles.

„Falsches Telefon.“ Sie

holte ein anderes raus. Sie schaltete es ein, und der Schein seines Monitors erfüllte unser kleines Fort.

Nach ein wenig Rumgetippe zeigte sie es mir.

Es war das Bild, das sie von uns gemacht hatte, unmittelbar bevor die Bomben hochgingen. Es war

das Bild von Jolu und Van und mir und ...

Darryl.

In meiner Hand hielt ich den Beweis, dass Darryl Minuten vor unserer Festnahme bei uns gewesen

war. Den Beweis, dass er lebte, wohlauf und in unserer Begleitung war.

„Du musst mir eine Kopie davon geben“, sagte ich. „Ich brauch das.“

„Wenn wir in L.A. sind“, sagte sie und nahm das Handy wieder an sich. „Wenn du erst mal eine

Einführung in die Kunst hattest, ein Flüchtling zu sein, ohne unsere beiden Ärsche in Syrien

verschwinden zu lassen. Ich will nicht, dass du Rettungsfantasien für diesen Typ entwickelst. Da, wo

er ist, ist er sicher -- momentan.“

Ich spielte mit dem Gedanken, ihr das Handy mit Gewalt abzunehmen, aber sie hatte mir ja schon ihre

physischen Fähigkeiten bewiesen. Sie musste ein Schwarzgurt sein oder so was.

Wir saßen da im Dunkeln, hörten den drei Jungs zu, wie sie den Laster mit Kartons beluden, alles

verrödelten und dabei ächzten vor Anstrengung. Ich versuchte zu schlafen, aber es ging nicht. Masha

hatte das Problem nicht. Sie schnarchte.

Immer noch schien Licht durch den engen, zugestellten Korridor, der uns mit der frischen Luft

draußen verband. Ich starrte es an durch die Finsternis und dachte an Ange.

Meine Ange. Ihr Haar, das über ihre Schultern strich, wenn sie den Kopf schüttelte vor Lachen über

etwas, das ich getan hatte. Ihr Gesicht, wie ich es zum letzten Mal sah, als sie beim VampMob in der

Menge untertauchte. All diese Menschen beim VampMob, wie die Menschen im Park, wie sie sich auf

dem Boden krümmten, während das DHS mit Knüppeln einmarschierte. Die Verschwundenen.

Darryl. Festgesetzt auf Treasure Island, seine Seite genäht, aus der Zelle geholt für endlose

Befragungen über die Terroristen.

Darryls Vater, ruiniert, betrunken, unrasiert. Gewaschen und in seiner Uniform,

„für die Fotos“.

Weinend wie ein kleiner Junge.

Mein eigener Vater und die Veränderungen, die durch mein Verschwinden auf Treasure Island in ihm

vorgegangen waren. Er war ebenso gebrochen gewesen wie Darryls Vater, nur

eben auf seine Art. Und

sein Gesicht, als ich ihm erzählte, wo ich gewesen war.

Das war der Moment, in dem ich wusste, dass ich nicht weglaufen konnte.

Das war der Moment, in dem ich wusste, dass ich bleiben musste -- und kämpfen.

Mashas Atem war tief und gleichmäßig, aber als ich unendlich langsam in ihrer Tasche nach dem

Telefon griff, da schnüffelte sie ein bisschen und verlagerte ihre Position. Ich erstarrte und wagte

ganze zwei Minuten lang nicht einmal zu atmen -- ein-und-zwan-zig-, zwei-undzwan-zig, ...

Ganz langsam beruhigte sich ihr Atem wieder. Millimeter für Millimeter schob ich das Handy etwas

weiter aus ihrer Jackentasche heraus, meine Finger und der ganze Arm zitternd von der Anstrengung,

sich so langsam bewegen zu müssen.

Dann hatte ich es, ein kleines schokoriegelförmiges Dingens.

Ich drehte mich zum Licht hin, als mich blitzartig eine Erinnerung überfiel: Charles, wie er sein

Handy hielt, es auf uns richtete, uns verhöhnte. Das war eins in Riegelform gewesen, silbern, übersät

mit den Logos von einem Dutzend Firmen, die den Gerätepreis über die Telefongesellschaft

subventioniert hatten. Es war die Sorte Handy, bei der man vor jedem Telefonat erst mal einen

Werbespot anhören musste.

Es war zu duster im Truck, um das Handy deutlich zu sehen, aber ich konnte es fühlen. Waren das

Firmenlogos an den Seiten? Ja? Ja. Ich hatte Masha gerade das Handy von Charles gestohlen.

Langsam, langsam drehte ich mich wieder zurück, und langsam, langsam, LANGSAM griff ich

wieder in ihre Tasche. Ihr Handy war größer und klobiger, mit einer besseren Kamera und

werweißwas sonst noch.

Ich hatte das nun schon mal bewältigt -- das machte es etwas leichter. Erneut legte ich es

millimeterweise frei, wobei ich zwei Mal pausierte, als sie schnaufte und zuckte.

Ich hatte das Handy gerad aus ihrer Tasche befreit und war dabei, mich wegzubewegen, als ihre Hand

hervorschoss, schnell wie eine Schlange, und mein Handgelenk umklammerte, hart, mit knirschenden

Fingerspitzen auf den kleinen, dünnen Knochen unter meiner Hand.

Ich schnappte nach Luft und starrte in Mashas weit offene Augen.

„Du bist so ein Idiot“, sagte sie beiläufig, nahm mir das Handy weg und tippte mit der anderen Hand

darauf herum. „Wie hättest du das überhaupt wieder entsperren wollen?“

Ich schluckte. Ich fühlte Knochen in meinem Handgelenk aufeinander reiben.

Ich biss mir auf die

Lippe, um nicht laut loszuschreien.

Mit ihrer anderen Hand tippte sie weiter. „Ist es das, mit dem du dich davonmachen wolltest?“ Sie

zeigte mir das Foto von uns allen, Darryl und Jolu, Van und mir. „Dieses Bild?“

Ich sagte gar nichts. Mein Handgelenk fühlte sich an, als würde es gleich zerbersten.

„Vielleicht sollte ichs einfach löschen, um dich nicht weiter in Versuchung zu führen.“ Ihre freie Hand

bewegte sich weiter. Ihr Telefon fragte sie, ob sie sicher sei, und sie musste draufschauen, um die

richtige Taste zu finden.

Das war meine Chance. Ich hatte Charles‘ Handy immer noch in der anderen Hand, und ich hieb

damit so hart ich konnte auf die Hand ein, mit der sie mich umklammerte. Beim Ausholen schlug ich

mir die Fingerknöchel an der Tischplatte über mir wund, aber ich traf ihre Hand so fest, dass das

Telefon zersplitterte; sie schrie auf, und ihre Hand wurde schlaff. Ich ließ nicht locker, griff nach ihrer

anderen Hand, nach ihrem jetzt entsperrten Telefon, über dessen OK-Taste immer noch ihr Daumen

drohte. Ihre Finger verkrampften sich im Leeren, als ich ihr das Handy entriss.

Auf Händen und Knien arbeitete ich mich den Korridor entlang, dem Licht entgegen. Zwei Mal spürte

ich, wie ihre Hände nach meinen Füßen und Knöcheln griffen, und ich musste ein paar der Kartons,

die uns wie einen Pharao in seinem Grab eingemauert hatten, beiseite schubsen.

Einige davon fielen

hinter mir zu Boden, und ich hörte Masha wieder ächzen.

Die Rolltür des Trucks war einen Spalt breit offen, und ich tauchte darunter durch. Die Trittleiter war

entfernt worden, und ich fand mich über der Straße hängend wieder, rutschte mit dem Kopf

zuvorderst hinab und schlug mit der Stirn dermaßen hart auf dem Asphalt auf, dass es in meinen

Ohren schepperte wie ein Gong. Indem ich mich am Stoßfänger festklammerte, mühte ich mich

wieder auf die Füße und zog verzweifelt den Griff nach unten, bis die Tür zuknallte. Innen schrie

Masha auf -- ich musste ihre Fingerkuppen erwischt haben. Ich dachte, ich müsse mich übergeben,

aber ich tat es nicht.

Stattdessen verriegelte ich den Truck.

Kapitel 20

Dieses Kapitel ist The Tattered Cover gewidmet, Denvers legendärer unabhängiger Buchhandlung. Auf The Tattered Cover bin ich eher zufällig gestoßen: Alice und ich waren gerade aus London kommend in Denver gelandet, es war früh am

Morgen, es war kalt, und wir brauchten Kaffee. Wir fuhren im Mietwagen ziellos im Kreis, und da sah ich es, das TatteredCover-Schild. Irgendein Glöckchen klingelte bei mir -- ich wusste, davon hatte ich schon mal was gehört. Wir parkten,

tranken einen Kaffee und betraten den Laden -- ein Wunderland aus dunklem

Holz, lauschigen Lesenischen und meilenweise Bücherregalen.

The Tattered Cover http://www.tatteredcover.com/NASApp/store/Product?

s=showproduct&isbn=9780765319852 1628 16th St., Denver, CO USA 80202 +1 303 436 1070

einer der drei Jungs war momentan zu sehen, und ich ging los. Mein Kopf schmerzte so sehr,

dass ich glaubte, er müsse bluten, aber meine prüfenden Hände blieben trocken.

Mein lädierter

Knöchel war im Truck steifgefroren, deshalb lief ich wie eine kaputte Marionette, doch ich hielt nur

ein einziges Mal an, um den Löschvorgang auf Mashas Handy abzubrechen. Den Funk schaltete ich

aus, um den Akku zu schonen und damit man mich nicht darüber orten konnte, und ich stellte es so

ein, dass es erst nach zwei Stunden auf Standby ging -- das war die längste einstellbare Zeit. Ich

versuchte die Passwortabfrage beim Starten aus Standby auszuschalten, aber diese Einstellung

erforderte selbst wieder ein Passwort. Also musste ich zumindest ein Mal alle zwei Stunden

irgendwas tippen, bis ich eine Möglichkeit bekam, das Bild aus dem Handy zu überspielen. Und ich

musste ein Ladegerät besorgen.

K

Ich hatte keinen Plan. Ich brauchte aber einen. Ich musste mich mal irgendwo

hinsetzen, online gehen

-- einfach mal austüfteln, was ich als Nächstes tun sollte. Ich hatte es so satt, andere Leute meine

Pläne machen zu lassen. Ich wollte nicht mehr handeln, weil Masha irgendwas getan hatte, oder

wegen des DHS oder wegen meines Vaters. Oder wegen Ange? Na, vielleicht würde ich Ange zuliebe

handeln. Doch, das wäre wohl das Richtige.

Ich war einfach nur talwärts gestromert, so oft wie möglich auf Nebenstraßen, und war jetzt ein Teil

der Menge im Tenderloin. Ich hatte kein bestimmtes Ziel. Alle paar Minuten steckte ich die Hand in

die Tasche, um eine der Tasten auf Mashas Handy zu drücken, damit es nicht auf Standby ging.

Aufgeklappt machte es eine scheußliche Ausbuchtung in meiner Tasche.

Ich blieb stehen und lehnte mich an ein Gebäude. Mein Knöchel brachte mich bald um. Und

überhaupt: Wo war ich?

O‘Farrell Ecke Hyde Street. Vor einem dubiosen „Asiatischen Massagesalon“.

Meine heimtückischen

Füße hatten mich bis ganz an den Anfang zurückgebracht -- dorthin, wo das Foto auf Mashas Handy

aufgenommen worden war, unmittelbar bevor die Bay Bridge hochging, bevor mein Leben sich für

immer änderte.

Mir war danach, mich auf den Bürgersteig zu setzen und zu heulen, aber das

würde meine Probleme

nicht lösen. Ich musste Barbara Stratford anrufen und ihr erzählen, was geschehen war. Musste ihr das

Foto von Darryl zeigen.

Ach, was dachte ich denn? Ich musste ihr das Video zeigen, das eine, das Masha mir geschickt hatte --

das, in dem der Stabschef des Präsidenten sich an den Anschlägen auf San Francisco geweidet hatte,

in dem er zugegeben hatte, dass er wusste, wann und wo die nächsten Anschläge stattfinden würden,

und dass er sie nicht zu stoppen gedenke, weil sie seinem Chef die Wiederwahl sichern würden.

Na, das war doch mal ein Plan: mit Barbara in Kontakt treten, ihr die Dokumente geben und sie in

Druck bringen. Der VampMob musste die Leute wirklich ziemlich verstört haben, so dass sie jetzt

dachten, dass wir wirklich ne Horde Terroristen waren.Als ich es geplant hatte, hatte ich natürlich nur

dran gedacht, was für eine tolle Ablenkung es sein würde, und nicht, wie es auf irgendeinen

NASCAR-Dad in Nebraska wirken würde.

Ich würde also Barbara anrufen, und ich würde clever sein dabei: aus einem Münztelefon, Kapuze

auf, so dass die unvermeidliche Überwachungskamera kein Foto von mir bekäme. Ich grub einen

Quarter aus meiner Tasche und polierte ihn am T-Shirt-Saum, um meine

Fingerabdrücke

abzuwischen.

Ich ging immer weiter runter in Richtung der BART-Station mit ihren Münztelefonen. Ich schaffte es

bis zur Straßenbahnhaltestelle, als ich die Titelseite des aktuellen „Bay Guardian“ sah, auf einem

hohen Stapel neben einem farbigen Obdachlosen, der mich angrinste. „Na los, lies die Schlagzeilen,

ist gratis. Reingucken kostet dich aber 50 Cent.“

Der Aufmacher war in der größten Typo gesetzt, die ich seit dem 11. September gesehen hatte:

IN GUANTANAMO-AN-DER-BAY

Darunter, in kaum kleinerer Schrift:

„Wie das DHS unsere Kinder und Freunde in Geheimgefängnissen vor unserer Haustür gefangen

hält.

Von Barbara Stratford, exklusiv im Bay Guardian“

Der Zeitungsverkäufer schüttelte den Kopf. „Kannste das glauben?“, sagte er.

„Hier mitten in San

Francisco. Mann, die Regierung ist scheiße.“

Theoretisch war der „Guardian“ gratis, aber dieser Typ schien alle Exemplare in der Gegend

abgegriffen zu haben. Ich hatte einen Quarter in der Hand, ließ in in seinen Becher fallen und angelte

nach einem zweiten. Dieses Mal machte ich mir nicht die Mühe, meine

Fingerabdrücke zu beseitigen.

„Man sagte uns, die Welt habe sich für immer geändert, als die Bay Bridge von unbekannten Tätern

in die Luft gejagt wurde. Tausende unserer Freunde und Nachbarn starben an jenem Tag. Kaum ein

Opfer wurde jemals geborgen -- ihre sterblichen Überreste ruhen, so nahmen wir es bislang an, am

Grund des Hafens dieser Stadt.

Doch eine außergewöhnliche Geschichte, die dieser Reporterin von einem jungen Mann zugetragen

wurde, der vom DHS Minuten nach der Explosion festgenommen wurde, lässt darauf schließen, dass

unsere eigene Regierung viele derer, die wir tot glaubten, auf Treasure Island gefangen hält -- jener

Insel, die kurz nach dem Anschlag evakuiert und zum Sperrgebiet erklärt wurde

...“

Ich setzte mich auf eine Bank -- dieselbe Bank, wie ich mit kräuselndem Nackenhaar merkte, auf die

wir Darryl nach der Flucht aus der BART-Station gebettet hatten -- und las den Artikel von vorn bis

hinten. Es kostete mich eine Menge Anstrengung, nicht auf der Stelle in Tränen auszubrechen.

Barbara hatte ein paar Schnappschüsse von Darryl und mir bei gemeinsamen Abenteuern aufgetrieben

und ihrem Text zur Seite gestellt. Die Fotos waren vielleicht ein Jahr alt, aber ich sah auf ihnen so viel

jünger aus -- als ob ich erst zehn oder elf wäre. In den letzten paar Monaten war ich ziemlich

erwachsen geworden.

Der Artikel war wundervoll geschrieben. Ich spürte Zorn in mir hochsteigen darüber, wie man diesen

armen Kids mitgespielt hatte; dann fiel mir wieder ein, dass sie ja über mich schrieb. Zebs Nachricht

war abgedruckt, seine winzige Handschrift auf die halbe Zeitungsseite aufgeblasen. Barbara hatte

noch mehr Infos über andere Kids recherchiert, die vermisst waren und als wahrscheinlich tot galten,

eine lange Liste; und sie stellte die Frage, wie viele von ihnen lediglich dort auf der Insel festgehalten

wurden, nur ein paar Meilen von den elterlichen Türen.

Ich kramte einen weiteren Quarter aus meiner Tasche, dann überlegte ich es mir anders. Wie

wahrscheinlich war es denn, dass Barbaras Telefon nicht angezapft wurde? Es gab keine Möglichkeit

für mich, sie jetzt anzurufen, jedenfalls nicht direkt. Ich brauchte einen Mittelsmann, der sie

kontaktieren und sie dazu bringen musste, mich irgendwo im Süden zu treffen.

So viel zum Thema

Pläne.

Was ich wirklich dringend brauchte, war das Xnet.

Aber wie zum Teufel konnte ich online gehen? Der WLAN-Finder meines Handys blinkte wie

bescheuert -- um mich rum alles drahtlos, aber ich hatte weder eine Xbox und einen Fernseher, noch

eine ParanoidXbox-DVD, um davon zu booten. WLAN, WLAN überall ...

Und da sah ich sie. Zwei Kids, etwa mein Alter, unterwegs in der Masse, oben auf der Treppe runter

zur BART.

Was meine Aufmerksamkeit erregte, war ihre Art, sich zu bewegen; etwas unbeholfen rempelten sie

die Pendler und die Touristen an. Jeder hatte eine Hand in der Tasche, und sooft sich ihre Blicke

tragen, kicherten sie. Noch auffälliger hätten sie ihre Jammerei nicht betreiben können, aber die

Menge ignorierte sie. Wenn du da unten in diesem Viertel bist, rechnest du ständig damit,

irgendwelche Obdachlosen und Spinner abwimmeln zu müssen, also nimmst du keinen Blickkontakt

auf; du vermeidest es überhaupt tunlichst, dich umzuschauen.

Ich näherte mich einem von ihnen. Er wirkte ziemlich jung, obwohl er vermutlich kaum jünger war

als ich.

„Hey“, sagte ich. „Hey, könnt ihr Jungs mal einen Moment herkommen?“ Er tat so, als hörte er mich

nicht. Er sah gradewegs durch mich durch, so wie du es mit einem Obdachlosen machen würdest.

„Komm schon. Ich hab nicht viel Zeit.“ Ich griff ihn an der Schulter und zischte ihm ins Ohr: „Die

Bullen sind hinter mir her. Ich bin vom Xnet.“

Jetzt sah er ängstlich aus, als wolle er jeden Moment weglaufen, und sein Freund kam auf uns zu. „Ich

meins ernst“, sagte ich. „Hört mir bloß mal zu.“

Sein Freund erreichte uns. Er war größer und stämmig -- wie Darryl. „Ey“, sagte er, „stimmt was

nicht?“

Sein Freund flüsterte ihm was ins Ohr. Beide sahen so aus, als wollten sie dichtmachen.

Ich zog mein Exemplar des „Bay Guardian“ unterm Arm hervor und wedelte ihnen damit vor der

Nase rum. „Schlagt einfach mal Seite 5 auf, ja?“

Sie taten es. Sie betrachteten die Schlagzeile. Das Foto. Mich.

„Ooh, Alter!“, sagte der erste. „Wir sind sooo unwürdig.“ Er grinste mich an wie völlig durchgeknallt,

und der Stämmigere klopfte mir auf den Rücken.

„Isnichwahr“, sagte er. „Du bist M...“

Ich hielt ihm den Mund zu. „Kommt mal hier rüber, okay?“ Ich schleppte sie zu meiner Bank zurück.

Dabei fielen mir alte, braune Flecken auf dem Bürgersteig darunter ins Auge.

Darryls Blut? Ich bekam

Gänsehaut. Wir setzten uns hin.

„Ich bin Marcus“, sagte ich. Es kostete mich einige Überwindung, diesen beiden, die mich schon als

M13y kannten, meinen Realnamen zu nennen. Ich gab damit meine Deckung

auf, aber gut, der „Bay

Guardian“ hatte die Verbindung ja ohnehin schon hergestellt.

„Nate“, sagte der Kleine. „Liam“, sagte der Große. „Alter, es ist sooo eine Ehre, dich zu treffen. Du

bist echt unser Über-Held ...“

„Sagt das nicht, bitte sagt das nicht. Und ihr zwo seid echt eine Leuchtreklame, die sagt, ‚Ich jamme,

bitte verfrachtet meinen Arsch nach Gitmo-an-der-Bay. Ihr könntet echt nicht mehr auffälliger sein.“

Liam machte ein Gesicht, als wolle er gleich losheulen.

„Keine Sorge, sie haben euch ja nicht erwischt. Ich geb euch später ein paar Tips.“ Schon strahlte er

wieder. Die beiden, das war eine merkwürdige Erkenntnis, schienen M1k3y wirklich zu vergöttern,

und sie würden alles tun, was ich ihnen sagte. Sie grinsten beide wie grenzdebil.

Ich fühlte mich

unwohl dabei, mir drehte das fast den Magen um.

„Hört mal, ich muss jetzt sofort mal ins Xnet, aber ohne dafür nach Hause gehen zu müssen oder auch

nur in die Nähe. Wohnt ihr beiden hier in der Gegend?“

„Ich“, sagte Nate. „Oben in California Street. Is ne Ecke zu laufen -- steile Hügel.“ Das war ich grade

erst den ganzen Weg runtergekommen. Irgendwo da oben war Masha. Trotzdem

-- es war besser als

alles, was ich erwarten durfte.

„Gehn wir“, sagte ich.

Nate lieh mir sein Baseball-Cap, und wir tauschten die Jacken. Um Schritterkennung musste ich mich

nicht kümmern, nicht bei diesen Schmerzen in meinem Knöchel -- ich humpelte wie ein Komparse in

einem Cowboyfilm.

Nate lebte in einem riesigen Apartment am oberen Ende von Nob Hill. Das Gebäude hatte einen

Portier im roten Mantel mit Goldbrokat, der sich an die Mütze tippte, zu Nate

„Mr. Nate“ sagte und

uns alle willkommen hieß. Das Apartment war makellos und roch nach Möbelpolitur. Ich bemühte

mich sehr, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich diese offenkundig mehrere Millionen Dollar

teure Eigentumswohnung beeindruckte.

„Mein Vater“, erklärte er. „Er war ein Investmentbanker. Massig Lebensversicherungen. Er ist

gestorben, als ich vierzehn war, und wir bekamen alles. Sie waren zwar seit Jahren geschieden, aber

er hatte trotzdem meine Mutter als Begünstigte eingesetzt.“

Aus dem wandhohen Fenster hatte man einen gigantischen Blick auf die andere Seite von Nob Hill,

ganz bis runter nach Fisherman‘s Wharf, zum hässlichen Stumpf der Bay Bridge, der Masse von

Kränen und Lastern. Durch den Nebel konnte ich gerade eben Treasure Island

erkennen. Ganz bis dort

hinunter zu schauen weckte in mir das verrückte Bedürfnis zu springen.

Ich ging mit seiner Xbox über einen riesigen Plasma-Monitor im Wohnzimmer online. Er zeigte mir,

wie viele offene WLANs von diesem hohen Standpunkt aus sichtbar waren --

zwanzig, dreißig. Das

hier war ein guter Platz für einen Xnetter.

Mein M1k3y-Postfach war enorm voll. 20.000 neue Nachrichten, seit Ange und ich heute früh

aufgebrochen waren. Viele waren von Journalisten, die weitere Interviews anfragten, aber das meiste

war von den Xnettern, von Leuten, die die Guardian-Story gelesen hatten und mir mitteilen wollten,

dass sie alles tun würden, um mir zu helfen, mich mit allem versorgen wollten, was ich brauchte.

Das gab mir den Rest. Tränen liefen mir die Wangen runter.

Nate und Liam wechselten Blicke. Ich versuchte aufzuhören, aber es hatte keinen Zweck. Jetzt war

ich am Schluchzen. Nate ging zu einem eichenen Bücherschrank und schwenkte eines seiner Regale

heraus, was den Blick auf schimmernde Reihen von Flaschen freigab. Er goss einen Schuss von etwas

Goldbraunem in ein Glas und brachte es mir.

„Seltener irischer Whiskey“, sagte er. „Moms Lieblingssorte.“ Er schmeckte wie Feuer und wie Gold.

Ich nippte daran und versuchte mich nicht zu verschlucken. Eigentlich mochte

ich keine harten

Getränke, aber das hier war was anderes. Ich holte ein paar Mal tief Luft.

„Danke, Nate“, sagte ich. Er machte ein Gesicht, als hätte ich ihm gerade einen Orden angeheftet. Er

war ein guter Kerl.

„Na gut“, sagte ich und schnappte mir die Tastatur. Die beiden Jungs sahen fasziniert zu, wie ich auf

dem Monsterbildschirm meine Mails durchging.

Wonach ich vor allem suchte, war eine Mail von Ange. Es war ja möglich, dass sie davongekommen

war. Das war immer möglich.

Es war idiotisch, es auch nur zu hoffen. Es war nichts von ihr dabei. Dann fing ich an, die Mails so

schnell wie möglich durchzugehen, indem ich nach Presseanfragen, Fan-Mails, Hass-Mails und Spam

sortierte ...

Und da fand ich sie: eine Nachricht von Zeb.

Es war nicht schön, heute morgen aufzuwachen und den Brief, den du eigentlich zerstören solltest,

in der Zeitung abgedruckt zu finden. Überhaupt nicht schön. Gab mir das Gefühl, verfolgt zu werden.

Aber ich habe mittlerweile verstanden, warum du es getan hast. Ich bin nicht sicher, dass ich deine

Taktik gutheißen kann, aber es ist offensichtlich, dass deine Motive stichhaltig waren.

Wenn du dies liest, dann bist du sehr wahrscheinlich in den Untergrund gegangen. Das ist nicht

leicht, das habe ich gelernt. Und ich habe noch eine Menge mehr gelernt.

Ich kann dir helfen. Ich sollte das für dich tun. Du tust ja auch für mich, was du kannst. (Auch

wenn du es nicht mit meiner Erlaubnis tust.)

Antworte, wenn du dies bekommst, wenn du auf der Flucht bist und allein.

Oder antworte, wenn du

im Gewahrsam bist, bei unseren Freunden auf Gitmo, und nach einem Mittel suchst, die Schmerzen

zu beenden. Wenn sie dich haben, dann wirst du tun, was sie dir sagen. Das weiß ich. Das Risiko gehe

ich ein.

Für dich, M1k3y.

„Boooooah“, schnaufte Liam, „Aaaaaalter!“ Ich hätte ihm eine reinhauen mögen. Ich drehte mich um,

um zumindest etwas Hässliches, Bissiges zu sagen, aber er starrte mich an mit Augen groß wie

Suppenteller und sah aus, als wolle er gleich auf die Knie fallen, um mich anzubeten.

„Darf ich nur sagen“, fragte Nate, „darf ich nur sagen, dass es die größte Ehre in meinem Leben ist,

dir zu helfen? Darf ich einfach nur das sagen?“

Jetzt wurde ich rot. Ich konnte es nicht ändern. Diese beiden waren völlig auf ihren Star fixiert,

obwohl ich ja überhaupt kein Star war, zumindest nicht in meiner eigenen

Wahrnehmung.

„Könnt ihr Jungs ...“ Ich schluckte. „Könnte ich ein bisschen Privatsphäre haben?“ Sie schlichen aus

dem Zimmer wie geprügelte Hunde, und ich fühlte mich wie ein Idiot. Ich tippte schnell.

Ich bin davongekommen, Zeb. Und ich bin auf der Flucht. Ich brauche alle Hilfe, die ich kriegen

kann. Ich will, dass das ein Ende hat.

Ich erinnerte mich daran, Mashas Handy aus der Tasche zu fischen und zu befingern, damit es nicht

auf Standby ging.

Sie ließen mich die Dusche benutzen, gaben mir einen frischen Satz Klamotten, einen neuen

Rucksack mit ihrer halben Erdbebenration drin -- Energieriegel, Medikamenten, Heiß- und Kühlpacks

und einem alten Schlafsack. Sie packten sogar noch eine überzählige Xbox Universal mit

aufgespieltem ParanoidXbox ein. Bei der Signalpistole musste ich die Reißleine ziehen.

Ich prüfte immer wieder meine Mails, um zu schauen, ob Zeb geantwortet hatte.

Ich beantwortete die

Fan-Post. Ich beantwortete die Mails von der Presse. Ich löschte die Hass-Mails.

Halb erwartete ich,

was von Masha zu lesen, aber wahrscheinlich war sie jetzt schon halbwegs in L.A., mit kaputten

Fingern und nicht in der Lage, irgendwas zu tippen. Ich kitzelte wieder ihr

Telefon.

Die Jungs überredeten mich, mich für einen Moment aufs Ohr zu legen, und einen kurzen, peinlichen

Moment lang wurde ich völlig paranoid und dachte, was, wenn diese Jungs mich ausliefern wollten,

während ich schliefe? Natürlich war das idiotisch -- sie hätten mich genauso einfach verpfeifen

können, während ich wach war.

Ich konnte einfach nicht damit umgehen, dass sie so viel von mir hielten. Rein vom Kopf her hatte ich

gewusst, dass es Leute gab, die bereit waren, M1k3y zu folgen. Ein paar von denen hatte ich heute

früh getroffen, als sie -- Beißen Beißen Beißen -- übers Civic Center hergefallen waren. Aber diese

beiden waren persönlicher. Sie waren einfach nur nette, bisschen trottelige Kerle, die damals in den

Tagen vor dem Xnet durchaus meine Freunde hätten sein können, einfach zwei Kumpel, mit denen

man Teenager-Abenteuer hätte bestehen können. Und sie hatten sich freiwillig zu einer Armee

gemeldet, zu meiner Armee. Ich war ihnen gegenüber verantwortlich. Auf sich selbst gestellt, würden

sie früher oder später geschnappt werden. Sie waren zu vertrauensselig.

„Jungs, hört mir mal einen Moment zu. Ich muss mit euch über was Ernstes reden.“ Fast standen sie

in Habacht-Stellung. Wäre es nicht so finster gewesen, hätte ichs komisch

gefunden.

„Okay, es geht um Folgendes. Jetzt, da ihr mir geholfen habt, ist es wirklich gefährlich. Wenn ihr

geschnappt werdet, werde ich geschnappt. Sie werden alles aus euch rauskriegen, was ihr wisst ...“ --

ich hob die Hand, um ihre Proteste abzuwehren. „Nein, ehrlich. Ihr habt es noch nicht durchgemacht.

Jeder redet. Jeder zerbricht. Wenn ihr also jemals geschnappt werdet, dann erzählt ihnen sofort alles,

was ihr wisst, so schnell ihr könnt. Sie bekommen es irgendwann doch raus. So arbeiten die nun mal.

Aber ihr werdet nicht geschnappt werden, und zwar deshalb: Ihr seid jetzt keine Jammer mehr. Ihr

seid vom aktiven Dienst befreit. Ihr seid jetzt ...“, ich fischte in meinem Gedächtnis nach

Schlagworten aus Spionagethrillern, „ihr seid jetzt eine Schläferzelle. Zieht euch zurück, verhaltet

euch wieder wie normale Kids. Irgendwie, ich weiß noch nicht, wie, werde ich diese Sache knacken,

voll und ganz, ich werde sie zu einem Ende bringen. Oder sie knackt mich und erledigt mich

endgültig. Wenn ihr nicht innerhalb von 72 Stunden von mir hört, dann geht davon aus, dass sie mich

geschnappt haben. Dann könnt ihr tun, was immer ihr wollt. Aber die nächsten drei Tage -- und für

immer, wenn ich das erledige, was ich erledigen will -- haltet euch bitte raus.

Versprecht ihr mir das?“

Sie versprachen es mit heiligem Ernst. Dann erlaubte ich ihnen, mich in einen Dämmerschlaf zu

plappern, aber ließ sie schwören, mich einmal pro Stunde zu wecken, damit ich Mashas Handy kitzeln

und nachschauen konnte, ob mir Zeb schon geantwortet hatte.

Der Treffpunkt war in einem BART-Waggon, was mich nervös machte. Die Dinger sind voll von

Kameras. Aber Zeb wusste, was er tat. Er ließ mich in den letzten Waggon eines bestimmten Zuges

einsteigen, der zu einer Uhrzeit von Powell Street Station abfuhr, zu der die Leute dicht an dicht

standen. Er näherte sich mir in der Masse, und die guten Pendler von San Francisco machten ihm

etwas Platz, die Sorte Freiraum, die man immer um Obdachlose herum beobachtet.

„Schön, dich wieder zu sehen“, murmelte er, das Gesicht auf den Eingang gerichtet. Im dunklen Glas

konnte ich erkennen, dass niemand dicht genug war, um uns belauschen zu können, zumindest nicht

ohne ein Hochleistungs-Richtmikrofon; und wenn sie genug wussten, um mit so einem hier

aufzukreuzen, dann waren wir sowieso schon tot.

„Dich auch, Bruder“, antwortete ich. „Ich, es ... es tut mir Leid, weißt du?“

„Klappe. Muss dir nicht Leid tun. Du warst mutiger, als ich es bin. Bist du jetzt bereit, in den

Untergrund zu gehen? Bereit zu verschwinden?“

„Was das angeht ...“

„Ja?“

„Das ist nicht der Plan.“

„Oh,“ sagte er.

„Hör mal, okay? Ich habe ... ich habe Bilder und Video. Sachen, die echt was beweisen.“ Ich griff in

meine Tasche und befingerte mal wieder Mashas Handy. Ich hatte auf dem Weg hierher in Union

Square ein Ladegerät gekauft und war in einem Café lange genug sitzen geblieben, bis die

Batterieanzeige wieder bei vier von fünf Strichen war. „Ich muss das hier zu Barbara Stratford

kriegen, der Frau beim ,Guardian‘. Aber die werden sie beobachten, um zu sehen, ob ich auftauche.“

„Glaubst du nicht, die werden auch nach mir Ausschau halten? Falls es ein Teil deines Plans ist, dass

ich mich auch bloß auf eine Meile der Wohnung oder dem Büro dieser Frau ...“

„Ich will nur, dass du Van dazu bringst, dass sie kommt und mich triffst. Hat Darryl dir mal von Van

erzählt? Das Mädchen ...“

„Hat er. Ja, er hat mir von ihr erzählt. Meinst du nicht, die beobachten sie auch?

Euch alle, die sie

festgenommen haben?“

„Ich denke schon. Trotzdem: Ich glaube, sie beobachten sie nicht ganz so genau.

Und Van hat eine

total weiße Weste. Sie hat nie bei einem meiner ...“, ich schluckte, „... meiner Projekte mitgewirkt.

Deshalb sind sie mit ihr vielleicht ein bisschen entspannter. Wenn sie den Bay Guardian anruft, um

einen Termin zu machen, um zu berichten, was für ein Mistkerl ich eigentlich bin, dann lassen sie es

ihr vielleicht durchgehen.“

Er starrte die Tür an. Ziemlich lange.

„Du weißt, was passiert, wenn sie uns noch mal schnappen.“ Es war keine Frage.

Ich nickte.

„Bist du sicher? Ein paar von den Leuten, die mit uns auf Treasure Island waren, sind mit

Hubschraubern weggebracht worden. Außer Landes. Es gibt ein paar Länder, in die Amerika seine

Folter auslagern kann. Länder, in denen du auf ewig versauerst. Länder, in denen du dir irgendwann

wünschen wirst, dass sie es einfach nur zu Ende bringen; dass sie dich einen Graben ausheben lassen

und dich ins Genick schießen, während du dich drüberbeugst.“

Ich schluckte und nickte.

„Ist es das Risiko wert? Wir könnten für sehr, sehr lange Zeit im Untergrund verschwinden. Und

vielleicht bekommen wir unser Land eines Tages zurück. Wir können das aussitzen.“

Ich schüttelte den Kopf. „Du kannst nichts bewegen, indem du nichts tust. Es ist unser Land. Und sie

haben es uns weggenommen. Die Terroristen, die uns angegriffen haben, sind immer noch frei -- aber

wir nicht. Ich kann nicht für ein Jahr, zehn Jahre, mein ganzes Leben im Untergrund verschwinden

und darauf warten, dass mir die Freiheit gegeben wird. Freiheit ist etwas, das du dir nehmen musst.“

An diesem Nachmittag verließ Van die Schule wie üblich, saß inmitten eines dichten Knäuels ihrer

Freundinnen hinten im Bus, lachend und scherzend wie immer. Die anderen Passagiere im Bus

schenkten ihr besondere Beachtung, weil sie so laut war und weil sie außerdem diesen blöden,

riesigen Schlapphut trug, der aussah wie aus einem Schultheaterstück über Renaissance-Schwertkämpfer. Zu einem bestimmten Zeitpunkt gluckten sie alle aufeinander, schauten dann hinten

aus dem Bus raus, gestikulierend und gickelnd. Das Mädchen, das jetzt den Hut trug, hatte annähernd

dieselbe Größe wie Van, und von hinten würde sie als Van durchgehen.

Niemand achtete auf das kleine asiatische Mädchen, das ein paar Haltestellen vor der BART ausstieg.

Sie war in eine ganz gewöhnliche Schuluniform gekleidet und schaute schüchtern zu Boden, als sie

ausstieg. Außerdem gab just in diesem Moment die laute Koreanerin einen

Aufschrei von sich, den

ihre Freundinnen aufgriffen und so laut lachten, dass selbst der Busfahrer langsamer wurde, sich im

Sitz umdrehte und ihnen einen schmutzigen Blick zuwarf.

Van eilte mit gesenktem Kopf die Straße hinunter, das Haar zurückgebunden und über den Kragen

ihrer altmodischen Ballonjacke fallend. Sie trug Einlagen in ihren Schuhen, die sie fünf wacklige

Zentimeter größer machten, sie hatte ihre Kontaktlinsen herausgenommen und gegen ihre

meistgehasste Brille getauscht, deren riesige Gläser ihr halbes Gesicht einnahmen. Obwohl ich an der

Bushaltestelle auf sie gewartet und gewusst hatte, wann ich sie zu erwarten hatte, hätte ich sie fast

nicht erkannt. Ich stand auf und folgte ihr mit einem halben Block Abstand über die Straße.

Die Leute, die mir begegneten, schauten so schnell wie möglich weg. Ich sah aus wie ein junger

Obdachloser mit meinem schmuddeligen Pappschild, dem speckigen Mantel und dem riesigen

Ranzen, der an den Kanten mit Ducktape geflickt war. Niemand will einen Straßenjungen anschauen,

denn wenn du seinem Blick begegnest, bettelt er dich womöglich um Kleingeld an. Ich war den

ganzen Nachmittag in Oakland rumgestromert, und die einzigen Leute, die mich angesprochen hatten,

waren ein Zeuge Jehovas und ein Scientologe gewesen, die mich beide hatten bekehren wollten. Das

fühlte sich eklig an, wie von einem Perversen angebaggert zu werden.

Van folgte den Anweisungen, die ich aufgeschrieben hatte, sehr sorgfältig. Zeb hatte sie ihr auf

demselben Wege zukommen lassen wie mir damals vor der Schule -- er war in sie reingerannt und

hatte sich überschwänglich entschuldigt. Ich hatte die Nachricht kurz und knapp gehalten, nur kurz

umrissen, was ich wollte: Ich weiß, du bist nicht damit einverstanden. Ich verstehe das. Aber das ist

es nun mal, es ist der wichtigste Gefallen, den ich jemals von dir erbeten habe.

Bitte. Bitte.

Sie war gekommen. Ich hatte gewusst, dass sie kommen würde. Wir beide hatten eine Menge

gemeinsamer Geschichte. Und sie mochte es auch nicht, was mit der Welt passiert war. Und im

Übrigen sagte mir eine böse, hämisch glucksende Stimme in meinem Kopf, dass auch sie jetzt, da

Barbaras Artikel erschienen war, unter Verdacht stand.

So gingen wir sechs, sieben Blöcke weit, achteten darauf, wer in unserer Nähe war, welche Autos

vorbeifuhren. Zeb hatte mir von Fünferketten erzählt, bei denen fünf verschiedene Verdeckte sich

dabei abwechselten, dir zu folgen, was es nahezu unmöglich machte, sie zu bemerken. Du musstest

schon in eine völlig verlassene Gegend gehen, wo einfach jeder einzelne Mensch klar zu erkennen

war.

Die Überführung für die 880 war nur ein paar Blöcke weit von der BARTStation Coliseum entfernt,

und selbst wenn man so viele Schlenker machte wie Van, hatte man sie schnell erreicht. Der Lärm von

oben war ohrenbetäubend. Niemand sonst war hier, soweit ich das erkennen konnte. Ich war hier

gewesen, bevor ich die Location in meiner Nachricht an Van vorgeschlagen hatte, um zu checken, ob

es Ecken gäbe, in denen sich jemand verstecken konnte. Es gab keine.

Sobald sie am vereinbarten Platz stehengeblieben war, ging ich schneller, um zu ihr zu gelangen. Sie

blinzelte mich mit großen Augen hinter der Brille an.

„Marcus“, wisperte sie, und Tränen schimmerten in ihren Augen. Ich bemerkte, dass ich ebenfalls

weinte. Mann, ich gab einen lausigen Flüchtling ab. Zu sentimental.

Sie umarmte mich so stürmisch, dass ich keine Luft mehr bekam, und ich umarmte sie noch heftiger.

Dann küsste sie mich.

Nicht auf die Wange, nicht wie eine Schwester. Voll auf die Lippen, ein heißer, feuchter, dampfender

Kuss, der nie mehr zu enden schien. Ich war von meinen Gefühlen so übermannt

...

Ach Quatsch. Ich wusste genau, was ich tat. Ich erwiderte den Kuss.

Dann hörte ich auf und trat zurück, fast schubste ich sie zurück. „Van“, keuchte ich.

„Ups“, sagte sie.

„Van“, begann ich nochmals.

„Sorry“, sagte sie, „ich ...“

Und in diesem Moment wurde mir etwas bewusst, das ich vermutlich schon sehr viel länger hätte

bemerken müssen.

„Du magst mich, stimmts?“

Sie nickte jämmerlich. „Seit Jahren.“

Oh Gott. Darryl war all die Jahre so sehr in sie verliebt, und die ganze Zeit hatte sie nur Augen für

mich und war insgeheim scharf auf mich. Und dann kam ich mit Ange an. Ange hatte gesagt, dass sie

immer schon Streit mit Van hatte. Und ich lief hier rum und hatte nichts als Ärger.

„Van, es tut mir so Leid.“

„Vergiss es“, sagte sie und blickte zur Seite. „Ich weiß, dass es nicht sein kann.

Ich wollte das nur

dieses eine Mal, nur für den Fall, dass ich dich nie ...“ Sie verkniff sich den Rest.

„Van, ich bin drauf angewiesen, dass du etwas für mich erledigst. Etwas sehr Wichtiges. Du musst die

Journalistin vom Bay Guardian treffen, Barbara Stratford, die Frau, die den Artikel geschrieben hat.

Du musst ihr etwas übergeben.“ Ich erklärte ihr die Sache mit Mashas Handy

und erzählte ihr von

dem Video, das Masha mir geschickt hatte.

„Wozu soll das noch gut sein, Marcus? Was erwartest du dir davon?“

„Van, du hattest Recht, zumindest zum Teil. Wir können die Welt nicht reparieren, indem wir andere

Menschen in Gefahr bringen. Ich muss das Problem lösen, indem ich erzähle, was ich weiß. Ich hätte

das von Anfang an tun sollen. Ich hätte direkt aus ihrem Knast zu Darryls Vater marschieren sollen

und ihm erzählen, was ich wusste. Aber jetzt habe ich Beweise. Dieses Zeug hier

-- das könnte die

Welt ändern. Und es ist meine letzte Hoffnung. Die einzige Hoffnung, Darryl rauszuhauen und mein

Leben nicht ewig im Untergrund, auf der Flucht vor den Bullen fristen zu müssen. Und du bist der

einzige Mensch, dem ich es anvertrauen kann, das zu erledigen.“

„Warum ich?“

„Machst du Witze? Guck mal, wie gut du es gemacht hast, hierher zu kommen.

Du bist ein Profi. Du

bist von uns allen die Beste in so was. Und du bist die Einzige, der ich trauen kann. Darum du.“

„Und warum nicht deine Freundin Angie?“ Sie sagte den Namen ohne jegliche Betonung, als sei er

ein Block Zement.

Ich schaute zu Boden. „Ich dachte, du wüsstest es. Sie haben sie verhaftet. Sie ist in Gitmo -- auf

Treasure Island. Schon seit Tagen.“ Ich hatte versucht, nicht daran zu denken, nicht darüber

nachzugrübeln, was mit ihr geschehen könnte. Doch nun konnte ich das Schluchzen nicht mehr

unterdrücken. Ich spürte einen Schmerz im Magen, als ob ich einen Tritt bekommen hätte, und presste

mir die Hände auf den Bauch, um mich zusammenzunehmen. Dann klappte ich zusammen, und das

Nächste, was ich merkte, war, wie ich im Schutt unter dem Freeway lag, zusammengekrümmt und

heulend.

Van kniete sich neben mich. „Gib mir das Handy“, sagte sie, ihre Stimme ein wütendes Zischen. Ich

kramte es aus meiner Tasche und gab es ihr.

Beschämt hörte ich auf zu weinen und rappelte mich hoch. Ich spürte, dass mir Schnodder übers

Gesicht lief. Van betrachtete mich mit einem Ausdruck des reinsten Ekels.

„Du musst drauf achten, dass es nicht auf Standby geht“, sagte ich. „Hier ist ein Ladegerät.“

Ich wühlte in der Tasche. In der Nacht, seit ich es gekauft hatte, hatte ich nicht viel geschlafen. Ich

hatte den Timer des Handys auf 90 Minuten gestellt, damit es mich so rechtzeitig weckte, dass ich es

vom „Schlafen“ abhalten konnte. „Klapp es bitte auch nicht zu.“

„Und das Video?“

„Das ist schwieriger“, erwiderte ich. „Ich habe mir selbst eine Kopie gemailt,

aber ich komm nicht

mehr ins Xnet.“ Im Notfall hätte ich noch mal zu Nate und Liam zurückgehen und ihre Xbox

benutzen können, aber das wollte ich nicht riskieren. „Pass auf, ich geb dir mein Login und das

Passwort für den Mailserver der Piratenpartei. Du musst aber Tor benutzen, um ihn aufzurufen -- der

Heimatschutz achtet garantiert auf Leute, die sich bei P-Partei-Mail einloggen.“

„Dein Login und Passwort“, sagte sie mit Erstaunen im Blick.

„Ich vertraue dir, Van. Ich weiß, dass ich dir vertrauen kann.“

Sie schüttelte den Kopf. „Du gibst deine Passwörter nie raus, Marcus.“

„Ich glaube, darauf kommts jetzt auch nicht mehr an. Entweder du hast Erfolg, oder -- oder es ist das

Ende von Marcus Yallow. Vielleicht bekomme ich ja eine neue Identität, aber ich glaubs eher nicht.

Ich schätze, die werden mich kriegen. Wahrscheinlich habe ichs die ganze Zeit schon gewusst, dass

sie mich irgendwann kriegen werden.“

Jetzt sah sie mich mit blanker Wut an. „Was für eine Vergeudung. Und wozu war das Ganze jetzt

gut?“

Sie hätte nichts sagen können, das mich mehr verletzt hätte. Dieser Satz war wie ein weiterer Tritt in

den Unterleib. Was für eine Vergeudung das alles, völlig vergebens. Darryl und Ange waren

verschwunden. Meine Familie würde ich vielleicht nie wieder sehen. Und immer noch hielt der

Heimatschutz meine Stadt und mein Land in einem gewaltigen, irrationalen Klammergriff gefangen,

wo im Namen der Terrorabwehr ausnahmslos alles erlaubt war.

Van sah aus, als erwarte sie eine Antwort von mir, aber dazu hatte ich nichts mehr zu sagen. Sie ließ

mich dort stehen.

Zeb hatte eine Pizza für mich, als ich „heim“ kam -- zu dem Zelt, das er für die Nacht unter einer

Freeway-Überführung in der Mission aufgestellt hatte. Es war eine Dackelgarage aus

Militärbeständen, bedruckt mit SAN FRANCISCO ÖRTLICHE

OBDACHLOSENKOORDINATION.

Die Pizza war von Domino‘s, kalt und labberig, aber nichtsdestotrotz lecker.

„Magst du Ananas auf

deiner Pizza?“

Zel lächelte herablassend. „Freeganer dürfen nicht wählerisch sein“, sagte er.

„Freeganer?“

„Wie Veganer, aber wir essen nur Gratisspeisen.“

„Gratisspeisen?“

Er grinste wieder. „Du weißt schon -- Gratisspeisen. Aus dem Gratisspeisenladen.“

„Du hast das Zeug geklaut?“

„Nein, Blödmann. Es ist aus dem anderen Laden. Aus dem kleinen hinter dem Laden. Dem aus

blauem Stahl, mit dem merkwürdigen Geruch.“

„Du hast das hier aus dem Müll?“

Er warf seinen Kopf zurück und gickelte. „Na klar doch. Dein Gesicht müsstest du sehen. Alter, es ist

okay. Es ist ja nicht so, dass das Zeug vergammelt wäre. Es war frisch -- bloß eine versaute

Bestellung. Die haben sie in der Schachtel weggeworfen. Nach Ladenschluss streuen sie Rattengift

überall drüber, aber wenn du rechtzeitig kommst, bist du okay. Du solltest mal sehen, was Obst- und

Gemüseläden so wegwerfen! Warte bis zum Frühstück. Ich mach dir einen Obstsalat, das glaubst du

nicht. Sobald auch nur eine Erdbeere in der Kiste ein bisschen grün oder matschig wird, kommt alles

weg ...“

Ich brachte ihn zum Schweigen. Die Pizza war okay. Es war ja nicht so, dass sie von dem kurzen

Aufenthalt in der Mülle irgendwie infiziert worden wäre. Wenn daran etwas eklig war, dann der

Umstand, dass sie von Domino‘s kam -- der grässlichsten Pizzakette der Stadt.

Ich hatte ihr Essen

noch nie sehr gemocht, und als ich erfahren hatte, dass sie eine Gruppe ultrabescheuerter Politiker

finanzierten, die daran glaubten, dass globale Erwärmung und Evolution

satanische Tricks waren,

hatte ichs ganz aufgegeben.

Das Gefühl von Ekel war dennoch nicht so leicht zu unterdrücken.

Aber die Sache hatte noch einen ganz anderen Aspekt. Zab hatte mir ein Geheimnis offenbart, etwas,

worauf ich nicht vorbereitet gewesen war: Da draußen existierte eine ganze versteckte Welt, eine Art,

irgendwie durchzukommen, ohne ein Teil des Systems zu werden.

„Freeganer, ja?“

„Jogurt brauchen wir auch“, sagte er und nickte nachdrücklich. „Für den Obstsalat. Den werfen sie am

Tag nach dem Mindesthaltbarkeitsdatum gleich weg, aber der wird ja nicht um Mitternacht sofort

grün. Hey, es ist Jogurt, ich mein, das ist doch sowieso schon vergammelte Milch.“

Ich schluckte. Die Pizza schmeckte komisch. Rattengift. Abgelaufener Jogurt.

Matschige Erdbeeren.

Daran würde ich mich erst mal gewöhnen müssen.

Ich biss noch mal ab. Wenn man sie für lau bekam, war Domino‘s Pizza ein bisschen weniger

scheußlich.

Liams Schlafsack war warm und einladend nach diesem langen, emotional aufreibenden Tag. Van

dürfte Barbara mittlerweile kontaktiert haben. Sie würde das Video und das Foto haben. Ich würde sie

am nächsten Morgen anrufen und in Erfahrung bringen, was sie als nächste Aktion für angebracht

hielt. Sobald sie veröffentlichte, würde ich noch mal reinkommen müssen, um die Geschichte zu

untermauern.

Darüber dachte ich nach, als ich meine Augen schloss; ich dachte daran, wie es wohl sein würde, mich

selbst zu stellen, vor laufenden Kameras, die dem berüchtigten M1k3y in eines jener großen,

säulengeschmückten Gebäude am Civic Center folgten.

Der Lärm der über mir vorbeisausenden Autos verwandelte sich in ein Ozeanrauschen, als ich

wegdämmerte. In der Nähe standen noch andere Zelte von Obdachlosen. Ein paar von ihnen hatte ich

an diesem Nachmittag getroffen, bevor es dunkel wurde und wir uns alle zu unseren eigenen Zelten

zurückzogen. Sie waren alle älter als ich und sahen grob und derb aus. Aber keiner von ihnen sah aus,

als sei er verrückt oder gewalttätig. Nur eben wie Leute, die nicht viel Glück gehabt hatten oder

schlechte Entscheidungen getroffen oder beides.

Ich musste eingeschlafen sein, denn ich erinnere mich an nichts mehr bis zu dem Moment, an dem ein

blendend helles Licht auf mein Gesicht fiel.

„Das ist er“, sagte eine Stimme hinter dem Licht.

„Sackt ihn ein“, sagte eine andere Stimme, eine Stimme, die ich früher schon

einmal gehört hatte und

dann wieder und wieder in meinen Träumen, wie sie mir Vorträge hielt und meine Passwörter

verlangte. Frau Strenger Haarschnitt.

Blitzschnell war der Sack über meinem Kopf, und sie zogen ihn an der Kehle so fest an, dass ich zu

ersticken glaubte und meine Freeganer-Pizza erbrach. Während ich zuckte und würgte, fesselten harte

Hände meine Handgelenke und meine Knöchel. Ich wurde auf eine Trage gerollt und emporgehoben,

dann in ein Fahrzeug getragen, ein paar klappernde Metallstufen hinauf. Sie ließen mich auf einen

gepolsterten Boden fallen. Hinten im Fahrzeug war bei geschlossenen Türen absolut nichts zu hören.

Die Polsterung unterdrückte alles außer meinem eigenen Würgen.

„Hallo nochmal!“, sagte sie. Ich spürte den Lieferwagen wippen, als sie zu mir hineinstieg. Ich würgte

immer noch und versuchte verzweifelt, Luft zu bekommen. Erbrochenes füllte meinen Mund und rann

mir in die Luftröhre.

„Wir werden dich nicht sterben lassen“, sagte sie. „Wenn du aufhörst zu atmen, sorgen wir dafür, dass

du wieder anfängst. Mach dir darum also keine Sorgen.“

Ich würgte heftiger. Ich schnappte nach Luft. Ein bisschen was kam durch.

Heftige, schmerzhafte

Hustenattacken schüttelten meine Brust und meinen Rücken, und dabei rüttelten

sie was von der

Kotze weg. Mehr Luft.

„Siehst du? Gar nicht so schlimm. Willkommen daheim, M1k3y. Wir haben einen ganz besonderen

Ort für dich ausgesucht.“

Ich versuchte mich auf dem Rücken liegend zu entspannen und spürte den Lieferwagen schaukeln.

Der Geruch benutzter Pizza war anfangs übermächtig, aber wie das mit allen starken Stimuli so ist,

gewöhnte sich mein Gehirn allmählich daran und filterte ihn aus, bis er nur noch ein schwaches

Aroma war. Die Schaukelei des Wagens war fast schon beruhigend.

Und da geschah es. Eine unglaubliche, tiefe Ruhe kam über mich, als läge ich am Strand und der

Ozean käme angebrandet und hebe mich empor, sanft wie eine Elternhand, hielte mich in der

Schwebe und trage mich hinaus in ein warmes Meer unter einer warmen Sonne.

Nach allem, was

geschehen war, hatten sie mich gefangen, aber darauf kam es nun nicht mehr an.

Ich hatte Barbara die

Informationen zukommen lassen. Ich hatte das Xnet organisiert. Ich hatte gewonnen.

Und wenn ich nicht gewonnen hatte, so hatte ich doch alles getan, was ich konnte. Mehr als ich mir

jemals selbst zugetraut hätte. Während wir fuhren, zog ich eine mentale Bilanz, dachte an alles, was

ich erreicht hatte, was wir erreicht hatten. Die Stadt, das Land, die Welt war voll mit Menschen, die

nicht bereit waren, so zu leben, wie das DHS es von uns erwartete. Wir würden ewig weiterkämpfen.

Sie konnten uns nicht alle wegsperren.

Ich seufzte und lächelte.

Dann wurde mir klar, dass sie die ganze Zeit geredet hatte. Ich war so weit weg an meinem

glücklichen Ort gewesen, dass sie einfach verschwunden war.

„... kluger Junge wie du. Man würde meinen, du solltest es besser wissen, als dich mit uns anzulegen.

Wir hatten dich im Visier seit dem Tag, an dem du rausgekommen bist. Und wir hätten dich auch dann

erwischt, wenn du nicht zu deiner lesbischen Verräter-Journalistin gerannt wärst, um dich

auszuheulen. Ich versteh das einfach nicht -- wir waren uns doch einig, du und ich ...“

Wir rüttelten über eine Metallplatte, die Federung des Lasters sprach an, und dann änderte sich das

Wippen. Wir waren auf dem Wasser. Unterwegs nach Treasure Island. Hey, Ange war da. Und Darryl

auch. Vielleicht.

Die Kapuze nahmen sie mir erst in meiner Zelle wieder ab. Um die Fesseln an Handgelenken und

Knöcheln kümmerten sie sich nicht, sondern ließen mich einfach von der Trage

auf den Boden rollen.

Es war dunkel, aber im Mondlicht, das durch das einzige winzige Fenster hoch oben hereinschien,

konnte ich sehen, dass die Matratze vom Bettgestell entfernt worden war. Der Raum beinhaltete mich,

eine Toilette, ein Bettgestell und ein Waschbecken. Sonst nichts.

Ich schloss die Augen und ließ mich vom Ozean emporheben. Irgendwo tief unter mir war mein

Körper. Ich wusste, was als Nächstes passieren würde. Ich würde hier liegenbleiben, um in die Hose

zu pinkeln. Schon wieder. Ich wusste, wie sich das anfühlte, ich hatte schon mal eingepinkelt. Es roch

streng. Es juckte. Es war erniedrigend; als sei man ein Baby.

Aber ich hatte es überlebt.

Ich lachte. Der Klang war seltsam, und er zog mich in meinen Körper zurück, zurück in die

Gegenwart. Ich lachte und lachte. Ich hatte das Schlimmste erlebt, das sie mir antun konnten, und ich

hatte es überlebt; und ich hatte sie geschlagen, monatelang, sie als Trottel und Despoten vorgeführt.

Ich hatte gewonnen.

Ich erleichterte meine Blase. Sie war ohnehin voll und schmerzte, und was du heute kannst

besorgen ...

Der Ozean trug mich davon.

Am nächsten Morgen schnitten zwei effiziente, unpersönliche Wachen meine Fesseln an Hand- und

Fußgelenken durch. Ich konnte noch nicht wieder laufen -- wenn ich mich hinstellte, gaben meine

Beine nach wie die einer Marionette ohne Fäden. Zu viel Zeit in einer Stellung.

Die Wachen zogen

meine Arme über ihre Schultern und schleppten mich halb ziehend, halb tragend den vertrauten

Korridor entlang. Die Strichcodes an den Türen waren mittlerweile von der aggessiven Salzluft wellig

geworden und baumelten herab.

Ich hatte eine Idee. „Ange!“, brüllte ich. „Darryl!“, brüllte ich. Meine Wachen schleppten mich

schneller, offenkundig verstört, aber unsicher, was sie nun mit mir machen sollten. „Jungs, ich bins,

Marcus!“

Hinter einer der Türen schluchzte jemand. Ein anderer brüllte in einer Sprache, die ich für Arabisch

hielt. Dann war es eine Kakophonie, tausend verschiedene schreiende Stimmen.

Sie brachten mich in ein neues Zimmer. Es war ein ehemaliger Duschraum, die Duschköpfe schauten

noch zwischen den schimmligen Kacheln hervor.

„Hallo, M1k3y“, sagte Strenger Haarschnitt. „Du scheinst einen ereignisreichen Morgen hinter dir zu

haben.“ Sie rümpfte demonstrativ ihre Nase.

„Ich hab mich bepisst“, sagte ich fröhlich. „Sollten Sie auch mal probieren.“

„Na, vielleicht sollten wir dir dann ein Bad gönnen.“ Sie nickte, und meine Wachen trugen mich zu

einer anderen Liege. Diese hatte Befestigungsschnallen über die ganze Länge.

Sie ließen mich darauf

plumpsen, und sie war eiskalt und durchgeweicht. Ehe ich mich versah, hatten sie mich an Schultern,

Hüfte und Knöcheln festgestrappt. Nach einer weiteren Minute waren noch drei weitere Schnallen

angezogen. Eine Männerhand griff nach den Stäben an meinem Kopf und löste ein paar

Arretierungen, und einen Moment später lag ich geneigt da, der Kopf tiefer als die Füße.

„Lass uns mit etwas Einfachem anfangen“, sagte sie. Ich reckte meinen Kopf, um sie zu sehen. Sie

hatte sich zu einem Tisch mit einer Xbox gedreht, die mit einem augenscheinlich teuren

Flachfernseher verbunden war. „Ich möchte bitte, dass du mir deine Nutzerkennung und das Passwort

für deine Piratenpartei-E-Mail verrätst.“

Ich schloss die Augen und ließ mich vom Ozean vom Strand wegtreiben.

„Weißt du, was Waterboarding ist, M1k3y?“ Ihre Stimme zog mich wieder an Land. „Du wirst genau

so festgebunden, und wir gießen dir Wasser über den Kopf, in deine Nase und in deinen Mund. Du

wirst den Würgereflex nicht unterdrücken können. Man nennt es eine simulierte Hinrichtung, und

soweit ich es von dieser Seite des Raums beurteilen kann, ist das eine angemessene Einschätzung. Du

wirst das Gefühl nicht loswerden, dass du stirbst.“

Ich versuchte mich wieder zu entfernen. Von Waterboarding hatte ich gehört.

Das war es also, echte

Folter. Und das war erst der Anfang.

Ich konnte mich nicht mehr entfernen. Der Ozean brandete nicht mehr heran, um mich

emporzuheben. In meiner Brust wurde es eng, und meine Augenlider begannen zu flattern. Ich fühlte

die feuchtkalte Pisse an meinen Beinen und den feuchtkalten Schweiß im Haar.

Meine Haut juckte

von der getrockneten Kotze.

Sie schwamm oberhalb von mir in mein Gesichtsfeld. „Lass uns mit der Kennung anfangen“, sagte

sie.

Ich schloss die Augen und presste sie fest zu.

„Gebt ihm was zu trinken“, sagte sie.

Ich hörte, wie sich Leute bewegten. Ich holte einmal tief Luft und hielt sie an.

Das Wasser fing als Rinnsal an, eine Kelle voll Wasser, das sanft über mein Kinn und meine Lippen

gegossen wurde. In meine umgekehrten Nasenlöcher hinein. Es lief zurück in meine Kehle und

begann mich zu ersticken, aber ich würde nicht husten, würde nicht keuchen und es in meine Lungen

einsaugen. Ich hielt den Atem an und presste meine Augen noch fester zu.

Von außerhalb war ein Tumult zu hören, ein Klang von hektisch stampfenden Stiefeln, wütende,

erboste Schreie. Die Kelle wurde über meinem Gesicht ausgeleert.

Ich hörte sie mit jemandem im Raum murmeln, dann sagte sie zu mir: „Nur die Kennung, Marcus.

Das ist eine einfache Frage. Was sollte ich denn schon mit deinem Login anfangen können?“

Dieses Mal war es ein Eimer voll Wasser, alles auf einmal, eine Flut ohne Ende, wirklich gigantisch.

Ich konnte es nicht mehr vermeiden: Ich keuchte und atmete das Wasser in meine Lungen, hustete und

sog noch mehr Wasser ein. Ich wusste zwar, dass sie mich nicht töten würden, aber ich konnte meinen

Körper nicht davon überzeugen. Mit jeder Faser meines Seins wusste ich, dass ich jetzt sterben würde.

Ich konnte nicht einmal weinen -- es wurde immer noch mehr Wasser über mich gegossen.

Dann hörte es auf. Ich hustete, hustete, hustete, aber in dem Winkel, in dem ich mich befand, lief das

Wasser, das ich aushustete, in meine Nase zurück und brannte in den Nebenhöhlen.

Die Hustenanfälle gingen so tief, dass sie schmerzten, an den Rippen und an den Hüften, als ich mich

ihnen entgegenstemmte. Ich hasste es, dass mein Körper mich verriet, dass mein Geist meinen Körper

nicht kontrollieren konnte; aber ich konnte nichts dagegen tun.

Schließlich ließ das Husten so weit nach, dass ich wahrnehmen konnte, was um mich herum vorging.

Leute brüllten, und es klang nach einer Schlägerei oder einem Ringkampf. Ich öffnete die Augen und

blinzelte ins grelle Licht, dann reckte ich, immer noch hustend, den Hals.

Im Zimmer waren jetzt eine Menge mehr Leute als zu Beginn. Die meisten davon schienen

Panzerwesten, Helme und Rauchglas-Visiere zu tragen. Sie brüllten auf die Treasure-Island-Wachen

ein, und die brüllten mit angeschwollenen Halsadern zurück.

„Stehenbleiben!“, sagte einer von den Panzerwesten. „Stehenbleiben und Hände in die Luft. Sie sind

verhaftet!“

Frau Strenger Haarschnitt war am Telefonieren. Einer der Gepanzerten bemerkte sie, stürzte auf sie zu

und hieb ihr mit seinem Handschuh das Telefon aus der Hand. Jeder verstummte, als es in einem

Bogen durch das ganze kleine Zimmer segelte und in einem Hagel von Einzelteilen auf dem Boden

zerschellte.

Das Schweigen war nur von kurzer Dauer, dann kamen die Panzerwesten weiter ins Zimmer herein.

Zwei schnappten sich je einen meiner Folterer. Fast brachte ich ein Lächeln zuwege, als ich den

Gesichtsausdruck von Strenger Haarschnitt sah, als zwei Männer sie an den

Schultern packten,

umdrehten und ihr Plastikhandschellen um die Handgelenke legten.

Einer der Gepanzerten trat durch den Türrahmen herein. Er hatte eine Videokamera auf der Schulter,

eine ziemlich anständige Ausrüstung mit gleißend hellem Scheinwerfer. Er nahm das ganze Zimmer

auf und umkreiste mich zwei Mal, während er auf mich draufhielt. Ich ertappte mich dabei, absolut

stillzuhalten, als ob ich jemandem Porträt sitzen würde.

Es war lächerlich.

„Meinen Sie, Sie könnten mich wohl mal von diesem Ding hier losmachen?“ Ich schaffte es, alles

herauszubringen und dabei nur ein kleines bisschen zu würgen.

Zwei Panzerwesten kamen auf mich zu, eine davon eine Frau, und fingen an, mich loszubinden. Sie

klappten ihre Visiere hoch und lächelten mich an. Sie hatten rote Kreuze auf ihren Schultern und

Helmen.

Unter den roten Kreuzen war ein weiteres Logo: CHP. California Highway Patrol. Sie waren

Nationalgardisten.

Ich wollte gerade fragen, was sie hier machten, da sah ich Barbara Stratford. Sie war offensichtlich im

Flur zurückgehalten worden, aber jetzt drängte sie sich mit Macht herein. „Hier bist du ja“, sagte sie,

kniete sich neben mir nieder und zog mich in die längste, kräftigste Umarmung meines Lebens.

Und da wusste ich es -- Gitmo-an-der-Bay war in der Hand seiner Feinde. Ich war gerettet.

Kapitel 21

Dieses Kapitel ist Pages Books in Toronto, Kanada gewidmet. Pages gehört schon seit ewig zum Inventar auf der megaangesagten Queen Street West; er liegt gegenüber von CityTV und nur ein paar Türen entfernt vom alten Bakka, wo ich

arbeitete. Wir bei Bakka fanden es großartig, Pages in derselben Straße zu haben

-- was wir für Science Fiction waren,

waren sie dort für alles andere: Handverlesenes Material, Sachen, die du sonst niemals finden würdest; Sachen, von denen

du gar nicht wusstest, dass du sie suchst, bis du sie dort siehst. Pages hat außerdem eine der besten Zeitschriften-Abteilungen, die ich je gesehen habe, reihenweise unglaubliche Magazine aus der ganzen Welt.

Pages Books http://pagesbooks.ca/ 256 Queen St W, Toronto, ON M5V 1Z8

Canada +1 416 598 1447

ann ließen sie mich und Barbara im Zimmer allein, und ich benutzte den funktionierenden

Duschkopf, um mich abzubrausen -- jetzt plötzlich war es mir peinlich, bepisst und bespuckt

dazustehen. Als ich fertig war, weinte Barbara. D

„Deine Eltern ...“, fing sie an.

Ich dachte, ich müsse gleich wieder spucken. Oh Gott, meine arme Familie. Was

mussten die bloß

durchgemacht haben.

„Sind sie hier?“

„Nein“, sagte sie. „Das ist kompliziert.“

„Was?“

„Du bist immer noch in Haft, Marcus. Jeder hier ist noch in Haft. Sie können hier nicht einfach

reinsausen und alle Türen aufreißen. Jeder hier muss durch die reguläre Strafgerichtsbarkeit

geschleust werden. Und das könnte, also, es könnte Monate dauern.“

„Ich soll noch monatelang hier bleiben?“

Sie fasste mich bei den Händen. „Nein, ich denke, wir werden das anfechten und dich ziemlich

schnell auf Kaution rausbekommen. Aber ‚ziemlich schnell‘ ist relativ. Ich würde nicht damit rechnen,

dass heute noch was passiert. Und es wird nicht mehr so sein wie bei diesen Leuten. Es wird human

sein. Es wird richtiges Essen geben. Keine Befragungen. Besuche von deiner Familie.

Nur weil das DHS raus ist, kannst du noch lange nicht einfach so von hier verschwinden. Was gerade

passiert ist, das ist, dass wir die Bizarro-Version ihres Justizsystems gekippt haben und wieder das alte

System einführen. Das System mit Richtern, öffentlichen Verhandlungen und Anwälten.

Wir könnten also versuchen, dich in eine Jugendstrafanstalt auf dem Festland zu verlegen, aber

Marcus, diese Orte können wirklich heftig sein. Sehr, sehr hart. Dies hier könnte für dich der beste

Platz sein, bis wir dich auf Kaution freibekommen.“

Auf Kaution freibekommen. Na klar. Ich war ein Krimineller -- ich war noch nicht angeklagt, aber das

mussten wohl Dutzende von Anklagepunkten sein, die sie gegen mich auffahren konnten. Es war ja

praktisch illegal, auch nur unreine Gedanken über die Regierung zu denken.

Sie drückte wieder meine Hände. „Es ist Mist, aber so muss es nun mal laufen.

Hauptsache, es ist

vorbei. Der Gouverneur hat das DHS rausgeworfen und alle Checkpoints abgebaut. Der Staatsanwalt

hat Haftbefehle gegen alle Vollstreckungsbeamten erlassen, die in

‚Stressbefragungen‘ und

Geheimgefängnisse involviert waren. Die werden alle in den Knast wandern, und zwar wegen allem,

was du getan hast, Marcus.“

Ich war wie betäubt. Ich hörte die Worte, aber ich begriff ihren Sinn nicht.

Irgendwie war es vorbei,

aber auch wieder nicht.

„Hör mal“, sagte sie. „Wir haben vielleicht noch eine oder zwei Stunden, bevor sich das hier alles

wieder beruhigt und sie kommen, um dich wieder einzusperren. Was willst du machen? Am Strand

spazierengehen? Etwas essen? Diese Leute hier hatten ein unglaubliches Stabskasino -- das haben wir

auf dem Weg hier rein geplündert. Essen vom Allerfeinsten.“

Endlich eine Frage, die ich beantworten konnte. „Ich will Ange finden. Und ich will Darryl finden.“

Ich versuchte ihre Zellennummern in einem Computer nachzuschauen, aber der verlangte ein

Passwort, und so blieb uns nichts übrig, als die Flure entlangzuwandern und ihre Namen zu rufen. Von

hinter den Zellentüren riefen Gefangene uns etwas zurück, weinten oder bettelten uns an, sie gehen zu

lassen. Sie begriffen noch nicht, was gerade eben passiert war, sie konnten nicht sehen, wie ihre

früheren Bewacher in Plastikhandschellen auf den Docks zusammengetrieben und von kalifornischen

SWAT7-Teams weggebracht wurden.

„Ange!“, brüllte ich über den Lärm hinweg, „Ange Carvelli! Darryl Glover! Ich bins, Marcus!“ Wir

hatten den Zellentrakt auf ganzer Länge abgewandert, und sie hatten nicht geantwortet. Mir war nach

Heulen zumute. Sie waren also außer Landes gebracht worden -- nach Syrien oder noch schlimmer.

Ich würde sie nie wiedersehen.

Ich hockte mich hin, lehnte mich an die Flurwand und verbarg mein Gesicht in den Händen. Ich sah

das Gesicht von Frau Strenger Haarschnitt, sah ihr Grinsen, als sie nach meinem Login fragte. Sie

hatte das getan. Sie würde dafür ins Gefängnis gehen, aber das reichte mir nicht.

Ich dachte, wenn ich

sie wiedersähe, würde ich sie töten. Sie hätte es verdient.

„Komm schon“, sagte Barbara, „komm weiter, Marcus. Gib nicht auf. Hier gehts noch weiter, komm

schon.“

Sie hatte Recht. Alle Türen, an denen wir in dem Zellentrakt vorbeigekommen waren, waren alte,

verrostete Dinger aus der Entstehungszeit dieser Basis. Aber ganz am Ende des Flurs war eine neue

Hochsicherheitstür angelehnt, dick wie ein Wörterbuch. Wir zogen sie auf und wagten uns in den

dunklen Flur dahinter.

Hier gab es noch vier Zellentüren ohne Strichcodes. Auf jeder war eine kleine Zifferntastatur

montiert.

„Darryl?“, sagte ich. „Ange?“

„Marcus?“

Es war Ange, die mir aus der hintersten Tür zurief. Ange, meine Ange, mein Engel.

„Ange!“, rief ich. „Ich bins, ich bins!“

„Oh Gott, Marcus,“ presste sie noch hervor, der Rest ging in ihrem Schluchzen unter.

Ich hämmerte an die anderen Türen. „Darryl! Darryl, bist du hier?“

„Ich bin hier.“ Die Stimme war sehr dünn und sehr heiser. „Ich bin hier. Es tut mir so, so Leid. Bitte.

Es tut mir so Leid.“

Er klang ... gebrochen. Zerstört.

„Ich bins, D“, sagte ich, mein Gesicht dicht an die Tür gepresst. „Ich bins, Marcus. Es ist vorbei -- sie

haben die Wachen verhaftet. Sie haben die Heimatschutzbehörde rausgekickt.

Wir kriegen

Verhandlungen, öffentliche Verhandlungen. Und wir werden gegen sie aussagen.“

„Es tut mir Leid“, sagte er nur. „Bitte, es tut mir so Leid.“

In diesem Moment erschienen die kalifornischen Polizisten in der Tür. Ihre Kamera lief immer noch.

„Ms. Stratford?“, sagte einer. Er hatte sein Visier oben und sah aus wie jeder andere Polizist, nicht wie

mein Retter. Wie jemand, der gekommen war, um mich wegzusperren.

„Captain Sanchez“, sagte sie, „wir haben hier zwei der wichtigeren Gefangenen gefunden. Ich möchte

Zugang zu ihnen erhalten und sie selbst in Augenschein nehmen.“

„Ma‘am, für diese Türen haben wir noch keine Zugangscodes.“

7 Spezialeinheit der US-Polizeibehörde, AdÜ

Sie hob die Hand. „Das war nicht so abgemacht. Ich sollte unbegrenzten Zugang zu allen Bereichen

dieser Anlage erhalten. Das kam direkt vom Gouverneur, Sir. Wir werden uns

hier nicht rühren, bevor

Sie diese Zellen geöffnet haben.“

Ihr Gesicht war vollkommen unbewegt, sie zeigte kein Anzeichen von Nachgiebigkeit. Sie meinte das

so.

Der Captain sah aus, als brauche er Schlaf. Er zog eine Grimasse. „Ich werde sehen, was ich tun

kann“, sagte er.

Eine halbe Stunde später hatten sie es geschafft, die Türen zu öffnen. Sie brauchten drei Versuche,

aber schließlich gaben sie die richtigen Codes ein, nachdem sie sie mit den RFIDs in den

Identifikationsmarken abgeglichen hatten, die sie den festgenommenen Wachen abgenommen hatten.

Sie betraten Anges Zelle zuerst. Sie war in einen Krankenhauskittel gehüllt, der hinten offen war, und

ihre Zelle war sogar noch karger als meine -- nur Polsterung rundum, kein Waschbecken, kein Bett,

kein Licht. Sie trat blinzelnd in den Flur hinaus, und die Polizeikamera hielt auf sie drauf, das grelle

Licht frontal in ihr Gesicht. Barbara trat schützend zwischen uns und die Kamera. Ange kam zögernd

und leicht schwankend heraus. Mit ihren Augen und ihrem Gesicht stimmte etwas nicht. Sie weinte,

aber das wars nicht.

„Die haben mir Medikamente gegeben“, sagte sie. „Als ich nicht aufgehört habe, nach einem Anwalt

zu schreien.“

Ich zog sie in meine Arme. Sie ließ sich fallen, aber sie erwiderte die Umarmung. Sie roch miefig und

verschwitzt, und ich roch nicht besser. Ich wollte sie nie wieder loslassen.

Und dann öffneten sie Darryls Zelle.

Er hatte seinen papiernen Krankenhauskittel zerrissen. Nackt lag er zusammengerollt in der hintersten

Ecke der Zelle und versuchte sich vor der Kamera und unseren Blicken zu verbergen. Ich rannte zu

ihm.

„D“, flüsterte ich ihm ins Ohr. „D, ich bins. Marcus. Es ist vorbei. Die Wachen sind verhaftet. Wir

kommen auf Kaution raus, wir gehen nach Hause.“

Er zitterte und kniff die Augen zu. „Es tut mir Leid“, flüsterte er und drehte sein Gesicht zur Wand.

Dann brachten sie mich weg, ein Polizist in Panzerweste und Barbara; sie brachten mich zu meiner

Zelle und verschlossen die Tür, und dort verbrachte ich die Nacht.

An die Fahrt zum Gerichtsgebäude erinnere ich mich nur vage. Sie hatten mich an fünf andere

Gefangene gekettet, die alle schon viel länger eingesessen hatten als ich. Einer sprach nur Arabisch --

er war ein alter Mann, und er zitterte. Die anderen waren alle jung. Ich war der

einzige Weiße. Als wir

alle auf dem Deck der Fähre zusammengepfercht waren, sah ich, dass fast jeder auf Treasure Island

eine mehr oder weniger braune Hautfarbe hatte.

Ich war nur eine Nacht drin gewesen, aber das war schon zu lange. Ein leichter Nieselregen perlte auf

uns herunter, normalerweise die Sorte Wetter, bei dem ich die Schultern einzog und auf den Boden

guckte; aber heute reckte ich wie alle anderen meinen Hals nach dem unendlichen grauen Himmel

und genoss die stechende Nässe, während wir über die Bay und den Fähranlegern entgegenbrausten.

Sie fuhren uns in Bussen weiter. Die Fesseln machten das Einsteigen mühselig, und es dauerte eine

Ewigkeit, bis alle eingestiegen waren. Niemanden kümmerte es. Wenn wir uns nicht gerade

abmühten, das geometrische Problem „Sechs Mann, eine Kette, schmaler Gang“

zu lösen, dann

betrachteten wir bloß die Stadt um uns herum, die vielen Häuser oben auf dem Hügel.

Alles, woran ich denken konnte, war, Darryl und Ange zu finden, aber keiner von beiden war zu

sehen. Es war eine riesige Menge, und es war uns nicht erlaubt, uns frei darin zu bewegen. Die

Nationalgardisten, die sich um uns kümmerten, waren einigermaßen freundlich, aber sie waren

nichtsdestotrotz groß, gepanzert und bewaffnet. Ich dachte ständig, ich würde Darryl in der Menge

sehen, aber es war immer jemand anderer mit demselben geprügelten, gebeugten Ausdruck, den ich

an ihm in seiner Zelle gesehen hatte. Er war nicht der einzige Gebrochene hier.

Im Gerichtsgebäude führten sie uns in unseren Fesselgrüppchen in Befragungsräume. Eine ACLUAnwältin

nahm unsere Daten auf, stellte uns einige Fragen -- als ich an der Reihe war, lächelte sie und

begrüßte mich mit Namen -- und führte uns dann in den Gerichtssaal und vor den Richter. Er trug eine

richtige Robe und schien gut gelaunt zu sein.

Es schien vereinbart zu sein, dass jeder, für den ein Familienmitglied Kaution hinterlegen konnte,

freigelassen wurde und alle anderen ins Gefängnis kamen. Die ACLU-Anwältin redete auf den

Richter ein und bat um einige Stunden Aufschub, während derer die Angehörigen der Gefangenen

aufgetrieben und zum Gerichtsgebäude gebracht wurden. Der Richter war ziemlich wohlwollend, aber

als mir klar wurde, dass einige von den Leuten hier schon seit dem Tag des Attentats inhaftiert waren,

ohne jedes Verfahren, Verhören, Isolation und Folter ausgeliefert, während ihre Familien sie tot

glaubten, da hätte ich nur noch die Ketten zerreißen und sie alle einfach freilassen mögen.

Als ich dem Richter vorgeführt wurde, sah er auf mich herunter und nahm seine Brille ab. Er sah

müde aus. Die ACLU-Anwältin sah müde aus. Die Gerichtsdiener sahen müde aus. Hinter mir konnte

ich ein plötzliches Aufbranden von Gesprächen hören, als ein Gerichtsdiener meinen Namen verlas.

Der Richter pochte einmal mit seinem Hammer, ohne den Blick von mir abzuwenden. Er rieb sich

über die Augen.

„Mr. Yallow“, sagte er, „die Anklage hat Sie als fluchtverdächtig eingestuft. Ich denke, das ist nicht

von der Hand zu weisen. Sie haben mehr, sagen wir mal, Geschichte als die anderen Leute hier. Ich

bin versucht, Sie bis zum Verfahren festzusetzen, unabhängig davon, wie viel Kaution Ihre Eltern zu

hinterlegen bereit sind.“

Meine Anwältin hob an zu sprechen, doch der Richter bedeutete ihr mit einem Blick zu schweigen. Er

rieb sich wieder die Augen.

„Haben Sie etwas dazu zu sagen?“

„Ich hatte Gelegenheit zu fliehen“, sagte ich. „Letzte Woche. Jemand hatte mir angeboten, mich

fortzubringen, weg aus der Stadt, und mir eine neue Identität aufzubauen.

Stattdessen habe ich dieser

Frau das Telefon gestohlen, bin aus unserem Lastwagen abgehauen und fortgerannt. Ich habe ihr

Telefon -- auf dem sich Beweise über meinen Freund Darryl Glover befanden --

einer Journalistin

übergeben und mich dann hier, in der Stadt, versteckt.“

„Sie haben ein Telefon gestohlen?“

„Ich war zu der Erkenntnis gelangt, dass ich nicht weglaufen durfte. Dass ich mich der Justiz zu

stellen hatte -- dass meine Freiheit nichts wert war, solange ich gesucht wurde oder solange meine

Stadt noch der DHS unterworfen war. Solange meine Freunde immer noch eingesperrt waren. Und

dass meine Freiheit nicht so wichtig war wie die Freiheit des Landes.“

„Aber Sie haben ein Telefon gestohlen.“

Ich nickte. „Ja, das habe ich. Ich beabsichtige es zurückzugeben, sobald ich die fragliche junge Frau

finde.“

„Nun, ich danke Ihnen für diese Rede, Mr. Yallow. Sie sind ein sehr eloquenter junger Mann.“ Er

fixierte den Staatsanwalt. „Mancher würde sagen, auch ein sehr mutiger Mann.

Heute früh lief in den

Nachrichten ein gewisses Video, das die Annahme rechtfertigt, dass Sie gute Gründe hatten, den

Strafverfolgungsbehörden aus dem Weg zu gehen. Vor diesem Hintergrund und eingedenk Ihrer

kleinen Rede hier werde ich Kaution gewähren, aber ich werde veranlassen, dass die Anklage gegen

Sie um den Punkt minderschweren Diebstahls im Hinblick auf das Telefon

ergänzt wird.

Diesbezüglich setze ich zusätzlich 50.000 Dollar Kaution fest.“

Er pochte wieder mit dem Hammer, und meine Anwältin drückte mir die Hand.

Er schaute wieder herunter zu mir und rückte seine Brille zurecht. Er hatte Schuppen auf den

Schultern seiner Robe. Als die Brille sein drahtiges, lockiges Haar berührte, rieselten noch einige

mehr herab.

„Sie können jetzt gehen, junger Mann. Halten Sie sich von Ärger fern.“

Ich wandte mich zum Gehen, als mich jemand tackelte. Es war Dad. Er riss mich wortwörtlich von

den Füßen und umarmte mich so stürmisch, dass meine Rippen knirschten. Er drückte mich genau so,

wie ich das von früher in Erinnerung hatte, als ich ein kleiner Junge war: als er mich in großartigen,

schwindelerregenden Flugzeugspielen um sich herumschleuderte, mich in die Luft warf, auffing und

dann eben drückte, so fest, dass es beinahe wehtat.

Ein Paar weicherer Hände entzog mich sanft seinen Armen. Mom. Sie hielt mich einen Moment lang

auf Armlänge, suchte irgend etwas in meinem Gesicht und sprach kein Wort, während ihr die Tränen

übers Gesicht rannen. Sie lächelte, aus dem Lächeln wurde wieder ein Schluchzen, und dann hielt sie

mich fest, während Dads Arm uns beide umfasste.

Als sie mich losließen, gelang es mir endlich, etwas zu sagen. „Darryl?“

„Sein Vater hat mich anderswo getroffen. Er ist im Krankenhaus.“

„Wann kann ich ihn sehen?“

„Das ist unsere nächste Station“, sagte Dad mit finsterer Miene. „Er ist nicht ...“

Er brach ab. Dann:

„Sie sagen, er wird sich berappeln.“ Seine Stimme klang erstickt.

„Und was ist mit Ange?“

„Ihre Mutter hat sie nach Hause gebracht. Sie wollte hier auf dich warten, aber

...“

Ich verstand. Ich war jetzt voller Verständnis für all die Familien all der Leute, die sie weggesperrt

hatten. Überall im Gerichtssaal wurde geweint und umarmt, nicht einmal die Gerichtsdiener konnten

sich mehr zurückhalten.

„Lasst uns zu Darryl gehen“, sagte ich. „Und darf ich euer Handy leihen?“

Ich rief Ange auf dem Weg zum Krankenhaus an, in das sie Darryl gebracht hatten -- San Francisco

General, von uns aus bloß die Straße runter --, um mich mit ihr für nach dem Essen zu verabreden. Sie

sprach in gehetztem Flüsterton. Ihre Mutter war noch unschlüssig, ob sie sie nun bestrafen sollte oder

nicht, und Ange wollte das Schicksal nicht herausfordern.

Auf dem Flur, auf dem Darryl untergebracht war, standen zwei Nationalgardisten. Sie wehrten einen

Pulk von Reportern ab, die auf Zehenspitzen standen, um einen Blick und ein

Foto zu erhaschen. Die

Blitze explodierten wie Stroboskope in unseren Agen, und ich schüttelte den Kopf, um den Blick

wieder klar zu bekommen. Meine Eltern hatten mir saubere Klamotten mitgebracht, die ich auf dem

Rücksitz angezogen hatte, aber ich fühlte mich immer noch ekelhaft, obwohl ich mich im Waschraum

des Gerichts abgeschrubbt hatte.

Einige der Reporter riefen meinen Namen. Ach ja, ich war jetzt berühmt. Auch die Nationalgardisten

warfen mir Blicke zu -- entweder sie erkannten mein Gesicht oder meinen Namen, den die Reporter

riefen.

Darryls Vater traf uns an der Tür zu seinem Krankenzimmer; er sprach im Flüsterton, so dass die

Reporter nichts aufschnappen konnten. Er war in Zivil, in Jeans und Pulli, wie ich ihn kannte, aber er

hatte sich die Dienstabzeichen an die Brust geheftet.

„Er schläft“, sagte er. „Vor einer Weile ist er aufgewacht und hat geweint. Er hat überhaupt nicht mehr

aufgehört. Dann haben sie ihm etwas gegeben, um ihm beim Einschlafen zu helfen.“

Er führte uns hinein, und da lag Darryl, das Haar gewaschen und gekämmt, und schlief mit offenem

Mund. In seinen Mundwinkeln war irgendwas Weißes zu sehen. Er hatte ein halbprivates Zimmer,

und im anderen Bett lag ein älterer arabisch aussehender Typ in den Vierzigern.

Ich erkannte ihn als

denjenigen, mit dem ich auf dem Rückweg von Treasure Island zusammengekettet gewesen war. Wir

winkten uns verlegen zu.

Dann wandte ich mich wieder Darryl zu. Ich nahm seine Hand. Seine Nägel waren bis aufs Fleisch

abgekaut. Als Kind war er ein Nägelkauer gewesen, aber an der Highschool hatte er sichs abgewöhnt.

Ich glaube, Van hatte es ihm ausgeredet, indem sie ihm erklärte, wie eklig es war, dass er ständig die

Finger im Mund hatte.

Ich hörte, wie meine Eltern und Darryls Dad einen Schritt zurücktraten und die Gardinen um uns

zuzogen. Ich legte meinen Kopf aufs Kissen neben seinen. Er hatte einen strähnigen, unregelmäßigen

Bart, der mich an Zeb erinnerte.

„Hey, D“, sagte ich. „Du hast es geschafft. Du kommst wieder auf die Beine.“ Er schnarchte ein

wenig. Fast hätte ich „Ich liebe dich“ gesagt, ein Satz, den ich erst zu einem einzigen Menschen

außerhalb der Familie gesagt hatte und der sich merkwürdig anhörte, wenn man ihn zu einem anderen

Typen sagte.

Schließlich drückte ich bloß noch einmal seine Hand. Armer Darryl.

Epilog

Dieses Kapitel ist Hudson Booksellers gewidmet, den Buchhändlern, die man in praktisch jedem Flughafen der USA findet.

Die meisten Hudson-Filialen haben nur wenige Titel (wobei diese oft erstaunlich vielfältig sind), aber die größeren, etwa die

im AA-Terminal in Chicagos O‘Hare, sind ebenso gut wie eine Buchhandlung in einem Wohngebiet. Man muss schon was

Besonderes bieten, um in einem Flughafen eine persönliche Note zu setzen, und Hudson‘s hat mir bei mehr als einem

langen Chicago-Zwischenstopp mein geistiges Wohlbefinden gerettet.

Hudson Booksellers http://www.hudsongroup.com/HudsonBooksellers-s.html arbara rief mich am Wochenende des 4. Juli im Büro an. Ich war nicht der Einzige, der am

Feiertagswochenende zur Arbeit gekommen war, aber ich war der Einzige, der es tat, weil meine

Freigangsregelung mir nicht erlaubte, die Stadt zu verlassen. B

Sie hatten mich schließlich für schuldig befunden, Mashas Handy gestohlen zu haben. Ist das zu

glauben? Die Staatsanwaltschaft hatte mit meiner Anwältin den Deal gemacht, dass man alle

Anklagepunkte zu „elektronischem Terrorismus“ und „Aufrührertum“ fallen lassen würde, wenn ich

mich im Gegenzug des minderschweren Diebstahls schuldig bekannte. Sie brummten mir drei Monate

mit Freigang in einem Rehabilitationszentrum für jugendliche Straftäter in der Mission auf. Ich schlief

im Wohnheim, in einem Gemeinschaftsschlafraum zusammen mit echten

Kriminellen, Gang-Kids und

Drogen-Kids, ein paar echten Bekloppten. Tagsüber war ich „frei“, rauszugehen und in meinem „Job“

zu arbeiten.

„Marcus, sie lassen sie raus“, sagte sie.

„Wen?“

„Johnstone, Carrie Johnstone. Das nichtöffentliche Militärtribunal hat sie von aller Schuld

freigesprochen. Die Akte ist geschlossen, und sie kehrt in den aktiven Dienst zurück. Sie schicken sie

in den Irak.“

Carrie Johnstone war der Name von Frau Strenger Haarschnitt. Das kam bei den vorläufigen

Anhörungen am Kalifornischen Kammergericht heraus, aber das war auch schon so ziemlich das

Einzige, was herauskam. Sie verweigerte jede Aussage darüber, von wem sie ihre Anweisungen

erhalten hatte, was sie getan hatte, wer inhaftiert worden war und warum. Sie saß vor Gericht Tag für

Tag einfach nur da, vollkommen schweigsam.

Die Bundesbehörden hatten sich mittlerweile aufgeplustert und über die

„einseitige, illegale“

Schließung der Treasure-Island-Anlage seitens des Gouverneurs sowie über die Ausweisung der

Bundespolizei aus San Francisco durch den Bürgermeister beschwert. Eine Menge dieser Bullen

waren in kalifornischen Gefängnissen gelandet, ebenso wie die Wachen aus Gitmo-an-der-Bay.

Dann kam einen Tag lang überhaupt keine Stellungnahme aus dem Weißen Haus und keine aus dem

Staatskapitol. Und am nächsten Tag fand eine trockene, angespannte gemeinsame Pressekonferenz auf

den Stufen des Gouverneurssitzes statt, bei der der Chef des DHS und der Gouverneur ihr

„Übereinkommen“ verkündeten.

Das DHS würde ein nichtöffentliches Militärtribunal einberufen, um „mögliche Irrtümer in der

Beurteilung“ nach dem Anschlag auf die Bay Bridge aufzuklären. Das Tribunal würde jedes

verfügbare Mittel einsetzen, um zu gewährleisten, dass kriminelle Handlungen angemessen bestraft

würden. Im Gegenzug würde die Kontrolle über DHS-Operationen in Kalifornien an den Staatssenat

übergehen, der die Macht haben würde, sämtliche Heimatschutzmaßnahmen im Bundesstaat zu

beenden, zu untersuchen und neu zu bewerten.

Der Aufschrei der Reporter war ohrenbetäubend gewesen, und Barbara hatte die erste Frage gestellt.

„Mr. Gouverneur, bei allem gebotenen Respekt: Wir haben unwiderlegbare Videobeweise, dass

Marcus Yallow, ein Bürger dieses Staates von Geburt an, einer simulierten Exekution ausgesetzt war,

und zwar durch DHS-Beamte, die offenkundig auf Anweisung des Weißen Hauses handelten. Ist der

Staat wirklich gewillt, jeden Anschein von Gerechtigkeit für seine Bürger im Angesicht illegaler,

barbarischer Folter aufzugeben?“ Ihre Stimme zitterte, aber sie brach nicht.

Der Gouverneur breitete die Arme aus. „Die Militärtribunale werden der Gerechtigkeit Genüge tun.

Wenn Mr. Yallow -- oder irgendeine andere Person, die der Heimatschutzbehörde etwas vorzuwerfen

hat -- darüber hinaus Gerechtigkeit verlangt, so steht es ihm selbstverständlich frei,

Wiedergutmachung einzuklagen, soweit sie ihm von seiten der Bundesregierung zusteht.“

Das tat ich auch. In der Woche nach der Ankündigung des Gouverneurs wurden mehr als

zwanzigtausend Zivilklagen gegen das DHS erhoben. Meine wurde durch die ACLU vertreten, und

man hatte bereits beantragt, Einsicht in die Ergebnisse der nichtöffentlichen Militärtribunale zu

erhalten. Bislang standen die Gerichte diesem Ansinnen sehr wohlwollend gegenüber.

Aber damit hatte ich nicht gerechnet.

„Sie ist völlig ungeschoren rausgekommen?“

„Die Pressemitteilung gibt nicht viel her. ‚Nach gründlicher Untersuchung der Ereignisse in San

Francisco und im Antiterror-Sonderlager auf Treasure Island ist dieses Tribunal

zu dem Ergebnis

gelangt, dass die Handlungen von Ms. Johnstone keine weiteren Disziplinarmaßnahmen

rechtfertigen.‘ Da steht das Wort ‚weiteren‘ -- als ob man sie bereits bestraft hat.“

Ich schnaubte. Von Carrie Johnstone hatte ich seit meiner Freilassung aus Gitmo-an-der-Bay fast jede

Nacht geträumt. Ich hatte ihr Gesicht drohend über mir schweben gesehen, dieses kleine dreckige

Grinsen, als sie den Mann anwies, mir „was zu trinken“ zu geben.

„Marcus ...“, begann Barbara, aber ich unterbrach sie.

„Ist okay. Es ist alles okay. Ich werde darüber ein Video machen. Und übers Wochenende stelle ich es

online. Montage sind gute Tage für virale Clips. Jeder kommt aus dem Feiertagswochenende zurück

und guckt, was es so Lustiges gibt zum Weiterleiten in der Schule oder im Büro.“

Ein Teil meines Deals mit dem Wohnheim war, dass ich zwei Mal pro Woche einen Psychoklempner

besuchte. Seit ich darüber weg war, das als Bestrafung zu empfinden, war das eine echt gute Sache. Er

half mir, mich auf konstruktive Dinge zu konzentrieren, wenn ich mich aufregte, statt mich von

meinem Ärger auffressen zu lassen. Die Videos halfen dabei.

„Ich muss jetzt los“, sagte ich und schluckte dabei, um die Emotionen aus meiner Stimme

rauszuhalten.

„Pass auf dich auf, Marcus“, sagte Barbara.

Als ich das Telefon weglegte, umarmte mich Ange von hinten. „Ich hab grade online davon gelesen“,

sagte sie. Sie las eine Million Nachrichtenfeeds -- mit einem Feedreader, der die Storys sofort saugte,

sobald sie über den Ticker liefen. Sie war unsere offizielle Bloggerin, und sie machte den Job gut -- sie

schnitt die Nachrichten aus und stellte sie online wie ein Koch im Schnellrestaurant, der

Frühstücksbestellungen umschlägt.

Ich drehte mich in ihren Armen um, um sie von vorn zu umarmen. Um bei der Wahrheit zu bleiben:

Allzu viel Arbeit hatten wir heute noch nicht erledigt. Es war mir nicht erlaubt, das Wohnheim nach

dem Abendessen noch mal zu verlassen, und sie durfte mich dort nicht besuchen.

Also sahen wir uns

im Büro, aber da waren meistens viele andere Leute, was unserer Fummelei ein bisschen abträglich

war. Einen ganzen Tag mit ihr allein im Büro zu sein war eine zu starke Versuchung. Außerdem war

es heiß und schwül, so dass wir beide Tanktops und Shorts trugen und beim Arbeiten nebeneinander

eine Menge Hautkontakt hatten.

„Ich mache ein Video“, sagte ich. „Ich will es heute noch veröffentlichen.“

„Gut“, sagte sie. „Packen wirs an.“

Ange las die Pressemitteilung. Ich nahm einen kleinen Monolog auf und legte den Ton über die

berühmten Bilder von mir auf dem Waterboard -- wilder Augenausdruck im harten Scheinwerferlicht,

strähniges Haar, tränen- und rotzüberströmt.

„Das bin ich. Ich liege auf einem Waterboard. Ich werde mit einer simulierten Hinrichtung gefoltert.

Die Folter wird von einer Frau namens Carrie Johnstone beaufsichtigt. Sie arbeitet für die Regierung.

Ihr könntet sie noch von diesem Video kennen.“

Ich blendete über zu dem Film mit Johnstone und Kurt Rooney. „Hier sind Johnstone und Minister

Kurt Rooney, der Chefstratege des Präsidenten.“

“Die Nation liebt diese Stadt nicht. Aus ihrer Sicht ist es ein Sodom und Gomorra aus Schwuchteln

und Atheisten, die es verdient haben, in der Hölle zu schmoren. Der einzige Grund dafür, dass sich

das Land dafür interessiert, was man in San Francisco denkt, ist der glückliche Umstand, dass sie da

von irgendwelchen islamischen Terroristen zur Hölle gebombt worden sind.“

„Er redet über die Stadt, in der ich lebe. Nach letzten Zählungen wurden 4215

meiner Nachbarn an

dem Tag getötet, von dem er redet. Aber einige von ihnen sind vielleicht nicht tot. Einige von ihnen

sind in demselben Gefängnis verschwunden, in dem ich gefoltert wurde. Einige Mütter und Väter,

Kinder und Geliebte, Brüder und Schwestern werden ihre Liebsten nie wiedersehen -- weil sie

insgeheim in einem illegalen Gefängnis mitten in der San Francisco Bay gefangen gehalten wurden.

Es wurde dort sehr penibel Buch geführt, aber Carrie Johnstone hat die Chiffrierschlüssel dafür.“ Ich

schnitt wieder zu Carrie Johnstone, wie sie mit Rooney am Besprechungstisch saß und lachte.

Dann blendete ich die Bilder von Johnstones Verhaftung ein. „Als man sie verhaftete, glaubte ich, wir

würden Gerechtigkeit erfahren. All die Menschen, die sie brach und die verschwunden sind. Aber der

Präsident ...“ -- Schnitt zu einem Foto, das ihn während eines seiner vielen Urlaube lachend beim

Golfspielen zeigte -- „... und sein Chefstratege ...“ -- jetzt ein Bild von Rooney beim Händeschütteln

mit einem berüchtigten Terroristenführer, der mal auf „unserer“ Seite war -- „...

haben interveniert. Sie

schickten sie vor ein geheimes Militärtribunal, das sie nun freigesprochen hat.

Irgendwie sah man dort

wohl nichts Falsches an all dem.“

Ich schnitt eine Fotomontage aus den Hunderten von Porträts von Gefangenen in ihren Zellen dazu,

die Barbara am Tag unserer Freilassung auf der Website des Bay Guardian veröffentlicht hatte. „Wir

haben diese Menschen gewählt. Wir bezahlen ihre Gehälter. Sie sollten auf unserer Seite sein. Sie

sollten unsere Freiheiten verteidigen. Aber diese Menschen ...“ -- eine Reihe von Bildern von

Johnstone und den Anderen, die vor das Tribunal gesandt worden waren --

„haben unser Vertrauen

verraten. Bis zur Wahl sind es noch vier Monate. Das ist eine lange Zeit. Genug für euch, loszugehen

und fünf von euren Nachbarn zu finden -- fünf Leute, die das Wählen aufgegeben haben, weil ihre

Wahl lautet ‚keiner der Obengenannten‘.

Redet mit euren Nachbarn. Lasst euch versprechen, dass sie zur Wahl gehen, lasst sie versprechen,

dass sie sich das Land von den Folterknechten und Verbrechern zurückholen.

Von den Leuten, die

über meine Freunde lachten, als diese in ihrem nassen Grab am Grunde des Hafens lagen. Und lasst

euch versprechen, dass sie ebenfalls mit ihren Nachbarn sprechen.

Die meisten von uns wählen ‚keiner der Obengenannten‘. Aber das funktioniert nicht. Ihr müsst

wählen -- die Freiheit wählen.

Mein Name ist Marcus Yallow. Ich bin von meinem Land gefoltert worden, aber ich bin immer noch

sehr gern hier. Ich bin siebzehn Jahre alt. Ich möchte in einem freien Land aufwachsen. Ich möchte in

einem freien Land leben.“

Ich blendete zum Logo unserer Website aus. Die hatte Ange mit Jolus Hilfe aufgebaut, der uns bei

Pigspleen so viel freien Speicherplatz besorgte, wie wir nur wollten.

Das Büro war ein interessanter Ort. Offiziell hießen wir Wählerkoalition für ein freies Amerika, aber

alle Welt nannte uns die Xnetter. Die Organisation, ein gemeinnütziges Non-Profit-Unternehmen, war

von Barbara und einigen befreundeten Anwälten gleich nach der Befreiung von Treasure Island

gegründet worden. Die Anschubfinanzierung hatten ein paar Technologie-Milliardäre übernommen,

die es unglaublich fanden, dass eine Horde Hacker-Kids das DHS in den Arsch getreten hatten.

Manchmal baten sie uns, die Peninsula runter nach Sand Hill Road zu kommen, wo all die

Risikokapitalgeber saßen, um eine kleine Präsentation der Xnet-Technik zu halten. Es gab ungefähr

eine Zillion Start-Ups, die aus dem Xnet Kapital schlagen wollten.

Wie auch immer -- ich musste mich um all das nicht kümmern, und ich hatte einen Schreibtisch und

ein Büro mit einer Ladenfront mitten auf Valencia Street, wo wir ParanoidXBox-CDs unter die Leute

brachten und Workshops zum Bau besserer WLAN-Antennen veranstalteten.

Eine erstaunliche Zahl

gewöhnlicher Leute schaute bei uns vorbei, um Spenden zu bringen, sowohl Hardware

(ParanoidLinux läuft auf so ziemlich allem, nicht bloß auf der Xbox Universal) als auch Bargeld.

Unser Masterplan war, im September, rechtzeitig vor der Wahl, unser eigenes ARG zu starten und das

Spiel möglichst eng daran zu binden, dass sich Leute in die Wählerverzeichnisse eintragen ließen und

zur Wahl gingen. Nur 42 Prozent der Amerikaner waren bei der vorigen Wahl an den Urnen

erschienen -- Nichtwähler waren in der großen Mehrheit. Ich hatte Darryl und Van schon mehrfach zu

unseren Planungssitzungen eingeladen, aber sie hatten immer wieder abgesagt.

Sie verbrachten eine

Menge Zeit miteinander, und Van bestand darauf, dass es nichts Romantisches war. Darryl wollte

überhaupt nicht viel mit mir reden, aber er schickte mir lange E-Mails über so ziemlich alles, das

nichts mit Van, Terrorismus oder dem Knast zu tun hatte.

Ange drückte meine Hand. „Gott, wie ich diese Frau hasse“, sagte sie.

Ich nickte. „Bloß eine weitere Fuhre Mist, die dieses Land über dem Irak auskippt“, sagte ich. „Ich

glaube, wenn sie die in meine Stadt schicken würden, ich würde ein Terrorist werden.“

„Du bist ein Terrorist geworden, als sie sie in deine Stadt geschickt haben.“

„Das stimmt“, sagte ich.

„Gehst du am Montag zur Anhörung von Ms. Galvez?“

„Unbedingt.“

Ich hatte Ange vor einigen Wochen Ms. Galvez vorgestellt, als meine ehemalige Lehrerin mich zum

Abendessen eingeladen hatte. Die Lehrergewerkschaft hatte eine Anhörung vor der Schulbehörde

organisiert, um zu erreichen, dass sie ihren alten Job zurückbekäme. Man sagte, dass Fred Benson aus

dem Vorruhestand wiederkommen wolle, um gegen sie auszusagen. Ich freute mich drauf, sie

wiederzusehen.

„Wollen wir uns einen Burrito holen?“

„Unbedingt.“

„Ich hol nur schnell meine scharfe Sauce“, sagte sie.

Derweil rief ich noch mal meine E-Mail ab -- meine Piratenpartei-Mail, wo immer noch ein paar

Nachrichten von alten Xnettern aufliefen, die meine Adresse bei der Wählerkoalition noch nicht

hatten.

Die letzte Nachricht kam von einer Wegwerf-Mailadresse von einem der neuen brasilianischen

Anonymisierungsdienste.

Hab sie gefunden, danke. Du hast mir gar nicht erzählt, dass sie so h31ß ist.

„Von wem ist das denn?“

Ich lachte. „Zeb. Erinnerst du dich an Zeb? Ich hab ihm Mashas E-Mail-Adresse gegeben. Dachte mir,

wenn sie schon beide im Untergrund sind, dann könnte ich sie auch gleich miteinander bekannt

machen.“

„Er findet Masha süß?“

„Das musst du ihm nachsehen, sein Geist ist offensichtlich von den Umständen benebelt.“

„Und du?“

„Ich?“

„Ja, du -- ist dein Geist auch von den Umständen benebelt?“

Ich hielt Ange auf Armabstand und betrachtete sie von oben bis unten, von oben bis unten. Ich

berührte ihre Wangen und schaute durch ihre dickrandige Brille in ihre großen, kecken schrägen

Augen. Ich ließ meine Finger durch ihr Haar gleiten.

„Ange, in meinem ganzen Leben habe ich noch niemals klarer gedacht.“

Dann küsste sie mich, und ich küsste sie, und es dauerte noch eine ganze Weile, bis wir uns den

Burrito holten.

Nachwort des Übersetzers

Im 13. Kapitel von „Little Brother“ heißt es in einer E-Mail an den Helden:

„Hier in Deutschland

haben wir eine Menge Erfahrung damit, was passiert, wenn Regierungen außer Kontrolle geraten.“

Nun ist Deutschland im Jahre 2008 sicherlich kein totalitärer Staat, doch die aktuelle

Sicherheitsgesetzgebung (Stichworte hier etwa: Vorratsdatenspeicherung, EPass, BKA-Gesetz,

Fluggastdatenerfassung) lässt die Einschätzung von Bürgerrechtsaktivisten, hier

werde der

schleichende Umbau zu einem Überwachungsstaat vorangetrieben, zumindest nicht völlig abwegig

erscheinen.

Vor diesem Hintergrund wollte ich nicht darauf warten, ob und wann Cory Doctorows Little Brother

-- der sich eben nicht nur als spannender Entwicklungsroman über und für junge Erwachsene lesen

lässt, sondern auch als Plädoyer für angemessenen zivilen Ungehorsam und gegen undifferenzierte

Terror-Hysterie -- in einer deutschen Übersetzung erscheint. Und da Cory seine Werke unter remixfähigen

Creative-Commons-Lizenzen veröffentlicht, habe ich im Sommer/Herbst 2008

die tägliche UBahn-

Pendelei dazu genutzt, die Geschichte ins Deutsche zu "remixen". Das vorliegende Ergebnis,

inhaltlich übrigens kein "Mix", sondern eine vorlagengetreue Übersetzung, steht ebenfalls unter einer

entsprechenden CC-Lizenz -- siehe dazu Seite 2.

Das vorliegende Dokument versteht sich durchaus nicht als Endprodukt, sondern sozusagen als finale

Betaversion. Der Übersetzer ist weder leidenschaftlicher Computer-Spieler noch versierter

Programmierer, und sollte Ihnen bei der Lektüre diesbezüglich ein sachlicher Fehler aufgefallen sein,

werden entsprechende Hinweise gern entgegengenommen und gegebenenfalls in

kommende

Versionen dieses Textes eingearbeitet.

Download-Adresse dieses PDFs: http://cwoehrl.de/

Meine E-Mail-Adresse: chw@wort-und-satz.de

Mein öffentlicher PGP-Schlüssel: 0x3e4f310497fe2c8f Dem Geist des Romans angemessen nutzte ich für die Arbeit überwiegend freie Software: Die

Rohtexte entstanden zumeist im Minimal-Editor meines Linux-Netbooks; zusammengeführt,

formatiert und ins PDF-Format konvertiert wurde der Text in OpenOffice.

Lediglich für die

Gestaltung des Titels nutzte ich mit Adobe Photoshop eine kommerzielle Software; Gimp zu lernen

steht zwar schon seit geraumer Zeit auf meinem Zettel, aber ich hatte in letzter Zeit zu viel zu

übersetzen, um mich auch noch damit zu beschäftigen ;-) Als Nachschlagewerke nutzte ich für inhaltliche Fragen die Wikipedia in deutscher und englischer

Version, für allgemeine sprachliche Zweifelsfälle das Wörterbuch dict.cc und für Slang-Fragen das

Urban Dictionary; wo es sich nicht vermeiden ließ, Google zu konsultieren, bediente ich mich des

weitaus weniger datenhungrigen Scroogle Scrapers.

Sollte die Thematik des Romans bei Ihnen einen Nerv getroffen haben, dann finden Sie im Internet

etliche Angebote, die sich mit Datenschutz, Bürgerrechten und Überwachung beschäftigen.

Exemplarisch einige Links zu deutschsprachigen Seiten von Organisationen und Einzelpersonen:

Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung

Netzpolitik.org

Ravenhorst

Chaos Computer Club

Humanistische Union

Annalist

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